# 403

Unser Weihnachtsmorgen begann natürlich ein bisschen chaotisch. Meine Eltern erinnerten sich an nichts. Ich musste ihnen alles erklären, von der Brandwunde bis zum lachenden Kühlschrank, bevor wir überhaupt mit dem Frühstück anfangen konnten.

Sie waren aufgewacht, als ich dabei war, eine Kanne Kaffee zu brühen, der viel zu stark wurde, und ihre Überraschung war auch jetzt wieder geringer als erwartet. Meine Mutter freute sich offensichtlich darüber, dass ich immer noch unangemeldet auftauchen konnte, und mein Vater war der Meinung, meine Mutter sei informiert gewesen. Wir saßen erst am Tisch und tranken den starken Kaffee, während ich die lange Erklärung wiederholte, die sie schon am Tag zuvor gehört hatten, die jetzt aber auch unseren Heiligen Abend und meine Begegnung mit dem Kühlschrank einschloss. Doch gegen Ende meines Berichts wurde meine Mutter allmählich ungeduldig, sie holte Brot und Aprikosenmarmelade, mein Vater sagte derweil seinen Termin ab, und als er in die Küche zurückkam, kochte er noch einmal Kaffee, der nur halb so stark war wie meiner, und wir aßen Brot mit Marmelade, während sie beide versuchten, meine Geschichte zu verstehen, Fragen zu mehr oder weniger relevanten Details stellten und mir diverse Ratschläge gaben, an die ich selbstredend selber schon gedacht oder die ich versucht hatte, mir zunutze zu machen.

Nach dem Kaffee und der Aprikosenmarmelade machten wir gleich mit den Resten vom Weihnachtsessen weiter, in die mein Vater ein paarmal hineinpikste, obwohl ich darauf bestand, dass alles über Nacht gekühlt worden war, zwar in einer Kühltasche, aber es gebe keinerlei gesundheitliche Bedenken, versicherte ich. Das Essen hatte in meinem Zimmer kühl gelegen, die Beutel mit der Hühnersuppe, die ich dazu benutzt hatte, waren nur halb aufgetaut gewesen, und ich hatte sie wieder in die Tiefkühltruhe gepackt. Ich war mir auch ziemlich sicher, dass er nicht an irgendeine Gesundheitsgefährdung gedacht hatte. Sein Zögern lag wohl eher daran, dass es ein wenig ungewohnt war, die Reste einer Mahlzeit zu verzehren, an der man teilgenommen hatte, an die man sich aber nicht erinnern konnte.

Ich hatte die Kartoffeln im Ofen aufgewärmt, aber meine Mutter meinte, dass vier nicht genug seien. Sie legte noch drei nach, die ich im Kühlschrank gelassen hatte, weil sie nicht mehr in meinen Plastikbehälter passten, und die zu meiner Überraschung nicht verschwunden waren. Der Grund dafür sei vermutlich, sagte ich, als ich die Regeln des achtzehnten Novembers beschreiben sollte, dass ich sie selber zubereitet hätte. Nun erklärte ich ihnen dieses besondere Phänomen, dass der Übergang zwischen zwei Zeiten sich nicht eindeutig bestimmen lasse, dass es keine simple Mechanik sei, sondern eher – so erklärte ich es jedenfalls meinem Vater – etwas Optischem gleiche, einer Art Überblendung oder einer Parallelverschiebung, vielleicht einer Art Reißverschlussverfahren der beiden Zeiten, bei dem meine voranschreitende Zeit, mein Umgang mit der Welt, meine konsumierende und akkumulierende Zeit zwar zum Vergessen der restlichen Welt im Kontrast stehe, aber nicht nach einem Satz mechanischer oder nicht zu übertretender Regeln und Gesetze, sondern eher nach einigen vagen Grundsätzen, einigen Regeln, die von einer Unentschiedenheitszone umgeben waren, einer Ungewissheit, die ich nicht ganz durchschaute, die aber typischerweise, wie bei diesen Backkartoffeln, zwischen den Teilen der Welt, bei denen ich sozusagen meine Finger mit im Spiel hatte, und den Teilen, die einfach an ihren Ausgangspunkt zurückkehrten, eine scharfe Grenze zog.

