Jetzt sitze ich im Zug und denke an meine Familie wie an einen festen Kern mit aufgelösten Rändern. Als würde immer etwas zerbröseln und zerrinnen.
Ich denke an Tapeten, die verblassen. Ich denke an die Zigarette im Aschenbecher, die so oft sich selbst aufrauchte, weil meine Mutter mit etwas anderem beschäftigt war. Die Asche, die als lange, graue Linie dalag, bis man sie anpustete, sodass sie zerfiel.
Ich denke an die beiden Stückchen Zucker, die mein Vater ständig in seinem Kaffee auflöste, ein leises Klirren des Teelöffels und die Zuckerstückchen in der Tasse, das Zuckergeräusch, das immer schwächer wurde, bis es am Ende verklungen und nur der Löffel noch zu hören war.
Ich denke an die warmen Bäder, wenn Lisa und ich in der Wanne saßen. Wir hatten Farben, die man im Wasser benutzen konnte, Badefarben, mit denen man auf den Fliesen malen konnte und die sich zum Schluss vermischten und zu einer bräunlichen Suppe wurden, und wenn das Bad beendet war, zogen wir den Stöpsel und ließen die Suppe aus der Wanne. Bei anderen Gelegenheiten nahmen wir Comichefte oder Spielzeugkataloge mit ins Bad, und wenn wir sie ausgelesen hatten, ließen wir sie im Wasser treiben, wo sie sich auflösten. Wir legten sie aufgeschlagen auf die Wasseroberfläche, das Papier weichte auf, die Farben verschwammen, und nach und nach verwandelte sich alles in gräuliche Läppchen und Flocken aus durchnässtem Papier.
Ich denke an die Sprachen im Haus, die grammatischen Verwechslungen, das offene Treiben der Vokabeln, die zusammengesetzt und ausgetauscht werden konnten, eine Sprache mit losen Rändern und freier Beweglichkeit, solange wir uns in den eigenen vier Wänden aufhielten. Aber wenn wir ausgingen, gab es Kategorien. In der Schule sprachen wir Französisch, bei unseren Besuchen in England ging alles auf Englisch vor sich. Im Land der Monoglotten, wie meine Mutter sagte, wo der Einsprachige König war und wo uns schnell beigebracht wurde, die sprachlichen Formen einzuhalten, denn keiner verstand uns, bevor wir nicht thank you und please gesagt hatten.
Und jetzt denke ich an die Komposttonne im Garten, wo Zweige und Blätter, alte Topfpflanzen und Schalen aus der Küche in eine unentwirrbare Masse geworfen wurden, die langsam die Farbe änderte, zerbröselte und schließlich als dunkelbrauner Kompost auf die Erde gekippt werden konnte, voll dünner rötlicher Würmer, die wild im Licht zappelten.
Ich denke an den Kaminofen, der im Haus installiert wurde. Ich denke an die Wärme und die Scheite, die sich in kurzer Zeit in Asche verwandelten. Der Stapel Brennholz unter dem Ofen, der schon nach wenigen Stunden kleiner wurde und wieder aufgefüllt werden musste. Im Winter das Brennholz zu holen war meine Aufgabe, bloß einen Stapel nach der Schule am späten Nachmittag. Holzstücke, die verschwanden und Wärme ins Zimmer sandten und zu Pulver zerfielen.
Diese ganze Auflösung ist es, aus der sich ein Kern gebildet hat, eine Familie mit festen Plätzen, Traditionen und ein Ort, an den man zurückkehrt, und ich denke an die Nebeltage mit Thomas, so als wäre es gerade die Auflösung, die etwas Zusammenhängendes erschafft.
Aber jetzt sitze ich in einem Zug, und vermutlich laufen meine Eltern im Haus herum, als wäre nichts geschehen. Ich verließ das Haus im Dunkeln, nur das Licht der Taschenlampe und die Straßenbeleuchtung wiesen mir den Weg. Es war kühl, aber nicht winterkalt, und ich wanderte durch Einfamilienhausviertel, vorbei an Vorortgeschäften, auf Einfallstraßen und in die Stadt, wo ich schließlich in einen Bus stieg, der mich zur Station Bruxelles-Midi brachte.
Im Bahnhof setzte ich mich in das einzige Café, das geöffnet hatte. Als ich ankam, war es fast leer, aber in den folgenden Stunden füllte es sich allmählich mit Fahrgästen, während ich mir immer wieder einen anderen Platz suchte und auf eine Lösung wartete, einen Weg hinaus, eine Reise, die sinnvoll war, aber ich fand keine andre Lösung als Richtung Norden zu gehen, in die Kälte. Ich brauchte Winter, und mitten am Vormittag, als die Fahrgastströme abebbten, kaufte ich mir eine Fahrkarte für einen Zug, der mich nach Norden brachte.
Den Gesprächen im Zug höre ich nicht mehr zu, weil ich weiß, wo ich hinwill, und da ist keiner, der Winterreise sagt, obwohl wir längst die deutsche Grenze passiert haben.