In Köln verließ ich den Zug, es war die Endstation, ich durchquerte die Bahnhofshalle und kam auf einen Platz, wo sich neben mir der Dom erhob und die Turmuhr zu schlagen anfing. Es war vier Uhr, seltsamerweise war es noch wärmer als in Brüssel, und auf dem Platz vor der Kirche wehte mir eine laue Brise entgegen. Es war ein Nachmittag ohne Regen, ziemlich warm für November und auf jeden Fall zu warm für einen Winter. Ich blieb mitten auf dem Platz stehen, drehte mich um, ging zum Bahnhof zurück und stieg in den ersten Zug, der in Richtung Norden fuhr. Es war ein Zug nach Bremen, und als ich dort ankam, ging ich in die Stadt zu demselben Hotel, in dem ich übernachtet hatte, als ich meine verlassene Freundin bei der Dame in Beige abgeliefert hatte.
Ich bat um dasselbe Zimmer wie beim letzten Mal. Es war spät geworden, und ich war zu müde, um Essen zu holen, zu müde, um an meine Eltern zu denken, die sich bestimmt in der Küche gegenübersaßen, über Eck, mein Platz am Tisch an die Wand geschoben, vielleicht mit einer Schale Quitten vor sich und einem novemberlichen Duft im Raum.
Stattdessen aß ich die letzten Reste des Christmas Puddings, ein etwas klitschiges Abendessen, aber der Geschmack hatte etwas Tröstliches, es war ein Geschmack der Fürsorge vielleicht, als ob sich immer jemand um mich kümmerte, es war ein schwerer Geschmack nach Weihnachten und Familie und Vergangenheit.
Beim Zähneputzen bemerkte ich mich plötzlich im Kosmetikspiegel, müde und auf dem Weg in den Winter. Der Spiegel war drehbar, in Gedanken versunken spielte ich damit herum und drehte ihn dabei um die eigene Achse. Als ich wieder aufblickte, sah ich ein vergrößertes Gesicht, immer noch meines, aber es war nicht nur größer, sondern auch älter, denn nun entdeckte ich bei genauerem Hinsehen Falten und Flecken, die mir vorher nie aufgefallen waren. Es war wie ein gewaltiger Sprung. Beinahe vom Kind zum Erwachsenen. Eine Familie zu haben macht älter. Von Wiegenliedern und Weihnachtsweisen kriegt man Falten.
Vor dem Schlafengehen zog ich das oberste Kleid aus, das darunter getragene behielt ich die Nacht über an. Heute Morgen wachte ich früh auf, weil mir in dem neuen Kleid aus Wolle zu warm war, aber immerhin war es bei mir geblieben, und die wollene Unterwäsche, die ich mit ins Bett genommen hatte, ist auch noch da. Ich bin bereit für den Winter, und nach dem Frühstück machte ich mich daran, meine weitere Reise in den Norden zu planen.
Ich hatte mir überlegt, nach Norwegen zu gehen und eine Fähre zu nehmen, die mich die Küste hoch an einen Ort mit Schnee verfrachten könnte, und brachte den größten Teil des Tages damit zu, nach Schiffsverbindungen zu suchen, erst eine von Kiel, aber die hatten keine Abfahrten am achtzehnten November. Ich hätte am neunzehnten ablegen können, doch darauf kann ich nicht warten. Von Dänemark aus gab es zwei Verbindungen, eine schnelle und eine langsame. Die langsame fuhr nachts. Aber was passiert, wenn ich durch die Nacht reise? Kann eine Fähre durch den achtzehnten November fahren? Wird es dann der neunzehnte? Bewegt sie sich dann an ihren Ausgangspunkt zurück? Und ich, bewege ich mich dann mit ihr mit? Die Frage war kompliziert, und in dem Reisebüro, in dem ich mich erkundigte, konnte man mir nichts anderes sagen, als dass es um 18.30 Uhr eine Abfahrt gab. Die würde ich erreichen, wenn ich den Zug um elf nahm, dann könnte ich morgen früh in Norwegen sein. Am neunzehnten. Im Prinzip. Eigentlich gab es auch noch die Schnellfähre, aber ausgerechnet heute war sie abgesagt. Es hatte vor Kurzem einen Sturm über Norwegen gegeben, dabei war die Fähre beschädigt worden, mit ihr hätte ich Norwegen vor Mitternacht erreicht. Mir wurden mehrere Flugverbindungen angeboten, aber hmm, ich vertraue Flugzeugen nicht, schon gar nicht am achtzehnten November, und Auto fahre ich nicht, also entschloss ich mich für den Zug. Ich konnte nach Dänemark fahren und von dort aus weiter. Es wäre langsamer, aber nicht schwierig, und morgen früh nehme ich den Zug nach Norden. Ich sitze in meinem Hotelzimmer am Fenster, es ist Nachmittag, es ist bewölkt, und ich bin auf dem Weg in den Winter. Ich blicke die Straße hinunter, der Bahnhof ist nicht weit; wenn ich das Fenster öffne und mich hinauslehne, kann ich ihn sehen. Ich schaue über den Platz auf der anderen Straßenseite, wo man dabei ist, die Bäume mit Lichterketten zu schmücken. Die Straßenbahnen fahren vorbei, und ich kann ihre Geräusche hören, ihr Anfahren und Halten, ich kann einen grauen Himmel sehen und eine Kälte in der Luft spüren, anders als an dem verregneten Tag in Clairon, anders als an dem kühlen Novembertag in Paris, anders als der Herbst in Brüssel, denn es windet nicht, anders als an dem viel zu milden Nachmittag in Köln, hier hat die Luft eine gewisse Schärfe, was uns vielleicht sagen will, dass der Winter im Anzug ist.
Aber warum fahre ich nicht an einen wärmeren Ort? Nach Spanien oder Italien, auf eine griechische Insel, an einen ruhigen Strand. Ich müsste mir doch Sonne und Sommer wünschen nach so vielen Regentagen, aber ich will Winter. Ich wünsche mir Dezember und Januar. Ich wünsche mir ein Jahr, das anfängt. Ich wünsche mir winterliche Dunkelheit und Kälte, nicht nur Schauer und kühlen Sonnenschein, nicht nur milde Tage mit andauerndem Regen, nicht nur grauen Himmel und schneidende Luft.