Ich erklärte ihm, die Ungewissheit liege genau dort, wo die beiden Zeiten aufeinanderstießen, aber er war mit meiner Erklärung nicht zufrieden. Ich bestand darauf, dass es keine festen Regeln gebe. Keine Mechanik. Es sei durchaus möglich, dass der Rosenkohl, den er am Tag zuvor geputzt und gekocht hatte, auch wenn er sich nicht daran erinnerte, und der Rest der Pute, die im Ofen gestanden hatte und die wir abwechselnd im Auge gehabt und gewendet und ein wenig gepikst hatten, im Kühlschrank liegen geblieben wären. Aber ich wollte kein Risiko eingehen, sagte ich. Hätte ich die Pute und den Rosenkohl nicht in der Kühltasche in meinem Zimmer verstaut und die Schachtel mit dem Christmas Pudding nicht an mein Fußende gestellt, könnte er jetzt höchstwahrscheinlich nur in diese etwas trockenen Kartoffeln stechen. Alles andere wäre verschwunden, und wir könnten kein Resteessen veranstalten. Freilich war ich meiner Sache nicht ganz sicher. Ich hatte das Gefühl, dass meine Unternehmungen mit Thomas handfester waren als beispielsweise das Verschieben des Heizofens mit Marie in Maurels Laden an meinem ersten achtzehnten November, und wer weiß, vielleicht gälte das auch für ein Weihnachtsessen, das man zusammen mit der Familie zubereitet hatte. Aber ich war nicht daran interessiert, mit den Resten von Weihnachten zu experimentieren und zu riskieren, dass sie sich in Luft auflösten.

Mein Vater hatte immer noch das Gefühl, die Essensreste eines anderen zu verzehren, was ihn eigentlich nicht weiter störte, behauptete er, solange er sich nicht vorstellen müsse, es sei sein eigenes Weihnachtsessen, mit dem er hier an einem achtzehnten November zu tun hatte.

Meine Mutter fand, das Verhältnis zu den Dingen erscheine eher wie ein pädagogischer Prozess, so als wären die Dinge einer Art Kommunikation ausgesetzt, einem Lernprozess, bei dem die Gegenstände der Welt bearbeitet, vielleicht sogar überredet werden müssten, und dass dies nicht auf eine bestimmte Weise erfolgen dürfe, sondern eine Art Anpassung an die verschiedenen Gegenstände nötig sei. Sie habe überhaupt kein Problem damit, dass der Übergang zwischen den beiden Zeiten nicht mechanisch sei. Dass es eine gewisse Unsicherheit gebe. Das habe er auch nicht, behauptete mein Vater, und dann begannen meine Eltern über den Unterschied zwischen den beiden Betrachtungsweisen zu diskutieren, alles in einer Atmosphäre freundlicher Uneinigkeit, so als wäre die Unbestimmbarkeitszone der Dinge Teil der kleinen Alltagsfragen wie die nach der Menge von Kaffeebohnen für eine Stempelkanne Kaffee oder wie man seine pubertierenden Töchter dazu bringt, häuslichen Pflichten nachzukommen. Abmessungen oder Bauchgefühle, Pädagogik oder Regeln, und wie schon so oft hörte ich, wie sie ihren Standpunkt wechselten, denn wenn einer zu sehr in die eine Richtung ging, übernahm der andere unmerklich den verlassenen Standpunkt, sodass das Gleichgewicht aufrechterhalten wurde.

Unser Gespräch kam nicht viel weiter als bis zu diesem Gleichgewicht, denn es war an der Zeit, sich mit dem Christmas Pudding zu beschäftigen, der noch am Fußende meines Bettes stand und mindestens zwei Stunden im Wasserbad erwärmt werden musste.

