# 877

Hilft es womöglich, dass ich mit einstimme, wenn ich die Nacht danke sagen höre? Wenn mein Fenster zum Hof offen steht und ich eine Mispel fallen höre? Ich denke, ich habe Glück, denn es hätten sich auch Katastrophen und Tragödien ereignen können, Krankheit und Not. Ich liege im morgendlichen Dunkel und denke danke, und wenn ich nicht mehr weiterschlafen kann, stehe ich auf.

Ich weiß es doch. Ich stehe in meinem goldenen Käfig auf, und gleich draußen liegt eine Welt voller Unruhe, ein schwarzes Quadrat. Ich weiß es, denn meine Welt ist vergoldet, und ich öffne mein Türchen und fliege hinaus. Nein, ich fliege nirgendwohin, ich bin gefangen, ich trage meinen goldenen Käfig mit mir herum, aber ich bin nicht blind. Ich sehe, dass mich eine andere Welt umgibt und dass mein angehaltener Tag nur ein winziges Unglück ist, das einem Monster in einem goldenen Käfig widerfahren ist.

Hilft es, wenn ich mit etwas Gold um mich werfe? Ein Mensch hat sich vor einem Supermarkt niedergelassen, ich reiche ihm eine Münze oder einen Geldschein. Ich gehe in einen Laden und kaufe eine Tüte mit Essen für eine kleine Familie, die auf dem Bahnhofsvorplatz sitzt. Sie finden Kekse und Sandwichs in der Tüte, und am nächsten Tag sitzen sie wieder da mit ihrem Schild, einer Bitte um Hilfe. Heute bekamen sie einen Geldschein, und morgen sind sie wieder da, dann hole ich ihnen im Bahnhof belegte Brote, und danach gehe ich nach Hause und sitze in meinem Sonnenschein, und ich wache wieder auf, ein Monster in einer Welt aus Orange und Gelb.

Eine Frau steht verwirrt an einem Gerüst. Sie weiß nicht, wo sie ist, die Sonne scheint ihr ins Gesicht, sie kommt nicht von der Stelle. Ihr Haar ist weiß, es leuchtet, sie klammert sich an ein Metallrohr. Ich reiche ihr den Arm und helfe ihr aus dem Metallgestell, ich führe sie zu einem Stuhl des nächstgelegenen Cafés, bestelle ein Glas Orangensaft, und kurz darauf fällt ihr der Name des Pflegeheims ein, das sie eben verlassen hat. Ich begleite sie nach Hause, und am nächsten Tag steht sie wieder da. Sie schaut sich verwirrt um, sie geht langsam los, ich folge ihr, sie geht zum Pflegeheim, sie geht in die richtige Richtung, ich halte Abstand, sie ist fast da, und dann bleibe ich stehen und lasse sie gehen. Sie wird kleiner und kleiner, sie findet selber den Weg, sie braucht mich nicht, vielleicht befindet sie sich schon auf dem Weg aus dem achtzehnten heraus, in den neunzehnten hinein. Vielleicht bin ich es, die verloren ist, vielleicht sind sie alle auf dem Weg in die Zukunft, in den neunzehnten, den zwanzigsten, vielleicht sind sie weitergegangen und haben mich mit den Schatten zurückgelassen, und ich bin die Einzige, die sie kleiner werden sieht, den Mann vorm Supermarkt, die kleine Familie vorm Bahnhof, meine geschäftige Vermieterin, den Strom der Fußballfans, vielleicht sind sie alle längst weitergegangen, und ich stehe hier unter Gespenstern, Hüllen der Wiederholung, Abdrücken eines Tages, der längst vorbei ist, und ich laufe herum und glaube, ich könnte helfen, mein Käfig wäre golden, ich könnte eine Hand hinausstrecken.

Ich denke an Thomas im Haus, an die Reihe Porree, die nie kürzer wird. Vielleicht ist er ohne mich weitergegangen, Tag für Tag, 877 Tage. Meine Eltern in ihrem Haus, der Quittenbusch im Garten. Die Quitten, die längst aufgesammelt sind, und der Busch ist weitergewachsen, er ist durch den Winter gekommen und das Frühjahr mit roten Blüten und wieder gelben Früchten und durch noch einen Winter.

Sind sie vor mir weggelaufen? Keine Ahnung, aber so fühlt es sich nicht an: wie ein Leben unter Schatten. Ich lasse den Gedanken auf sich beruhen. Es ist nur die Zeit, die stehen geblieben ist. Ich sitze im Hof im Sonnenschein, bald schiebt sich die Sonne hinter den Kirchturm, das Sonnenlicht verschwindet, es wird kühl, und ich verziehe mich nach drinnen.