2. KAPITEL

Suffolk, November 2002

Am Freitag waren die Kinder wieder putzmunter, und am Samstagmorgen brachen die Hutchinsons nach Suffolk auf. Der Nieselregen, der sie während der ganzen Fahrt begleitete, ließ erst gegen Mittag nach; als sie von der Küste ins Landesinnere Richtung Halesworth abbogen, drang ein blasser Sonnenstrahl durch die Wolkendecke.

Kurz vor dem Neubaugebiet am Ortsrand verringerte Kate das Tempo und folgte der breiter werdenden Straße zur Ortsmitte. Zwei Dutzend Cottages, einige davon strohgedeckt, standen um eine kleine Grünfläche. Im Sommer blühte es hier üppig, aber jetzt sahen die Häuser verlassen aus und die Gärten nass und trostlos. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte die Kirche aus dem 14. Jahrhundert aus dem Nebel. Sie fuhren weiter, vorbei an der Grundschule, einem viktorianischen Backsteinbau, der Post, einigen kleinen Läden und zwei Pubs. Eins von ihnen warb mit Livemusik jeden Freitagabend, das andere mit Hausmannskost täglich außer montags. Kate erinnerte sich daran, dass ihre Schwiegermutter Joyce ihr erzählt hatte, dass die Pubs zwei Brüdern gehörten. Offenbar lebten sie hier alte Rivalitäten aus. Kate lächelte und spürte, wie der Druck der Woche langsam von ihr abfiel.

»Muuuum, sind wir endlich da?« Daisy hatte diese Frage in den letzten zwanzig Minuten bestimmt zwanzigmal gestellt.

»Ja«, antwortete Kate gut gelaunt, als sie in eine kleine Straße einbogen. »Jetzt sind wir da!« Sie parkte vor dem einzigen Haus, einem großen strohgedeckten Cottage mit einem weißen Lattenzaun davor. Aus dem Schornstein kringelte sich Rauch. Eine richtige Bilderbuchidylle. Kate liebte es.

Als sie aus dem Wagen stieg, um die Türen zu öffnen, wäre Kate fast über ein bellendes schwarz-weißes Bündel gestolpert. Bobby, Joyce’ Cockerspaniel, war außer sich vor Freude über ihren Besuch.

Hinter dem aufgeregten Hund und den ausgelassen hüpfenden Kindern sah sie Joyce gemessenen Schrittes durch den Garten auf sie zukommen. Simons Mutter war eine große Frau Ende sechzig. Sie trug einen eleganten weißen Pulli mit Polokragen zum marineblauen Rock und eine silberne Kette. Dazu passende Ohrringe blitzten unter ihrem kurzen grauen Haar hervor.

Joyce legte den Arm um Simon, der gerade den Kofferraum öffnete, und küsste ihn.

Er macht ein Gesicht wie ein kleiner Junge, der es nicht leiden kann, von seiner Mutter gedrückt zu werden, dachte Kate nicht zum ersten Mal. Als sie Joyce umarmte, bedauerte sie einen Moment, dass sie ihre eigene Mutter nie so umarmen konnte, denn Barbara Carter hielt nichts von Zärtlichkeitsbekundungen. Sogar Daisy und Sam hatte sie als Babys immer so gehalten, als befürchtete sie, sie fallen zu lassen.

»Hattet ihr eine gute Fahrt?«, fragte Joyce. Sie drehte sich zu Daisy und Sam um, die sich darum stritten, wer als Erster von ihrer Granny umarmt werden würde. »Kinder, ich habe doch Platz für euch beide«, rief sie und schloss sie fest in die Arme.

»Granny, wir haben dir Pralinen mitgebracht. Darf ich eine haben?«, rief Sam.

»Wie lieb von euch! Kommt herein. Das Mittagessen ist fertig, danach dürft ihr Schokolade haben, Liebes. Simon, kannst du vielleicht später auspacken? Die Suppe wird sonst kalt.«

»Es dauert nicht lange, Mutter.«

»Aber es fängt schon wieder an zu regnen, und du hast keine Jacke an.« Tatsächlich fing es in diesem Moment an zu schütten. Hastig schob Kate die Kinder ins Haus, während Simon mit starrsinniger Miene die Taschen auslud. Seltsam, wie schnell Joyce und Simon in alte Verhaltensmuster zurückfallen, dachte Kate; sie spielt die Rolle der überfürsorglichen Mutter, und er setzt störrisch seinen eigenen Kopf durch.

»Ich hole dir wenigstens einen Schirm«, hörte sie Joyce sagen. »Und pass auf die Pfütze auf.«

Schulterzuckend ging Kate durch die Diele in das große Wohnzimmer, während die Kinder nach oben liefen, um alles genau zu inspizieren.