Diesmal beschlossen wir, Lisa nicht anzurufen. Ich hatte nämlich von ihrem Vorschlag erzählt, mich auf meiner Reise zu begleiten. Das war nicht so gut angekommen. Ich versicherte zwar, Ansteckung sei nicht zu befürchten und ich würde sie wohl kaum in meinen ewig gleichen Tag hineinziehen, aber sie waren der Meinung, wir sollten Lisa aus dem Spiel lassen.

Die Geschenke erwähnte ich nicht, denn die waren natürlich weg, und sie konnten sich nicht erinnern, was sie bekommen hatten. Im Übrigen waren mir mittlerweile andere und bessere Geschenke eingefallen, aber die, dachte ich, müssten bis zum nächsten Weihnachtsfest warten.

Stattdessen gingen meine Mutter und ich in die Stadt. Sie wolle mir gern etwas schenken, sagte sie, während mein Vater auf den Pudding im Wasserbad auf dem Herd aufpasste. Sie habe an ein Kleid gedacht. Oder etwas anderes, wenn ich lieber was anderes haben wolle. Ich glaube, sie hätte mir alles geschenkt, damit ich nur nicht ihre jüngere Tochter ins Unbekannte entführte, und ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich mir sämtliche Kleider kaufen könnte, die ich mir wünschte. Ob sie bei mir blieben, war eine andere Sache. Das würde eine gewisse Überredungskunst erfordern, eine Einsicht in das Verhalten der Dinge, eine Pädagogik der Gegenstände, wenn man so will.

Ich suchte mir ein graublaues Kleid mit eingewebter Wolle aus. Das konnte ich mit dem schwarzen Kleid anziehen, das ich, seit ich Paris verlassen hatte, jeden Tag getragen und mit Seife oder Shampoo der Hotels, in denen ich untergekommen war, im Waschbecken gewaschen hatte. Ich weiß nicht, ob ich ein neues Kleid bei mir behalten kann, ohne es die ganze Zeit anzuhaben, aber ich trage es unter dem alten und rechne damit, dass es bei mir bleibt. Ein graublauer Rand lugt unter dem schwarzen Kleid hervor, doch es sieht aus, als sollte es so sein. Niemand käme auf die Idee, dass ich da ein Kleid einem harten Training unterziehe, damit es bei mir bleibt.

Im selben Geschäft fand ich auch eine Garnitur Wollunterwäsche, mit langen Ärmeln, und Leggings, die ich drunterziehen kann, wenn es Winter wird. Der Gedanke an den Winter ging mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich den Wunsch verspürte, Weihnachten zu feiern, und als ich die Unterwäsche entdeckte, wusste ich, ich musste mir Jahreszeiten beschaffen. Ich brauchte warme Sachen und ein Wetter, das zu den Sachen passte. Ja, schon, wir hatten so eine Art Weihnachten gefeiert, und es gab auch immer noch den Pudding zum Abschluss, der auf dem Herd warm wurde, aber das Wetter in Brüssel war einfach zu herbstlich, es waren zu viele Blätter an den Bäumen und Quitten auf dem Boden.

Meine Mutter sagte, sie hoffe, ich werde in die Zeit zurückfinden. Dass sie glaube, ich würde es schaffen. Ich sei immer meinen eigenen Weg gegangen, sagte sie. Mir ist nicht ganz klar, was sie damit meinte, und ich weiß auch nicht, ob sie recht hat, aber ich sagte nichts weiter dazu. Einen Augenblick später wurden wir von einer Verkäuferin unterbrochen, und kurz darauf gingen wir durch die Straßen und stiegen in einen Bus, der uns in die Vororte fuhr.

