Ayse und Cem
»Es hat geklappt!« Lara erkannte den weißen Raum sofort. Der seltsam geformte Gummiboden. Die eingelassenen Fenster mit ihren knubbeligen Türknäufen. Die Schwerelosigkeit. Sie waren beim Auge! Nicht bei ihrem Auge natürlich. Das hing ja als Sonne und Mond über der Welt ihrer Eltern rum. Sie waren bei dem neuen Auge, das bei der Geburt der Welt ihrer Eltern entstanden war.
»Ja. Wir sind tot.«
Sie sah zu Timo, der neben ihr schwebte. Die kleine, fast leere Flasche in der Hand. Er wirkte traurig und erleichtert zugleich. Für einen Moment lang ließ Lara die Erkenntnis sacken. Diesmal waren sie nicht mit ihren Körpern hergekommen.
Der Fall war ihr endlos lang vorgekommen. Irgendwann hatte sie Timo nicht mehr festhalten können. Sie hatte sich so allein gefühlt wie noch nie. Das Geräusch, mit dem ihr Körper auf dem Felsen zerschellt war, würde sie nie vergessen. Für einen Moment lang hatte sie nur Schmerz empfunden. Dann war es vorbei gewesen. Und nun lagen ihre Körper zerschmettert am Fuß des Berges. Es gab kein Zurück mehr.
»Ich hasse dich dafür, dass du mitgekommen bist«, stellte er fest. »Und gleichzeitig liebe ich dich dafür.«
Er nahm sie bei der Hand und gab ihr einen Kuss.
Wie bei ihrem letzten Besuch verspürte Lara die unbändige Liebe zu Timo. Im Raum der Bestimmung. Mehr noch als zuvor. Dennoch löste sie sich aus dem Kuss. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihnen blieb .
»Wir müssen das Auge finden. Bevor uns unsere Fenster verschlucken«, erinnerte sie ihn schweren Herzens.
Er nickte. Wenn die Fenster sie verschluckt hatten, würden sie sich so lange nicht sehen, bis ihre Sieben verstorben waren. Genau wie Ayse und Cem. Diese Aussicht brachte Lara mehr durcheinander als die Erkenntnis, tot zu sein. Vor allem, da sie sich absolut lebendig fühlte.
Sie sahen sich um. Der Raum war viel größer, als Lara ihn in Erinnerung hatte. Alles wirkte weitläufig und gedehnt. Als wäre er in die Länge gezogen worden. Ein Stück weiter hinten, entlang an etlichen Fenstern, erkannte Lara etwas. Es leuchtete wie die Kugeln auf der Welt der Träumer. Schimmerte wie die hellste Kugel am Weihnachtsbaum. Langsam flog sie darauf zu.
»Was ist das?«, fragte Timo hinter ihr.
»Ich weiß es nicht. Das Auge vielleicht?«
»Sei vorsichtig.«
Sie näherte sich dem schimmernden Etwas, und je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie Konturen ausmachen. Die Kugel war nicht eine Kugel, sondern zwei. Und diese Kugeln formten sich beim Näherkommen immer deutlicher zu zwei Menschen, die eng umschlungen im Raum schwebten, die Köpfe nah beieinander, sich küssend. Sie leuchteten und strahlten vor Energie.
Lara erstarrte in der Luft. »Ayse?«, fragte sie ungläubig.
Timo blieb neben ihr hängen und starrte das sich küssende Paar ebenfalls ungläubig an. »Cem?«
Die beiden reagierten nicht. Aber sie waren es! Ayse und Cem! Knutschend und hell leuchtend.
