10. KAPITEL

Mutter, ich will jetzt einfach nicht darüber reden!«, brüllte Simon. »Ich habe eine verdammt anstrengende Woche hinter mir. Ich will jetzt nur noch, dass Kate nach Hause kommt, und mit ihr in Ruhe und Frieden zusammensitzen.« Er blickte auf, als Kate die Tür öffnete und die Küche betrat. »Ah, da bist du ja. Wo um alles in der Welt warst du?«

Kate versuchte, sich ein Bild von dem zu machen, was sich im Haus ihrer Schwiegermutter abspielte. Simon war noch im Mantel, er sah müde und erschöpft aus. Ganz kurz sah sie in Joyce’ kummervolles Gesicht, bevor diese sich umdrehte und sich geräuschvoll mit dem Abwasch beschäftigte.

»Was für ein Empfang! Was ist los, Simon?« Kate bückte sich und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

»Es ist meine Schuld.« Joyce drehte sich um, in ihren Augen standen Tränen. »Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Komm, Kate, ich mache dir schnell einen Tee. Du musst fix und fertig sein. Wie geht es der armen Frau? Simon wollte dich abholen, aber ich habe ihm gesagt, du würdest nach Hause gebracht. Ich hoffe, ich habe alles richtig gemacht.«

Kate blickte von Mutter zu Sohn und wieder zurück. Das hatte ihr nach allem, was sie heute Abend hinter sich hatte, noch gefehlt. Sie hätte am liebsten selbst geheult.

»Ein Typ namens Dan hat mich gefahren«, antwortete sie so beherrscht wie möglich. »Ich glaube, er ist eine Art Mädchen für alles. Er will sich morgen früh nach Miss Melton erkundigen. Ich trinke jetzt schnell einen Tee, Joyce, dann würde ich gern ein heißes Bad nehmen. Ich erzähle dir gleich alles, Simon. Du siehst auch müde aus.«

In diesem Moment klingelte das Telefon. Joyce hob ab, dann reichte sie den Hörer an Kate weiter. »Dein Vater. Er hat vor ein paar Stunden schon mal angerufen.«

»Kate? Endlich!« Ihr Vater klang erleichtert. »Es geht um deine Mutter. Es geht ihr wieder gut, Gott sei Dank, aber sie muss noch eine Zeit lang im Krankenhaus bleiben, um sich zu erholen.«

»Was ist denn passiert, Dad? Was ist los?«

»Wir dachten, wir hätten ihre Trinkerei unter Kontrolle, aber dieses Mal hat sie ein paar alte Tabletten von mir geschluckt. Die hatte mir der Arzt letztes Jahr verschrieben, als ich diese Schlafstörungen hatte. Zum Glück waren es nicht viele. Die Ärzte im Krankenhaus haben ihr den Magen ausgepumpt. Aber sie darf vorerst nicht nach Hause. Ich dachte, das solltest du wissen.«

»Dad, das ist ja schrecklich! Arme Mum! Ich komme sofort zu euch.«

»Nein. Warte noch, bis sie sich wieder etwas gefangen hat. Ich glaube, im Moment möchte sie niemanden sehen, nicht mal mich. Sie … Sie hat sich regelrecht verkrochen. Ich rufe dich an, sobald sie wieder in besserer Verfassung ist, dann kannst du kommen.« Major Carter klang klar und entschieden. »Es tut mir leid«, fügte er etwas weicher hinzu.

Kate legte den Hörer auf die Gabel. Gedankenverloren stand sie da. Schon wieder war sie zurückgewiesen worden. Sollte sie sich einfach ins Auto setzen und trotzdem hinfahren? Nein, ihr Vater würde ärgerlich sein. Er und ihre Mutter hatten sich vor dem Rest der Welt verschlossen. Leider gehörte auch ihre einzige Tochter für sie zum Rest der Welt.

Sie erklärte den anderen, die sie neugierig ansahen, mit stockender Stimme, was los war.

»Komm, trink jetzt erst mal deinen Tee«, meinte Joyce. »Ich lasse dir in der Zwischenzeit ein Bad einlaufen.«

»Hat mit den Kindern alles geklappt?«

Joyce seufzte. »Sam hat das ganze Bad unter Wasser gesetzt, als er mit dem Krokodil getobt hat, das euer altes Kindermädchen ihm geschickt hat. Weißt du, ich finde, ein Klaps ab und zu würde ihm nicht schaden. Simon hat das jedenfalls gutgetan.«

»Nein«, erklärte Kate entschieden. Sie nahm ihre Tasse mit dem Tee und flüchtete in ihr Zimmer. Eine Auseinandersetzung über Erziehungsfragen würde sie an diesem Abend nicht mehr überstehen.

»Ich hätte nicht erwartet, dass es mit deiner Mutter wieder so bergab gehen würde«, sagte Simon später, als sie und Kate im Bett lagen.