Paradise Cottage war der ideale Rückzugsort für ein gemütliches Winterwochenende. Im Wohnzimmer standen bequeme schwere Sessel um ein loderndes Kaminfeuer. Es roch nach Apfelbaumholz und Lavendelpolitur. Kate setzte sich einen Moment und betrachtete die alten Holzbalken, die chinesischen Porzellanfiguren auf dem Kaminsims und die Drucke und Fotografien an den Wänden. Sie konnte die Schritte der Kinder über sich hören und das bedächtige Ticken der Wanduhr. Ein richtiges Zuhause, dachte sie, und Bobby, der sich auf den Teppich vor dem Kamin fallen ließ, als sei er völlig erschöpft, schien ihr zuzustimmen.

Und mit einem Mal begann ihr eigenes Leben zu verblassen, das dunkle Haus in Fulham, die stark befahrene Hauptstraße, die quietschenden Bremsen der Laster, die Abgase der Autos, der schmutzige Regen, der nach Eisen und Ruß roch, ihr trostloses Büro mit dem grellen Neonlicht … Ein Holzscheit rutschte ächzend von dem brennenden Stapel, Funken sprühten auf.

»Wenn ich in so einem Haus wohnte, könnte ich endlich wieder ich selbst sein«, flüsterte sie Bobby zu, doch noch während er zustimmend mit dem Schwanz wedelte, befielen sie wieder Zweifel. Woher sollte sie wissen, wie es wirklich war, hier zu leben und nicht nur in den Ferien hier zu sein? Würde sie das Stadtleben nicht schrecklich vermissen? Vor allem ihren Job. Schließlich definierte sie sich nicht zuletzt über ihren Beruf. Was wäre, wenn sie ihn plötzlich nicht mehr hätte? Ihre Gedanken kreisten unentwegt.

Simon hat Recht. Wir müssen eine Liste mit Vor- und Nachteilen erstellen, überlegte Kate. Doch gerade da streckte Joyce den Kopf zur Tür herein, um sie zum Essen zu rufen.

»Wir waren doch noch nie in Norwich, oder?«, meinte Simon unternehmungslustig, als sie nach dem Mittagessen noch eine Tasse Kaffee tranken. »Es ist erst halb zwei. Wie wär’s mit einer kleinen Spazierfahrt im Auto bei dem ungemütlichen Wetter? Mutter, was sagst du dazu?«

»Es gibt dort ein Schloss«, versuchte Joyce die wenig begeisterten Kinder zu motivieren. »Und einen großen Marktplatz.«

»Ich komme nur mit, wenn ihr mir etwas kauft«, maulte Sam. Als er sah, dass seine Großmutter das Gesicht verzog und die Pralinenschachtel, die sie gerade herumreichte, enttäuscht zurückzog, fügte er rasch hinzu: »Also gut.«

Es erwies sich als Albtraum, an einem Samstag so kurz vor Weihnachten in Norwich einen Parkplatz zu suchen. Schließlich fanden sie aber doch noch eine Lücke ganz in der Nähe der Kathedrale. Sie beschlossen, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Joyce führte sie durch den schlichten gotischen Bau aus normannischem Sandstein. Daisy und Sam rannten ausgelassen durch die langen Kreuzgänge – sie ignorierten Kates Versuche, ihr Interesse für die farbigen Bossenquader am Deckengewölbe zu wecken, vollkommen. Simon sah sich unterdessen die Schatzkammer an. Als Joyce mit den Kindern im angrenzenden Shop verschwand, schlenderte Kate noch ein wenig allein umher. Sie las die Inschriften auf den Grabsteinen längst verstorbener Bischöfe, ließ ihre Finger über das kunstvoll geschnitzte Chorgestühl gleiten und lauschte der mächtigen Orgel über ihr. Auf der modernen Glastür am Eingang zu der kleinen Kapelle gleich neben dem Südportal standen zwei Zeilen aus einem Gedicht von T.S. Eliot: Greif nach der Stille/Am Ruhepol der bewegten Welt.

Genau da bin ich heute, dachte Kate. An einem Ruhepol. Da, wo man nachdenken und die Antworten auf drängende Fragen finden kann. Oder auch nicht.

Sie folgte den anderen in den Laden und entdeckte ein Lesezeichen mit den Worten der mittelalterlichen Mystikerin Juliana von Norwich: Alles wird gut werden, und alle Dinge jeglicher Art werden gut werden. Kate kaufte es, in der Hoffnung, dass die Heilige Recht hatte.

Als Simon und seine Mutter mit den Kindern das Schloss besichtigten, brach Kate allein zu einem Stadtbummel auf. Sie verabredeten, sich später am Marktplatz wieder zu treffen.

