Ausgetrickst
Mila konnte sehen, wie feucht Karins Hände waren, als sie Laras Hand umklammert hielt. Seit einer Stunde schon saß ihre Mutter bei ihrer Cousine am Bett und konnte mit dem Heulen nicht mehr aufhören. Mal aus Erleichterung, dann aus Verwirrung, dann aus Sorge. Vier Operationen waren nötig gewesen, um Laras Knochen einigermaßen zusammenzuflicken. Sie würde wochenlang Schmerzen haben. Monate der Physiotherapie lagen vor ihr. Aber sie war am Leben.
Mila war beeindruckt. Erst, wenn der eigene Wille so stark war, dass er eins wurde mit der Kraft, war ein solches Wunder möglich.
Ein Wunder, von dem natürlich niemand erfahren durfte. Marc hatte Lara durch den magischen Ort
zurück auf die Erde gebracht. Er hatte sie ins Krankenhaus getragen, wo sie augenblicklich operiert worden war. Man hatte Karin und Jo benachrichtigt. Als die beiden mit Mila ins Krankenhaus gekommen waren, war Karin auf den im Flur sitzenden Marc losgegangen, bis Jo sie aufgehalten und Marc gefragt hatte, was eigentlich los war.
Marc war schon immer ein guter Lügner gewesen. Er hatte den beiden etwas von einem Sturz im Steinbruch in Seebach erzählt. Auf die Fragen, warum er Karins Auto geklaut und so plötzlich gewusst hatte, wo er nach Lara zu suchen hatte, hatte er geschwiegen. Auch auf die Fragen, was Lara dort gemacht und warum zur Hölle er Mila hatte
mitnehmen müssen.
Er hielt sich an ihren Deal. Mila war nur bereit gewesen, ihm zu helfen, wenn niemand etwas von den anderen Welten erfuhr. Marc war noch einmal zurückgegangen, um Timo zu holen. Er hatte seinen Körper in den Steinbruch gelegt und es wie einen Sturz in den Tod aussehen lassen, den Lara überlebt hatte. Die Polizei war noch damit beschäftigt, die Hintergründe aufzuklären. Mila hoffte, dass ihr Plan aufging. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, sich mit Styx abzusprechen. Die war verschwunden, seit das Sterben auf der Erde wieder eingesetzt hatte. Natürlich. Sie hatte jetzt genug zu tun.
Lara murmelte etwas.
»Sie wacht auf!« Karin beugte sich dicht über ihr Gesicht. »Lara! Kannst du mich hören? Du hattest einen Unfall. Aber du wirst wieder ganz gesund. Ayse und Cem sind zurück. Sie sind wie du im Krankenhaus und werden untersucht. Begüm ist bei ihr. Sie hört gar nicht mehr auf, zu weinen. Vor Glück. Ayse geht es gut.«
Gut
war relativ. Sie waren wieder zurück. Konnten sich aber nicht erinnern. Mila hatte jetzt die Logik der Erinnerungen durchschaut. Ayse und Cem waren in einem anderen Level gewesen, deshalb hatten sie keine Erinnerung daran. Lara und Marc waren jedoch auf demselben Level gereist, auf dem sich auch die Erde befand. Hier gab es keinen Gedächtnisschwund.
Wieder murmelte ihre Cousine etwas. Timos Namen. Wie verzweifelt würde sie sein, wenn sie erwachte und begreifen musste, dass er nicht zurückgekehrt war.
Jemand trat ins Krankenzimmer und blieb in der Tü
r stehen. Es war Rasmus.
»Jo. Hol doch bitte etwas Orangensaft. Wir müssen ihren Kreislauf auf Trab bringen«, bat Karin.
Ihr Vater eilte los und ging einfach durch den für ihn unsichtbaren Rasmus hindurch. Der lächelte Mila an. Das Mädchen richtete sich auf. Sein Besuch konnte nur eines bedeuten: Es war so weit. Die Zeit der Ablösung war gekommen.
Aber war Mila wirklich bereit? Sie sah zu ihrer Mutter. Karin würde sie verlieren. Und sie würde niemals erfahren dürfen, dass Mila in Wahrheit blieb. Als Weltenhüterin. Unsichtbar für den Rest der Menschen. Außer für Lara, die durch ihre Reise nun einen anderen Blick auf die Dinge besaß.
Es tat ihr im Herzen weh, ihrer Mutter diesen Schmerz zufügen zu müssen. Auch wenn Karin mittlerweile begriffen hatte, dass Mila mehr sehen konnte als andere, würde sie das doch nie verstehen können. Nach dem Ritual würde Mila einfach nicht mehr da sein.
Sie hoffte, dass sie die Wandlung durchhielt und nicht schwach wurde. Ihre Aufgabe war zu wichtig. Es war ein schwacher Trost, dass Karin sich dieses Leben ausgesucht hatte, denn auch Mila spürte den Trennungsschmerz. Sie erinnerte sich an all die Liebe, die sie teilten.
Der einzige Trost für sie bestand darin, dass ihre Mutter nun Lara hatte. Sie würde sich um sie kümmern müssen und ganz in dieser Aufgabe aufgehen. Ein bisschen würde Lara ihre Tochter werden. Karin und Jo blieben nicht allein.
Rasmus wandte sich ab und verließ den Raum. Es würde bald geschehen. Aber dafür brauchte Mila noch
etwas.
Karin sah auf. »Ich hole schnell den Arzt, Mila. Warte bitte hier.«
Sie nickte und sah zu, wie Karin davoneilte. Dann trat sie an Laras Bett, nahm ihre Hand und ließ die Kraft in Lara strömen.
Sofort öffnete diese die Augen. »Was ist los?«, fragte sie benommen.
»Erklärungen folgen später. Ich brauche die Karte.«
Lara musterte sie verwirrt.
»Ich habe deine Sachen durchsucht. Aber ich finde sie nicht.«
»Wie geht es Timo?«
»Wo ist die Karte?«, fragte Mila erneut.
Lara blinzelte. »In meiner Tasche. Wo ist Timo? Geht es ihm gut?« Dann schien sie sich zu erinnern. »Timo … Er hat dagelegen. Wie tot. Hat Marc ihn auch geholt? Wo bin ich?«
Mila ließ schnell ihre Hand los. Sofort sackte Lara in sich zusammen. Es war zu früh für die Realität.
Mila ging noch einmal an den Kleiderschrank. Durchsuchte erneut Laras Klamotten. Nichts. Wie war das möglich?
Während Karin mit einem Arzt und Jo mit dem Orangensaft zurück ins Krankenzimmer kamen, ging Mila eilig in den Flur zu Marc. Er hatte die Augen geschlossen und war endlich eingeschlafen. Er stank erbärmlich.
»Marc. Wach auf!«
Sofort schreckte er aus seinen Träumen hoch. »Was ist? Geht es Lara gut?«
»Die Karte. Wo ist
sie?«
»Welche Karte?«
»Die Karte der magischen Orte
. Lara hatte sie. Und es gibt nur einen, der diese magischen Gegenstände gerne an sich nimmt. Also rück sie raus. Sie gehört mir.«
»Ich habe sie nicht.«
Sie konnte an seinen Augen sehen, dass er die Wahrheit sagte.
»Schau doch durch dein Auge.«
Mila hob zögernd die Hand. »Zwitscher? Zeig sie mir.«
Zwitscher öffnete sich träge und gab den Blick frei. Was Mila sah, ließ sie vor Wut aufschreien.