»Ich wünschte, wir hätten sie überredet, uns häufiger zu besuchen. Vielleicht wird es besser, wenn wir erst ein eigenes Haus haben … Simon?«

»Ja?«

»Worüber habt ihr euch gestritten, als ich nach Hause kam?«

»Oh, Mum hat mir vorgeworfen, dass ich zu selten zu Hause bin, mich zu wenig um die Kinder kümmere und mit der Haussuche nicht vorankomme. Irgendwie wird sie plötzlich zickig. Sie meint, sie hätte uns gern hier, aber wir müssten uns allmählich etwas Eigenes suchen.«

»Das sollten wir auch tun. Wir sind schon viel zu lange hier. Ich stelle immer häufiger fest, dass wir ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Kindererziehung haben. Übrigens habe ich heute ein wunderschönes Haus gesehen, Simon. Das von Miss Melton. Und weißt du was? Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber ich bin mir sicher, es war das aus meinem Traum.«

Simon drehte sich zu ihr und sah sie erstaunt an. »Dann musst du es schon mal gesehen haben. Du kannst doch nicht von etwas träumen, was du noch nie gesehen hast. Es sei denn, du hast den Kindern zu viele Märchen vorgelesen.«

Kate lachte. »Kann schon sein. Aber ich hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl dabei.« Ihr fiel plötzlich das Medaillon ein. Sie stand auf und wühlte in ihrer Schmuckschatulle. Dann erinnerte sie sich. Sie hatte das Medaillon in einen Karton gesteckt, der jetzt im Gartenhaus stand. Sie ging zurück ins Bett. Dieses Foto im Schlafzimmer der Frau – es war alles so verwirrend.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich Miss Melton am Wochenende besuche?«, fragte sie Simon. »Das heißt, wenn sie überhaupt Besuch haben darf.«

»Warum nicht? Was haben die Kinder morgen vor?«

»Sam braucht dringend ein Paar neue Schuhe. Und Daisy hat um halb zwei Reitstunde. Ich werde mich erkundigen, wann die Besuchszeiten im Krankenhaus sind.« Kate rollte zu Simon herüber, streichelte sein Gesicht und schmiegte den Kopf an seine Halsbeuge.

»Hm.« Er schloss die Augen. Er rückte nicht weg, reagierte aber auch nicht. Sie war ein wenig gekränkt. Aber er war sicher unendlich müde, wie immer in letzter Zeit. Sie lagen ein paar Minuten schweigend da, dann befreite Simon sich aus ihrer Umarmung und schaltete das Licht aus.

»Gute Nacht, Liebes«, sagte er gähnend und zog sich die Decke über die Schultern.

»Gute Nacht.« Kate schaute im Dunkeln auf seinen Rücken. Auch sie war entsetzlich müde, aber sie lag noch lange wach und dachte an das, was an diesem Abend geschehen war. Meilenweit von ihr entfernt lag ihre Mutter in einem Krankenhausbett. War es nur ein Hilferuf gewesen, dass sie die Tabletten geschluckt hatte, oder wollte sie tatsächlich sterben? Sie habe sich in sich selbst verkrochen, hatte ihr Vater gesagt. So etwas hatte Barbara noch nie versucht. Wie kam sie nur dazu? Und hätte ihr Vater nicht eher spüren müssen, dass eine Katastrophe bevorstand?

Der Gedanke an das Krankenhaus brachte sie wieder zu Miss Melton. Hoffentlich hatte Dan gute Nachrichten. Kate wollte die alte Dame unbedingt wiedersehen, schon allein um das Geheimnis zu enträtseln, das sich um das Haus und das Foto rankte. Es musste irgendeine Familienbeziehung geben. Kate dachte unwillkürlich wieder an ihre Mutter.

Und dann war da noch Simon. Sanft strich sie ihm im Dunkeln übers Haar. Er regte sich nicht. Der Arme war völlig erschöpft. Sie mussten dringend ein Haus finden, notfalls zur Miete. Und sie würde wegen seines Jobs mit ihm reden. So konnte ihr Leben nicht weitergehen.

Wie merkwürdig sich alles entwickelt hatte, wie kompliziert alles war. Vor dem Umzug hatte sie geglaubt, vieles würde einfacher werden und sie würden bald ein idyllisches neues Zuhause haben. Sie hatte sich Sorgen gemacht, die Kinder könnten Probleme haben, sich umzugewöhnen, die Freunde würden ihr fehlen, ihr Job. Aber die Kinder schienen sich in ihrer neuen Umgebung wohlzufühlen. Und ihr Mann fehlte ihr mehr als ihre Freunde und ihr Job.

Dreißig Meilen entfernt im Krankenhaus von Great Yarmouth schlief Miss Melton tief und fest. Die Überwachungsmonitore neben ihrem Bett blinkten ruhig vor sich hin. In ihrem Traum war sie wieder ein kleines Mädchen. Das Kindermädchen rief sie.

»Agnes, Agnes! Komm raus da, du weckst sie sonst auf.«

Agnes stand neben dem Himmelbett und fragte sich, warum ihre Mutter mitten am Nachmittag schlief. Eine Krankenschwester schwebte ins Zimmer, und ihre Mutter öffnete kurz die Augen. Sie griff nach ihrer Hand.

»Komm her, Liebling. Komm und kuschel mit mir.« Die kleine Agnes kletterte in das hohe Bett und schmiegte sich in die warmen Arme ihrer Mutter. Sie roch nach Maiglöckchen, und Agnes fühlte sich sicher und geborgen.

An diesem Nachmittag fühlte sie sich zum letzten Mal für lange Zeit sicher und geborgen.