Kate überquerte eine Hauptstraße und tauchte in ein Gewirr kleiner Gassen ein. Das gleichförmige Geläut der Kathedrale durchdrang die kühle Luft des späten Nachmittags. Fast eine Stunde lang spazierte Kate an windschiefen Häusern vorbei, an Steinkirchen und unzähligen Pubs mit seltsamen Namen. Sie überquerte den Fluss, betrachtete die Schiffe und die alten Lagerhäuser an den Ufern und war so fasziniert, dass sie den kleinen Antiquitätenladen an einer der Straßenecken fast übersehen hätte. Ein im Schaufenster ausgestellter Teller mit schwarzen und orangefarbenen ägyptischen Ornamenten erregte ihre Aufmerksamkeit. Daneben stand eine nackte Nymphe mit einer Fackel in der Hand.

Kate spähte durch die staubige Scheibe ins Innere des Geschäfts und musste unwillkürlich an das Buch über die Zwanzigerjahre denken, an dem sie gerade gearbeitet hatte. Sie entdeckte ein Clarice-Cliffstyle-Teeservice, hinten an der Wand standen eine Art-déco-Garderobe und eine -Frisierkommode. Der Laden schien auf Kunstgewerbe aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren spezialisiert zu sein.

Die Schmuckauslage war es schließlich, die sie bewog, hineinzugehen. In einem Glaskasten waren ein wunderschönes Armband, dessen schwarz emaillierte viereckige Glieder ein zartes russisches Muster in Rot und Gold trugen, große Plastikohrringe und klotzige Ringe ausgestellt. Ein silberner Anhänger an einer verhedderten Kette kam Kate seltsamerweise vertraut vor. Auf dem Oval war das reliefartige Bildnis eines jungen Mädchens mit wallenden Haaren zu sehen. Auf seiner Handfläche saß eine Taube.

Als Kate die Tür aufstieß, ertönte ein feines Klingeln, aber niemand kam. Nach einer Weile wurde im hinteren Teil des Ladens eine Tür zugeschlagen, und ein junger Mann erschien mit einem angebissenen Apfel in der Hand. Er lächelte schüchtern, als Kate auf den Schaukasten zeigte.

»Darf ich?«, fragte sie und nahm den Anhänger heraus, als der junge Mann nickte. Es war ein Medaillon von der Größe einer Fünfzig-Pence-Münze. Als sie das Schmuckstück herumdrehte, stellte sie fest, dass der rückwärtige Teil fehlte. Im Inneren des verbliebenen Deckels steckte die vergilbte Fotografie einer Frau. Offenbar war das Scharnier gewaltsam aufgebrochen worden. Erneut betrachtete Kate die Vorderseite. Sie fuhr mit dem Daumen über das Relief. Es war ein wenig grob gearbeitet, aber irgendetwas an dem Mädchen – ihre Ernsthaftigkeit, die Verbundenheit mit dem Vogel in ihrer Hand – berührte Kate zutiefst. Die Kette, an der das Medaillon hing, war noch vollkommen intakt, ebenso der Verschluss.

Kate warf einen Blick auf das Preisschild – fünfundzwanzig Pfund. Das Medaillon war wunderschön, auch wenn es kaputt war. Plötzlich wollte sie es unbedingt haben. Sie würde es sich selbst schenken. Sie mochte Silberschmuck, er passte gut zu ihrer blassen Haut. Auch ihr Ehering war nicht aus Gold, sondern aus Platin.

Kate wandte sich an den jungen Mann. »Wissen Sie etwas über dieses Medaillon? Über seine Geschichte, meine ich?«

Er schüttelte den Kopf und warf das Kerngehäuse seines Apfels in den Abfalleimer. »Da müssen Sie meine Mutter fragen. Ich bin nur aushilfsweise hier im Laden.«

Kate musste sich schnell entscheiden. Die anderen würden bereits auf sie warten.

»Ich nehme es«, sagte sie und sah zu, wie der junge Mann es umständlich in Seidenpapier einwickelte.

Auf dem Weg zum Marktplatz konnte Kate nicht widerstehen – sie packte das Schmuckstück aus und streifte sich die Kette über den Kopf. Es fühlte sich kalt und schwer an auf ihrer Haut. Sie hatte den jungen Mann nach dem Weg gefragt und beeilte sich, um nicht allzu spät zu kommen.

Als Kate in jener Nacht in Paradise Cottage an Simon geschmiegt in dem großen Mahagonibett unter der Dachschräge lag, hatte sie einen Traum. Sie träumte, sie spazierte an einem wunderschönen Sommertag durch einen Garten, der von einer italienisch anmutenden Steinmauer umgeben war. Eine sanfte Brise streichelte ihr Gesicht. Vor ihr stand ein schönes Haus aus rotem Backstein mit großen Schornsteinen. An den Mauern rankten üppig blühende Glyzinen empor. Neben dem Haupthaus befand sich ein Gewächshaus; an einer der Wände wuchs eine Weinrebe bis zum Dach.