Als wir zu Hause ankamen, war es später Nachmittag. Es dunkelte schon, und die Quitten leuchteten gelb unter dem fast kahlen Quittenbusch, als wir den Gartenweg entlanggingen. Wir aßen unseren Christmas Pudding, und später pulten wir die letzten Reste von der Putenkarkasse und schmierten uns ein paar Brötchen. Nach dem schweren Pudding waren wir nicht besonders hungrig, wir hatten ziemlich viel davon gegessen, freilich ohne das Vanilleeis, das meine Mutter gekauft hatte, denn das war natürlich im Verlauf der Nacht aus dem Tiefkühlfach verschwunden, daran hatte ich nicht gedacht, aber nun war’s zu spät, keiner hatte Lust, jetzt noch Eis zu besorgen. Ich glaube, wir waren alle müde, und schon gegen zehn wünschten wir uns eine gute Nacht und machten uns fertig, um ins Bett zu gehen.

Meine Mutter kam noch mal in mein Zimmer, nachdem ich mich schon hingelegt hatte, und setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett wie so oft in meiner Kindheit, eigentlich bis ich von zu Hause auszog, und ich spürte die Ratlosigkeit des halbwüchsigen Kindes, den Wunsch, sie möge wieder gehen, damit ich ein Leben weiterleben konnte, an dem sie nicht mehr teilhatte, und gleichzeitig dieses maßlose Verlangen, sich in eine Welt sinken zu lassen, in der die größten Probleme von den Erwachsenen übernommen wurden. Sicher der Wunsch, dass sie, meine Mutter, die Zeit zurechtrücken, aber dann wieder aus dem Raum schleichen konnte. Wie damals auf dem Schulausflug, als einer ihrer kleinen Schüler sich den Arm ausgekugelt hatte. Lisa und ich waren mitgekommen und schauten zu, wie unsere Mutter den Arm wieder einrenkte. Ich war erstaunt und stolz, als ich die Erleichterung auf dem Gesicht des erschrockenen Jungen sah, dessen Arm so merkwürdig verbogen gewesen war. Sie hatte einen speziellen Griff benutzt, kräftig und sanft zugleich, eher ein Heben als ein Ziehen, und mit einem Mal war der Arm wieder in Ordnung gebracht. Das sind so Sachen, die Mütter können, muss ich damals gedacht haben. Es gab dem Dasein eine besondere Ruhe, dass meine Mutter verrenkte Glieder wieder an ihren Platz setzen konnte.

Aber gegen die Wiederholungen der Zeit konnte auch sie nichts ausrichten. Wir sprachen ein wenig über die Möglichkeit, dass wir bereits morgen wieder in einer normalen Zeit wären, raus aus dem Loop, aus der Schleife, der Wiederholung oder wie wir es sonst nannten, aber es war mehr ein Pflichtgespräch, in dem wir beide unsere Repliken hatten, oder ein Phantasiespiel, wie man es oft mit den Eltern spielt. Ich erinnere mich an Restaurantspiele, bei denen mein Vater mit einem Geschirrtuch überm Arm herumlief und Lisa und ich eine Speisekarte mit seltsamen Gerichten und schrägen Preisen schrieben. Jetzt hatten wir eben auch Weihnachten gespielt, erst den Heiligen Abend, dann den ersten Feiertag, und nun spielten wir, dass es einen Ausweg gibt. Meine Eltern haben sich auf das Spiel eingelassen, und meine Mutter hat mitgemacht bis hin zu der Idee, die Geschichte sei bald überstanden und wir würden an einem neunzehnten November aufwachen oder vielleicht am sechsundzwanzigsten, dem Boxing Day, wie sie sagte. Aber ich bin mir sicher, sie war einfach erleichtert, den Tag überstanden zu haben, ohne dass ich meine Schwester involviert und sie womöglich sogar mitgenommen hatte. Ich sagte, ich hoffte, sie werde ihre Quitten aufsammeln und ihr Gelee kochen können – dann würde ich Weihnachten wiederkommen.

Ich würde schon einen Ausweg finden, sagte ich. Ich sei mir sicher, es gebe eine Antwort. Irgendwo da draußen liege eine Lösung. Ich würde sie schon finden. Ich würde weiterreisen, mich umsehen, den Gesprächen der Menschen lauschen. Mit einem Wörterbuch. Irgendetwas könne ich sicher verwenden. Die Welt sei voll guter Ratschläge, wenn man nur zuhört, sagte ich.

Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Ich hatte darüber nachgedacht, wohin ich gehen könnte, ich dachte an die Züge und die Fahrgäste, und jetzt ergriff ich in der Hoffnung, sie zu beruhigen, den ersten Gedanken, der vorbeikam.

Daran habe sie gar nicht gedacht, sagte sie. Dass man sich eine Lösung von Problemen des Daseins gewissermaßen erlauschen konnte. Doch, schon, in Gesprächen mit der Familie und Freunden vielleicht. Aber was man in den zufälligen Unterhaltungen anderer Leute finden könne, wisse sie nicht.

Ich sagte, ich sei mir sehr sicher, durch sorgfältiges Zuhören jedes erdenkliche Problem lösen zu können. Wenn man wirklich zuhörte. Die großen Fragen des Lebens. Das Ganze. Und wenn man es nicht in den Gesprächen der Menschen finde, könne man es mit dem Gesang der Vögel versuchen. Oder dem Geräusch des Windes. Irgendetwas werde man schon ausfindig machen.

Mir war schon klar, dass ich unser Gespräch auf ein falsches Gleis führte, denn ich hatte überhaupt nicht vor, durch die Welt zu reisen und meinen Mitpassagieren zuzuhören. Oder dem Wind meinetwegen. Ich fühlte mich wie ein halbwüchsiges Kind, das eine Bemerkung in die Luft geworfen hatte, der es nun folgen musste, halb im Trotz, halb um meine Mutter nicht in den Gedanken einweihen zu müssen, der mich nun zu überwältigen drohte: der Gedanke, egal, was ich täte, ob ich zuhörte oder nicht, dem achtzehnten November nie mehr entkommen zu können.

Ich sagte, ich wisse schon, dass sie anders dachte. Dass es nach ihrer Auffassung nur eine Art gab, die Probleme der Welt zu lösen, denn sie sei immer überzeugt gewesen, jede Veränderung fange klein an. Mit den Kindern. Nichts würde sich verändern, wenn wir das nicht einsähen und unseren verfehlten Umgang mit den neusten Erdenbürgern überdachten.

Meine Mutter wirkte erleichtert, als ich das Gespräch auf das Thema lenkte, um das sich, solange ich mich erinnern konnte, ihr ganzes Leben gedreht hatte. Die Kinder. Ihre Schülerinnen und Schüler, ihre eigenen Kinder, alle Kinder der Welt. Für sie war jeden Tag Weihnachten, behauptete ich, denn immer, wenn ein Kind geboren wurde, war das in ihren Augen eine weitere Möglichkeit, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Tatsächlich war sie der Meinung – was sie eingestand, als ich es sagte –, wenn wir diese Möglichkeit nur wieder und wieder ergriffen, immer wenn sich uns die Chance bot, dann würden wir die Veränderungen sehen, ganz still, Schritt für Schritt. Krieg, Gewalt, Machtmissbrauch, Korruption, alles würde abnehmen, und dann würde es leichter werden, andere Probleme zu lösen: Hunger, Krankheit und Armut, alles Mögliche. Das sei immer ihre Überzeugung gewesen. Ich glaube, es liegt an ihrer eigenen Kindheit und Schulzeit, und ich glaube, sie meint es allen Ernstes: dass Kinder, die ihren Weg ohne Beeinträchtigung gehen können, die Welt automatisch besser machen.

Ich fragte sie, ob sie die Welt so betrachtete, ob es wirklich so einfach wäre. Ja, davon war sie überzeugt. Also einfach, sagte sie, nicht leicht. Das heiße nicht, die Natur schlicht gewähren zu lassen, insistierte sie. Das nicht. Kindern müsse auf den Weg geholfen werden.

