Marc und Gustav
Marc ging die Stufen zum Hotel hoch. Er kam nur langsam vorwärts, was zum einen an seinen nassen Klamotten lag, zum anderen an den tausend Gedanken, die ihn auf seinem Weg begleiteten.
»Ich hole nur meinen Koffer. Dann bist du mich los.«
Isabel ging eilig voran. Susi lief ihr freudig wedelnd hinterher. Sie waren den Weg vom Mummelsee bis zum Hotel an der Schwarzwaldhochstraße entlanggelaufen. Schweigend. Er hatte so viele Fragen an sie. Da jedoch all diese Fragen mit Lara und nicht mit Isabel zu tun hatten, kam es ihm falsch vor, sie zu stellen. Solche Skrupel hatte er vor dieser Reise nicht gehabt. Überhaupt fragte sich Marc, wie er jetzt weitermachen sollte. Er war – wie Lara und Timo vor ein paar Wochen – aus dem Mummelsee aufgetaucht. Doch im Gegensatz zu ihnen hatte er nicht alles vergessen. Die Erinnerungen waren da. An jede einzelne Welt, die sie besucht hatten.
Er setzte sich auf die Stufen. Fühlte sich unfähig, seinem Großvater gegenüberzutreten. Er würde warten, bis Isabel ihre Sachen gepackt hatte.
Sie hatte sich verändert. Liebte ihn nicht mehr. Was ihn seltsamerweise für sie freute. Er wusste, dass er ihr kein guter Freund gewesen war. Wenn sie sich nun von ihm abwandte, konnte er ihr zu diesem Schritt nur gratulieren. Lara hatte ihn gefragt, warum er mit Isabel zusammengeblieben war. Jetzt wusste er, warum. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er sich jemals verlieben würde. Er hatte dieses Gefühl gar nicht gekannt. War fasziniert gewesen von Isabels Schönheit. Hatte es
genossen, von jemandem so bedingungslos geliebt zu werden. Mehr war es von seiner Seite aus nie gewesen. Jetzt war alles anders, denn er wusste, dass es mehr gab. Er würde nie wieder zurück können in seine schützende Gleichgültigkeit. Er war verletzlich. So wie Isabel es immer gewesen war.
Für einen Moment verfluchte er sein Gedächtnis. Warum konnte er nicht vergessen? Offensichtlich hatte Lara sich dafür entschieden, mit Timo in den Tod zu springen. Das war verrückt, und wäre er dort gewesen, hätte er sie aufgehalten. Aber es war auch ein Liebesbeweis. Sie liebte den Kerl. Sie würden nie wieder zurückkommen. Was also sollten diese lächerlichen Gefühle?
»Er sitzt draußen«, hörte er Isabel.
Jemand trat aus der Tür. Marc drehte sich um.
Karin lief auf ihn zu und umarmte ihn. »Gott sei Dank!«, rief sie immer wieder und hielt ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam.
»Was machst du hier?«, fragte er verwundert.
Sie hatten ihn an der Hand ins Bad gezogen. Wie ein kleines Kind. Hatten ihn ausgezogen und ihm neue Klamotten gebracht. Er hatte es geschehen lassen. Dabei hatte Jo ihn mit tausend Fragen gelöchert. Nach Lara und Timo, Ayse und Cem, und wo zur Hölle sie gewesen waren.
Er schwieg. Unschlüssig, was und wie viel er von dieser Reise erzählen sollte.
»Wenn du mir schon nicht sagen willst, wo ihr gewesen seid, dann sag mir wenigstens, wo Lara steckt. Kommt sie auch zurück?«
Er sah Jo an. Wie sollte er ihm sagen, dass sie sie verloren
hatten?
»Sie kommt nicht zurück.« Isabel trat mit dem Koffer und der Fotoausrüstung ins Bad und musterte Karin und Jo traurig. »Timo und sie sind die mutigsten Leute, die ich kenne. Sie mussten dort bleiben, damit die Menschen hier wieder sterben können.«
Karin musterte Isabel ruhig. Zu ruhig, wie Marc fand. »Was hat euer Verschwinden mit dem Sterben der Menschen zu tun?«
»Das soll Marc dir erklären. Ich muss jetzt los.«
»Wohin gehst du denn?«, fragte er.
»Konfrontationstherapie«, erwiderte sie nur lächelnd. Sämtliche Angst war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Augen leuchteten.
Was war nur mit ihr passiert?
»Karin, danke für alles.« Sie drückte Karin einen Kuss auf die Wange und ging dann, ohne Marc noch einmal anzusehen.