Lara trudelte auf sie zu und riss Ayse aus Cems Umarmung. »Ayse!«
Dunkle Augen öffneten sich träge und musterten Lara wie in Trance. »Mhm?«
»Du lebst! Oh Gott, du lebst! Sonst hättest du schon längst ein eigenes Land erschaffen!« Sie zog ihre beste Freundin an sich, hielt sie fest im Arm, spürte ihre langen Haare, die sich unter dem Kopftuch hervorgeschlichen hatten, und ihre goldbraune Haut, tastete ihre Arme ab. »Du bist es. Du bist es wirklich!«
»Lara?« Erst jetzt schien Ayse sie wahrzunehmen. Höchst verwundert musterte sie Lara. »Was machst du hier?«
Lara drehte sich nun zu Cem, der mit einem ähnlich entrückten Gesichtsausdruck neben Timo schwebte. Dieser betrachtete seinen ehemals besten Freund fassungslos. Er war genauso überrascht, ihn hier vorzufinden.
»Was ist denn mit euch?«, fragte Lara.
Cem schien aus der Starre aufzuwachen. »Alter, wir haben dich gesucht.«
Lara ließ Ayses Hand nicht mehr los und sah aufgeregt vom einen zum anderen. »Ihr habt das Programm geknackt. Und dann? Was ist dann passiert? Wart ihr auch in den Ländern? Wie seid ihr hierher zurückgekommen?«
Keine Antwort. Stattdessen breitete sich ein dickes Grinsen auf ihren Gesichtern aus.
Ayse ließ Laras Hand los und wollte wieder auf Cem zutrudeln. »Ich will zu ihm.«
Lara hielt sie fest. »Hallo! Ich rede mit euch!«
Cem versuchte, sich zusammenzureißen. »Okay, also, ich konnte den Eyecode dank Marcs Programm knacken. Dann kam grünes Licht aus meinem Bildschirm, und seitdem …«
»… sind wir hier«, schloss Ayse den Bericht ab und schwebte auf Cem zu, um ihn erneut zu küssen.
Lara starrte ihre Freundin fassungslos an.
Auf Timos Gesicht machte sich ein dickes Grinsen breit. »Natürlich! Sie hatten keine Gegenstände von irgendeinem Toten dabei. Also wurden sie auch in kein Land gezogen. Und offensichtlich können sie hier im Raum der Bestimmung nicht sterben.«
»Offensichtlich? Was daran ist denn bitteschön offensichtlich?«, rief Lara empört.
»Na, sie sind immer noch hier. Wir haben uns umsonst Sorgen gemacht. Es geht ihnen gut. Sie haben die ganze Zeit rumgeknuscht.«
Sie konnte es nicht fassen. Wütend zog sie Ayse von Cem weg, die erneut wie aus Trance erwachte. »Ich habe gedacht, du bist tot!«
Ayse sah sie verwirrt an. »Warum denn?«
»Weil wir hier im Totenreich sind!«
»Das hier?« Ayse sah sich um. »Quatsch.«
»Hier nicht. Das hier ist der Raum der Bestimmung. Aber hinter diesen Fenstern … da … überall: Totenländer! Wenn man zu lange drin ist, stirbt man. Ihr seid schon ewig hier. Also müsstet ihr tot sein.«
Ayse sah sie an, als wäre Lara verrückt geworden. »Ich bin nicht tot. Das wüsste ich ja wohl. Wie siehst du überhaupt aus?« Sie musterte Lara, die sich augenblicklich durch die Haare strich. Ayses Blick wanderte zu Timo. »Bist du der Hinterwäldler?«
»Ähm, ich …« Etwas hilflos schaute er zu Lara.
Die wiederum sah zu Ayse. »Seit Wochen mache ich mir Sorgen. Ich habe gedacht, ich sehe dich nie wieder. Und dass das meine Schuld ist. Stattdessen schwebst du hier rum und knutschst?« Langsam setzte die Erleichterung ein. Lara musste lachen.
Entschuldigend zuckte Ayse mit den Schultern. »Du warst nicht hier, also …«
Timo brach ebenfalls in Gelächter aus. »Ihr zwei seid echt der Hammer.« Er zog Cem zu sich und umarmte ihn.
Lara erkannte, dass weder Cem noch Ayse zu irgendeinem klaren Gedanken in der Lage waren. Sie waren die ganze Zeit hier gewesen. Verliebt. Knutschend. Es ging ihnen gut. Sie waren nicht tot. Im Gegensatz zu Lara und Timo.