Ich unterbrach sie, denn ihre Sicht auf die notwendigen Ingredienzen für Kindheit und Schulzeit kannte ich zur Genüge. Kinder sollten mehrere Sprachen lernen und einen Garten pflegen, Gesang und Musik gehörten dazu, und man sollte sie ungebeugt und ungebrochen durch die Kindheit bringen, aber nicht ungeprüft und ungehärtet. Mit Umsicht, wie bei Pflanzen, pflegte sie zu sagen, aber ehe sie anfangen konnte, sagte ich, ihr Gedankengang habe eine Art Mechanik, so kam es mir vor, eine sanfte Mechanik freilich, eine Art Erlösermechanik, wo die Kinder die Welt retten sollen. Eine simple Weihnachtsmechanik, sagte ich jetzt, obwohl ich genau wusste, dass sie es überhaupt nicht mochte, wenn ihr Denken mechanisch genannt wurde. So dachten mein Vater und meine Schwester auch: Die Technologie musste uns helfen.

Dann fragte ich sie. Träumte sie von Enkelkindern? Träumte sie davon, den Babyhochstuhl vom Boden zu holen? Sie wusste es nicht. Sie wünschte vor allem, dass es ihren eigenen Kindern gut ging. Dass sie ihren Schülern vorwärtshelfen, vielleicht das eine oder andere reparieren konnte. Eines Tages, sagte sie, eines Tages würde sie natürlich gerne Enkel haben, aber jetzt im Moment sei es wunderbar mit den Kindern, die sie hatte.

Während sie sprach, war ich unter die Decke gekrochen, und nun steckte sie sie um mich herum fest, als wäre ich ein ganz kleines Kind, und plötzlich begann sie In the Bleak Midwinter zu singen, sehr leise, fast wie ein Wiegenlied.

In the bleak midwinter

Frosty wind made moan;

Earth stood hard as iron,

Water like a stone;

Snow had fallen, snow on snow,

Snow on snow,

In the bleak midwinter

Long ago.

Sie sang das Lied von Anfang bis Ende, fünf lange Strophen, und ich konnte nicht anders, ich musste mitsingen, weil wir es zu Weihnachten immer gesungen haben, ich setzte mich im Bett auf und stimmte ein. Ich sang den Alt, das mache ich, seit meine Mutter es aufgegeben hatte, meine Stimme in die Höhen der Führungsstimme zu heben und mir stattdessen beibrachte, das Gleichgewicht in der Mitte zu halten. Lisa und sie sangen die Melodie, mein Vater brummte einige Basstöne im Hintergrund, und mein Job war es, die Mitte zu halten und weder in die Führungsstimme noch in die Brummtöne meines Vaters zu fallen. Jetzt sangen wir eben ohne Bass, und gegen Ende hatten wir die Stimmen nahezu unter Kontrolle.

Als das Lied zu Ende war, sagte sie gute Nacht und ging aus dem Zimmer, kurz danach schlüpfte ich in das neue Kleid. Das alte zog ich darüber und packte die wollenen Untersachen in meine Tasche.

Als es im Haus still geworden war, wartete ich solange, bis ich annehmen durfte, dass sie beide eingeschlafen waren. Dann schlich ich zu ihnen, um zu lauschen. Ihre Schlafgeräusche bildeten einen ungleichmäßigen Chor, bestehend aus Mutter und Vater, die mit ihrem erwachsenen Kind Weihnachten gespielt hatten.

Im Besenschrank fand ich eine Taschenlampe, die ich einsteckte. Ich packte meine Sachen und lieh mir ein paar Bücher, die im Zimmer auf dem Regal standen. Mir war eingefallen, dass ich gesagt hatte, ich wolle in Brüssel Bücher abholen. Jetzt stimmte es. Ich habe Bücher von ihrem Regal genommen, jetzt sitze ich im Bett und warte. Die Spuren meines Besuchs habe ich beseitigt, ich habe den letzten Rest des Puddings in einen Plastikbehälter getan und in meiner Tasche verstaut. Ich warte darauf, dass die Nacht jede Erinnerung an unseren achtzehnten November auslöscht, und noch ehe jemand aufwacht, verlasse ich das Haus.