Karin wandte sich ihm zu. »Okay. Alles der Reihe nach. Wo ist Lara, und warum kann sie nicht zurück?«
Er dachte an Goldi, Venus und habitable Zone zugleich. Wie sie das erste Mal in der Hotelhalle voreinander gestanden hatten. Wie fasziniert sie von Laniakea gewesen war. Wie bedingungslos sie die Menschen retten wollte, die sie liebte. »Ich erzähle euch alles. Aber erst muss ich mit Gustav reden. Wo steckt der alte Kerl eigentlich?« Schon lief er aus dem Bad.
»Marc, da gibt es etwas, das wir dir sagen müssen.«
Sie standen um sein Bett herum. Mathilda, Sofia, Susi und Mila. Gustav lag im Bett und schielte zu Marc, der im Türrahmen stehen
geblieben war.
»Na endlich. Ich dachte schon, du verpasst meinen Tod.«
Marc betrachtete den ausgelaugten Körper seines Großvaters. Seine Haut hatte einen grauen Farbton angenommen. Er lag regungslos da. Seine Stimme klang hölzern.
»Was ist mit ihm?«
Karin trat hinter ihn und legte den Arm um seine Schulter. »Du weißt, was mit ihm ist.« Sie ging an ihm vorbei und setzte sich zu Gustav ans Bett.
Ja. Marc wusste es. Sein Großvater war ein Wandelnder geworden.
»Angelogen hat er uns«, wandte sich nun Mathilda empört an ihn. »Die OP hat gar nichts gebracht. Sie haben nicht den ganzen Tumor erwischt. Er wusste, dass er bald sterben würde. Er hat uns nichts gesagt!«
Marcs Hände ballten sich zu Fäusten.
»Lasst ihr Tratschweiber mich mal mit meinem Enkel alleine?«, bat Gustav nun leise. »Geht und nervt Lichtlein mit dieser Maike. Die liegen nebenan.«
Grummelnd stand Mathilda auf und ging mit Sofia an Marc vorüber in den Flur. Auch Karin und Mila verließen das Zimmer. Marc sah dem Mädchen nach, das seine Hand in der Hosentasche versteckt hatte. Ihre Haare standen wirr nach allen Seiten hin ab, sie trug zwei verschiedenfarbige Socken.
Das sollte die Weltenhüterin sein? Kein Wunder, dass hier so ein Chaos herrschte.
»Nun setz dich mal zu mir«, verlangte sein Großvater.
Zögernd ging Marc auf das Bett zu. Ihn so zu sehen, halb tot, verwesend, war kaum zu ertragen
.
»Danke«, sagte er leise.
»Danke wofür? Dass ich nicht mal richtig sterben kann?«
»Dass du nichts gesagt hast.«
»Du bist der Erste, der das gut findet.«
»Es hätte mich fertiggemacht.«
»Deshalb habe ich ja nichts gesagt. Es hat mir schon gereicht, dass Susi die ganze Zeit wie eine Klette an mir hing.«
Die Hündin wedelte bei der Nennung ihres Namens mit dem Schwanz. Marc setzte sich auf die Bettkante. Er konnte Gustav nicht in die Augen sehen.
»Und jetzt will ich alles wissen. Wo habt ihr gesteckt? Warum verabschiedet sich Isabel von mir, als würde sie nach Israel auswandern? Keine Ausflüchte.«
Marc erzählte ihm alles. Von dem Programm, ihrer Reise und von Lara. Gustav hörte schweigend zu. Marc konnte nicht einschätzen, ob er ihm glaubte oder in Gedanken bereits einen Platz in der Psychiatrie buchte. Als er mit der Rückkehr in den Mummelsee geendet hatte, schwiegen sie eine Weile.
»Dann kann ich ja in Ruhe sterben«, sagte Gustav irgendwann.
Marc sah seinen Großvater überrascht an. Er hätte mit jeder Reaktion gerechnet. Aber nicht damit.
»Also, zumindest wenn Lara und Timo das geregelt kriegen. Mit dem Tod und so.«
»Du glaubst mir?«
»Dir nicht. Aber Susi hat dieselbe Geschichte erzählt.«
Marc sah die Hündin an, die ihn unschuldig musterte. Er ließ die Behauptung unkommentiert. Jemand,
der gerade von anderen Welten und Herumbeamen erzählt hatte, sollte sich vielleicht nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, ob Gustav Susi verstehen konnte oder nicht.
»Sie haben es aber noch nicht geschafft.«
»Mhm?«, erwiderte Marc zerstreut.
»Na, das Mädel und Timo. Wenn sie es geschafft hätten, dann könnte ich ja endlich hier weg.«
»Und wenn ich gar nicht will, dass du gehst?«
»Junge, ich bin lange genug hier gewesen. Wenn ich so höre, was du von anderen Welten erzählst, dann ist es höchste Zeit für mich. Stell dir doch nur mal vor: Ich darf Laniakea sehen. Dafür lohnt es sich, zu sterben.«
Marc lächelte und blinzelte Tränen weg.