Sie mussten sich beeilen. Auch wenn sie Ayse jetzt noch Stunden hätte festhalten können. »Habt ihr das Auge gesehen?«
»Welches Auge?«, hakte Cem nach.
»So ein schwebendes Ding. Das sprechen kann.«
»Du redest echt wirr«, fand Ayse.
Lara sah sich um. Der Raum war hinter ihnen noch weiter in die Länge gezogen. Er machte sogar eine Kurve. Sie setzte sich in Bewegung. Timo folgte ihr. Langsam schwebte sie den Raum entlang und bog um die Ecke. Sie hatte das Ende des Raums erreicht, und da, ganz klein und dicht in die Ecke gedrängt, schwebte ein kleines, graues Auge. Es hatte sich fest zusammengekniffen. Sein glasmurmelähnlicher Körper zitterte.
»Da ist es«, flüsterte Timo ehrfürchtig.
»Es hat Angst.«
Sie näherte sich dem Auge langsam. »Hey …«
Das Auge zuckte zusammen und versuchte, vor ihr zurückzuweichen, wobei es den Raum weiter in die Länge zog.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, versicherte Lara. »Ich weiß, warum du dich so fürchtest. Du weißt nicht mehr, was deine Aufgabe ist.«
Das Auge blinzelte und lugte unter seinem Lid hervor.
»Es ist nicht deine Schuld. Wir sind das Problem. Vier Menschen sind jetzt bei dir. Zwei davon in ihren Körpern. Was bedeutet, dass sie deinen Raum der Bestimmung auf das unterste Level gezogen haben. Das Level ohne Erinnerung. Sobald sie hier weg sind, wirst du dich wieder erinnern. An deine Aufgabe.« Auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie sie Cem und Ayse wieder zurück ins Leben katapultieren sollten.
Das Auge öffnete sich nun ganz. Grau und farblos starrte es sie an. Es würde erst wieder seine Erinnerung erlangen müssen, ehe es golden schimmerte. 
Lara vernahm ein Räuspern in ihrem Inneren.
Dann sprach das Auge seine ersten Worte. »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Aber ich konnte mich nicht erinnern, was es ist.«
»Das hier.« Timo schwebte langsam an das Auge heran und ließ die Flasche los. Diese flog sofort auf das Auge zu. Angezogen wie ein Magnet.
»Der Schimmer! Die Flasche gehört mir!«, rief das Auge entzückt und wagte sich etwas aus seiner Ecke hervor.
»Ist das süß!«, rief plötzlich Ayse hinter ihnen und versuchte, an Lara vorbei zum Auge zu kommen.
Das Auge wich zurück.
»Wie putzig bist du denn?«
Lara hielt ihre liebestolle Freundin fest. »Du machst ihm Angst.«
Ayse musterte Lara ernst. Jetzt, da sie Cem losgelassen hatte, schien sie endlich wieder klar denken zu können. »Lara, wo sind wir? Warum ist hier ein schwebendes Auge?«
»Wir erklären dir alles später. Jetzt haben wir ein echtes Problem«, stellte Timo fest. »Laras Vater hat uns damals mit Gegenständen und einem Tropfen des Schimmers auf die Erde zurückgebracht. Jetzt ist nicht mehr genug Schimmer übrig, um von hier wegzukommen.«
»Zurück auf die Erde?«, echote Ayse verwirrt.
Cem kam neben sie und musterte alle höchst verwundert.
Timo sah das Auge bedauernd an. »Es tut mir so leid. Ich habe den Schimmer mitgenommen. Ich wollte Lara retten, und jetzt haben wir fast alles auf unserer Reise verbraucht. Ich weiß nicht, wie du jetzt noch zu deinen Seelen reisen sollst, um sie zu erlösen.«
Das kleine Auge lugte zu der Flasche.
»Lara! Kannst du mir jetzt mal sagen, was eigentlich los ist?«
Sie sah Ayse traurig an. »Wir stecken fest.«