Heute bin ich spät aufgewacht, es wurde Nachmittag, ehe ich das Hotel verließ. Ich nahm einen anderen Weg als sonst, aber wieder überkam mich diese Empfindung der Leere. Als fehlte etwas.
Während ich durch die Straßen ging, befiel mich ein Schwindelgefühl. Mich fröstelte, und ich suchte nach einem Ort, wo ich einkehren konnte, aber mir war, als gäbe es keinen Platz. Es gab keine natürlichen Orte, die ich aufsuchen konnte, nichts, wo ich mich zurückziehen und spontan für eine Weile niederlassen konnte. Ich blickte mich nach einem Park oder einer Bank um, aber nirgendwo passte ich hin. Die Orte, die ich gewöhnlich aufsuchte, wirkten abweisend und verschlossen. Keine der Bänke, keiner der Caféstühle, die ich entdeckte, war für mich. Kein Bürgersteig, kein Fußgängerüberweg passte zu meinen Schritten. Ich fühlte mich fehl am Platze, ein Fremdkörper. Ich gehörte nicht dazu, und da war nichts zu machen.
Schließlich betrat ich ein fast leeres Café, wo ich mich an einen Fenstertisch setzen wollte, aber ich hatte das Gefühl, die Stühle versuchten mich abzuschütteln. Erst war es nur ein einzelner Stuhl, der ein bisschen kipplig wirkte, aber als ich aufstand und einen anderen wählte, war es nun auf einmal der Tisch, mit dem etwas nicht zu stimmen schien. Ich schob den Tisch ein wenig hin und her und rückte den Stuhl zurecht, auf den ich mich gesetzt hatte. Ich fühlte mich verwirrt und unruhig, und als ich das Mobiliar endlich so zurechtgerückt hatte, dass es nicht mehr wackelte, kam niemand, um meine Bestellung entgegenzunehmen, sodass ich das Café verließ und mich wieder auf meinen Gang durch die Straßen machte.
Es gab keinen Unterschied. Die Straßen fühlten sich leer an. Es war, als hätte sich die Atmosphäre verändert, als wäre die Luft dünner und der Asphalt poröser geworden, weil dem Material plötzlich ein Bestandteil fehlte, und als hätten die Hausmauern eine um Nuancen andere Farbe, ich weiß es nicht. Irgendetwas war weg, in den Farben, in den Geräuschen vielleicht, als wäre auf einmal ein bestimmter Grundstoff der Welt versickert, oder vielleicht war es eher wie eine ganz neue Form der Leere, eine unbekannte Art.
Ich versuchte das Gefühl auf meinem Weg durch die Straßen gewissermaßen wegzuwandern. Ich bog um Hausecken und stieß auf stark befahrene Straßen und bevölkerte Passagen, und nach und nach war die Welt wieder die alte. Ich konnte mich an Land ziehen, in die Welt zurückkehren, und den größten Teil des Nachmittags wanderte ich umher und versuchte, dieses Gefühl der Leere zu umschiffen. Ich durchquerte Parks auf sandigen Wegen und ging an Bänken und Spielplätzen vorbei, ohne mich irgendwo hinzusetzen, abgesehen von einigen wenigen Minuten, in denen ich versuchte, mich auf eine etwas feuchte Bank am Springbrunnen in der Passage du Cirque niederzulassen.
Am späten Nachmittag kam ich zum Hotel zurück, kaufte mir am Empfang ein Sandwich und ging auf mein Zimmer. Als ich die Treppe hochstieg, schaute ich an mir herunter und hatte den Eindruck, meine Erscheinung sähe irgendwie abgetragen aus, zerfleddert, schäbig, ausgefranst, aber ich konnte nicht ausmachen, woher dieser Eindruck kam. Es war nicht die Kleidung. Als ich in den Flur zu meinem Zimmer einbog, erblickte ich mich in einem Spiegel. Nein, es war nicht meine Kleidung, sie war im Vergleich zu meinem letzten Aufenthalt hier im Hotel noch gut in Schuss, die Stiefel hatte ich zwar auf vielen Wanderungen angehabt, die ich von meinem Zimmer in Clairon aus unternommen hatte, aber besonders abgelaufen waren sie auch nicht. Ich trug ein anderes Kleid als beim letzten Mal, das alte hatte ich in Clairon gelassen, dieses hier war neuer, es war nichts daran auszusetzen, und mein Mantel sah aus wie immer, kann schon sein, dass ich einen neuen brauche, aber das sticht einem wirklich nicht ins Auge. Und trotzdem sah ich aus, als wäre ich in einer Rumpelkammer abgestellt gewesen, zerschlissen, verstaubt, aus dem Verkehr gezogen.