Die Flügeltüren in der Mitte des Hauses standen weit offen. Kate ging die vier Stufen zur Terrasse hinauf und sah in einen Wohnraum. Ein Tisch stand dort mit Stühlen, deren blauer Bezug verschossen war, ein blank polierter Flügel und ein Kamin. Sie drehte sich wieder zum Garten um und ließ den Blick über die duftenden Blumen, die Steinfiguren und den kleinen plätschernden Springbrunnen schweifen. Das seltsames Kreischen von Pfauen übertönte den Gesang der Vögel. Während sie dastand und wartete – worauf nur? –, veränderte sich das Licht, und der schöne Sommertag neigte sich dem Ende zu. Der Himmel färbte sich rotgolden, der Gesang der Vögel wurde leiser. Das Traumbild verblasste und begann vor ihren Augen zu zerfließen. Kate empfand ein schmerzliches Gefühl von Verlust.

Plötzlich wachte sie auf. Es war dunkel, und sie benötigte einen Moment, ehe sie wusste, wo sie war. Sie lag ganz still, lauschte auf das Knarren der Holzbalken und den Regen, der auf das Dach prasselte. Kate dachte an ihren Traum. Das Haus war ihr so vertraut erschienen, wie ein Zuhause. Und dennoch war sie ganz sicher, dass sie noch nie dort gewesen war. Vielleicht hatte sie es auf einem Foto oder in einem Film gesehen, und ihre Überlegungen, ein neues Haus zu kaufen, hatten aus den Erinnerungsfetzen ihres Unterbewusstseins diese Idealvorstellung eines idyllischen Heims erzeugt. Ein Wunschtraum also.

Kate versuchte vergeblich, wieder einzuschlafen. Eine Weile wälzte sie sich unruhig hin und her, dann stand sie leise auf. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, dem Lichtschein entgegen, der durch einen schmalen Spalt vom Flur ins Zimmer fiel.

Sie huschte in das Zimmer der Kinder. Sam und Daisy schliefen friedlich; das sanfte Licht fiel auf ihre Gesichter. Kate bückte sich, um Daisys Plüschhund aufzuheben, der zu Boden gefallen war. Als sie ihn in die Armbeuge des kleinen Mädchens zurücklegte, öffnete Daisy verwirrt die Augen, schlief jedoch sofort weiter. Kate sah ihren Kindern eine Weile zu. Ich liebe sie am meisten, wenn sie schlafen, dachte sie plötzlich. Vielleicht, weil sie dann so unschuldig und schutzbedürftig aussehen. Sie und Simon sind das Wichtigste in meinem Leben. Wie kann ich sie nur jeden Tag so lange allein lassen? Kate setzte sich ans Fußende von Sams Bett und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie überlegte, was mit ihr los war. In letzter Zeit weinte sie wegen jeder Kleinigkeit.

Wieder sah Kate das Haus aus ihrem Traum vor sich. Sie dachte über ihr Leben nach und darüber, wie es wäre, es ganz neu zu gestalten. Erst als ihr kalt wurde, ging sie in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie fühlte sich seltsam beschwingt. Als sie mit der Hand nach dem Bett tastete, berührte sie etwas Kaltes, Hartes auf dem Nachttisch. Das Medaillon. Die Finger fest um den Schmuck geschlossen, schlüpfte sie wieder unter die Decke. Ihre Gedanken kreisten um ihre Kinder, das Haus und das Medaillon. Was sollten sie bloß tun?

»Simon?«, flüsterte sie, als sie ihn seufzen hörte. Lag er vielleicht auch wach?

»Hm?«

»Wir denken doch über einen Umzug nach, nicht? Hier in dieser Gegend könnten wir uns sicher ein großes Haus leisten, oder?«

Er brummte etwas Unverständliches, und bevor sie nachhaken konnte, war er schon wieder eingeschlafen.

Kate nahm sich fest vor, schon bald einige Immobilienmakler in Halesworth aufzusuchen und zu sehen, was sie anzubieten hatten. Anschauen konnte ja nicht schaden.

Als Kate am darauffolgenden Nachmittag alles für die Heimreise packte, warf sie ein Manuskript, das sie bis zum kommenden Morgen gelesen haben sollte, mit dem sie aber noch immer nicht fertig war, in Joyce’ Altpapiertonne. Diese winzige Geste der Rebellion erfüllte sie mit Genugtuung. Das Medaillon steckte sie in ein kleines Reißverschlussfach ihrer Reisetasche – und vergaß es, als der Alltagstrott zu Hause sie wieder eingeholt hatte.