»Und du? Willst du jetzt nur hier rumsitzen und jammern?«
»Darf ich nicht mal heulen, wenn mein alter Herr stirbt?«
»Du darfst heulen. Aber nicht um mich. Ich bin keine Träne wert. Deine kleine Lara aber schon. Du hast dich verliebt.«
Er verneinte nicht.
»Weißt du, wie lange ich darauf gewartet habe? Du warst ein emotionaler Krüppel. Mit einem emotionalen Krüppel zum Großvater. Ich war mir sicher, dass du ein hoffnungsloser Fall bist. Aber wenn die Kleine es wirklich geschafft hat, dich zu knacken, dann kämpfe um sie! Häng hier nicht rum und bemitleide dich selbst. Liebe wird einem nicht einfach zugeworfen. Sie verlangt einen harten Kampf. Sie verlangt, dass du über dich hinauswä
chst.«
»Woher willst du das denn wissen?«, konterte Marc abwehrend. »Du hast nach Adeles Tod keine mehr an dich rangelassen. Obwohl ich genau weiß, dass du Sofia magst.«
»Ich habe jemanden an mich herangelassen, du Idiot. Dich! Und du hast mir ja nun wirklich alles abverlangt.«
Marc wandte das Gesicht ab, damit Gustav seine Tränen nicht sehen konnten.
»Also, Junge. Was kannst du tun, um der Kleinen zu helfen?«
Marc lächelte. Er gab den sterbenden Überresten seines Großvaters einen Kuss und eilte in den Flur, wo Sofia ihm mit einer Kanne Tee und den Spielkarten entgegenkam. »Wo ist Mila?«
Sofia deutete auf das Zimmer nebenan. Marc eilte hinein. Das Mädchen saß am Bett, in dem Friedhelm und Maike lagen. Der Fernseher lief.
Marc blieb abrupt stehen. Maike sah noch schlimmer aus als an dem Tag, an dem er sie im Wald gefunden hatte. Aber ihr Anblick jagte ihm keine Angst mehr ein. »Sorry, dass ich weggerannt bin«, murmelte er.
Ihr Gesicht, oder was davon übrig war, verzog sich zu einer Grimasse. »Schon okay. Ich wäre auch weggerannt.«
Sein Blick wanderte zu Mila, die ihn aufmerksam musterte. Er schnappte sich ihre Hand und zog sie mit sich. »Mitkommen!«
Ehe Karin und Jo intervenieren konnten, hatte Marc Mila samt Auto entführt.
»Was soll das?«, rief das Mädchen
empört.
»Du musst mich zu ihr bringen!«, sagte er, während er das Auto Richtung Mummelsee lenkte.
»Zu wem?«
»Spar dir die Show! Du kannst sie sehen. Durch dein Auge in der Hand. Du sagst mir, wo Lara ist. Und wie ich zu ihr kann.«
»Keine Ahnung, wovon du redest.« Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster.
»Du bist unsere neue Weltenhüterin. Du kannst das.«
Mila lugte zu ihm auf. »Du hast deine Erinnerung also noch?«
»Allerdings. Und da ich sie nicht loswerde, kann ich nicht mehr der sein, der ich mal war. Deshalb will ich zu ihr.«
»Ich kann nicht eingreifen.«
»Das erwarte ich auch gar nicht. Du sagst mir einfach, was ich tun soll.«
»Das ist auch eine Form von Eingreifen.«
Er brachte den Wagen mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz zum Stehen und sah Mila an. »Findest du nicht, dass sie genug Mist erlebt hat? Sie hat alles verloren. Ihre Familie. Ihre Freunde. Jetzt will sie sich opfern. Für was?«
»Für den Tod.«
»Sie ist hier noch nicht fertig. Das spüre ich.«
»Dass du was spürst, ist ja ganz was Neues.«
»Für dein Alter redest du einen Haufen Mist.«
»Mein Alter? Du hast ja keine Ahnung.«
»Okay. Wahrscheinlich hast du so ein spezielles Weltenhüteralter oder was weiß ich. Aber sieh es
doch mal so. Ich war schon in allen Welten. Es macht keinen Unterschied, wenn ich noch einmal zurückkehre und sie hole. Sag mir einfach nur, wo der magische Eingang ist. Und wo Lara ist. Bitte!«
Sie zögerte. »Ich kann diese Entscheidung nicht alleine treffen.«
Marc musterte sie provozierend. »Bist du jetzt die Weltenhüterin? Oder nicht?« Er sah ihr an, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Das hatte er schon immer perfekt beherrscht.
Nachdenklich kaute das Mädchen auf der Unterlippe. »Also gut. Komm mit.«