Ich weiß natürlich, dass es nur an mir liegt: Ich habe meine Richtung verloren. Es liegt nicht an einem fehlenden Grundstoff, an einer neu entdeckten Art der Leere. Sondern einfach nur darum, dass ich keinen Grund dafür finde, warum ich mich durch die Straßen bewege. Ich gehe an Geschäften vorbei und muss nicht hinein. Ich überquere eine Straße oder gehe durch einen Park – und fühle mich unwohl, überflüssig, ausgelaugt, verkehrt. Ich bin nicht mehr Tara Selter, die Antiquarin mit dem Sinn für Details und dem Blick für Bücher mit Sammlerpotenzial. Ich bin nicht Tara Selter bei der Arbeit. Ich bin nicht die Einkäuferin für die Firma T. & T. Selter. Es gibt sie nicht mehr: die Tara Selter, die kommt, um zu fragen, zu verhandeln, zu betrachten, zu kaufen, Vereinbarungen zu treffen und zu organisieren. Tara Selter, die Antiquarin, ist fort, Tara Selter, ein Mensch bei der Arbeit, mit einem gut laufenden, expandierenden Betrieb, eine Geschäftsfrau mit Kunden und Kollegen. Die Tara Selter mit Zukunft, sie ist verschwunden. Tara Selter mit Träumen und Erwartungen, die aus dem Bild gefallen sind, aus der Welt geworfen, über den Rand gelaufen, ausgegossen, fortgeführt mit dem Strom der achtzehnten November, verloren, verdampft, ins Meer geschwemmt.
Oben im Zimmer legte ich das Sandwich auf den Tisch und zog meinen Mantel und meine Stiefel aus, aber als ich kurz darauf das halbtrockene Brot essen wollte, wurde im Hotel plötzlich der Feueralarm ausgelöst. Ich war einen Moment lang überrascht, weil ich die Sirene bisher nie gehört hatte, aber das lag wahrscheinlich daran, dass ich an den anderen Tagen nicht um kurz nach fünf im Hotel gewesen war. Beunruhigt war ich nicht, es musste ein falscher Alarm sein, denn das Hotel war ja nicht abgebrannt, überhaupt hatte ich nie und nirgendwo Anzeichen eines Brandes bemerkt, ich unternahm also nichts weiter, und tatsächlich, kurze Zeit später wurde der Alarm eingestellt. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Auf der Straße hatten sich Menschen angesammelt, und ich dachte, so, so, der achtzehnte November enthielt also auch einen falschen Alarm im Hôtel du Lison. Na und, dachte ich. Na, nichts. Ich sah ein Löschauto kommen, aber von Feuer keine Spur, und Wasserschläuche wurden auch nicht ausgerollt. Ein Feuerwehrmann sprach in aller Ruhe mit der Frau vom Empfang, und ich biss noch ein Stück meines Sandwichs ab.
Erst hinterher ging mir die Bedeutung des Zwischenfalls auf: dass ich nämlich nicht mehr auf der Hut war, nicht nach Rettungsankern Ausschau hielt, ja, es gar nicht mehr für möglich erachtete, dass das Hôtel du Lison in Flammen stehen könnte, dass es ein neuer achtzehnter November und ein Sprung in eine neue Zeit sein könnte, dass das Hotel abbrennen und dass ich in Lebensgefahr schweben könnte, eben wenn die Zeit wieder ihren normalen Verlauf nahm. Aber ich war ohne weiter darüber nachzudenken davon ausgegangen, dass es sich um einen falschen Alarm handelte.
Noch vor wenigen Tagen wäre ich aufgesprungen und hätte eine Wende gewittert, aber jetzt saß ich bloß mit meinem angebissenen Sandwich da und tat nichts, und es liegt immer noch neben mir auf dem Tisch, nicht weil ich es aus Evakuierungsgründen in aller Eile liegen gelassen hätte, sondern weil es trocken und hart geworden war. Ich glaube nicht mehr an Variationen, ich suche nicht mehr nach Unterschieden, und nicht einmal ein Feueralarm kann meine Erwartungen an diesen Tag ändern, der immer wiederkommt.
Auf den Gängen vor meiner Tür höre ich noch Stimmen, aber der Bürgersteig gegenüber ist längst menschenleer. Die letzten Hotelgäste sind auf dem Weg in ihre Zimmer, das Feuerwehrauto fuhr bald wieder weg, und es ist keine Gefahr im Anzug. Es ist ein ruhiger Tag im Hôtel du Lison. Es gibt keine Verletzten und keine Verwundeten. Ich sitze in einem Hotelzimmer, ich bin in Sicherheit, Thomas ist in seinem achtzehnten November in Clairon in Sicherheit, er ist vom Regen durchweicht worden und zu einem Haus zurückgekommen, das kühl geworden ist, aber sonst ist nichts passiert. Er ist wieder in seinem Wohnzimmer, er hat Feuer im Kamin gemacht, hat im Garten Porree geholt und ein paar Zwiebeln im Schuppen. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich habe einen Mann, der der Meinung ist, ich werde die Lösung am besten allein finden. Ich habe Freunde, die nicht der Meinung sind, mir helfen zu können, und vielleicht nicht einmal glauben, ich sagte die Wahrheit, sondern mich mit einem römischen Sesterz in einer Tüte weggeschickt haben. Tara Selters letzter Auftrag: die Treppe hoch und raus mit der Mülltüte. Und nun gehe ich durch die Straßen, überflüssig und aus dem Verkehr gezogen. Das ist keine Katastrophe. Das ist nicht nichts, aber auch nicht sehr viel.