28. KAPITEL

Die Kirche von Seddington, ein auf einer Anhöhe gelegener rechteckiger Bau mit niedrigem Turm, war Kate vertraut. Zu Agnes’ Beerdigung an diesem Freitag betrat sie jedoch zum ersten Mal das Innere von St. Mary. Durch die bunten Glasfenster fiel gedämpftes Licht auf die etwa zwanzig Trauergäste, die still auf den Holzbänken saßen und warteten.

Der Sarg, der über und über mit Blumen bedeckt war, stand neben dem Altar, eine ältliche Dame entrang der kleinen Orgel ein paar angemessen kummervolle Töne. Kate wollte sich gerade in eine leere Bank in der Mitte setzen, als sie Dan entdeckte, der im dunklen Anzug neben Marie Summers saß. Rasch schlüpfte sie in die Reihe neben ihm.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Dan ihr zu. »Sind Sie sehr nervös?«

»Ein bisschen«, gestand sie und warf einen raschen Blick auf die Bibel neben sich. Reverend Mike Davies, der Pfarrer, hatte ihr vorgeschlagen, die Lesung vorzutragen. Es sei ein Text, in dem Agnes immer viel Trost gefunden habe, hatte er gesagt, eine Passage aus dem Brief von Paulus an die Römer über das Wirken des Heiligen Geistes. Wir wissen, dass sich für diejenigen, die Gott lieben, alles zum Guten wendetDie Parallele zu Juliana von Norwich war Kate sofort aufgefallen: Alles wird gut werden, und alle Dinge jeglicher Art werden gut werden. Dieser Satz zog sich wie ein unterirdischer Wasserlauf durch ihr und Agnes’ Leben.

Kate sah sich um, und ihr Blick traf den von Max, der ein paar Reihen weiter saß. Wer wohl die anderen Trauergäste waren? Sicher waren die meisten Dorfbewohner. Eine elegant gekleidete ältere Dame im marineblauen Kostüm saß allein im hinteren Teil der Kirche und blätterte in einem Taschenkalender. Ob das Marion war, die Cousine ihrer Mutter? Sie hatte Kate am Dienstag zurückgerufen und versprochen, zur Beerdigung zu kommen.

Raj Nadir war ebenfalls da. Er hatte einen abgetragenen schwarzen Anzug an, der vermutlich für die Beerdigungen seiner Mandanten reserviert war. Leise unterhielt er sich mit einer hageren, sehr streng aussehenden Frau mit aschblondem Bob. Sie nickte und gestikulierte beim Sprechen heftig mit den Händen. Ansonsten gab es noch ein paar offenbar recht wohlhabende ältere Herren in dunklen Straßenanzügen und einige Frauen, die vermutlich aus dem Ort stammten. Schweigend warteten sie auf den Beginn der Zeremonie.

Die Kirchentür öffnete sich, und einer der Bestatter kam herein. Er gab dem Pfarrer ein Zeichen. Mr Davies flüsterte der Organistin etwas zu, und die kummervollen Orgelklänge erstarben mitten im Takt. Dann setzte die Orgel erneut ein, die Melodie von Bleib bei mir, Herr ertönte, und die Versammelten erhoben sich.

Auch Kate war aufgestanden, aber sie war zu bewegt, um zu singen. Eine dicke Träne tropfte auf ihr Gesangbuch. Sie und Max hatten dieses Lied ausgewählt, weil Marie Summers gesagt hatte, es sei eines von Agnes’ Lieblingskirchenliedern gewesen. Kate hatte nicht gesagt, dass es auch auf der Beerdigung ihrer Schwester Nicola gesungen worden war. Sie zwickte sich fest in die Hand, in der sie das Gesangbuch hielt, um nicht völlig die Fassung zu verlieren.

Die Trauerfeier war kurz und schlicht. Max las eine Passage aus Psalm 121, dann ging Kate zum Lesepult. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie ihren kurzen Text vorlas, aber sie hielt bis zum Ende durch. Anschließend sprach der Pfarrer noch einige bewegende Worte und dankte Gott für das lange Leben dieser warmherzigen und tapferen Frau.

»Sie hat so früh in ihrem Leben so viele Menschen verloren, die ihr nahe standen«, sagte er. »Nun danken wir Gott, dass er sie mit ihnen vereint hat.«

Kate hörte mit gesenktem Kopf zu. Der Reverend hatte Recht. Diese Trauerfeier war vor allem der Dank für ein langes, erfülltes Leben. Trotzdem vermisste sie Agnes.

Anschließend folgten sie dem Sarg in den warmen Sonnenschein hinaus. Auf dem Kirchenfriedhof befanden sich bereits einige Gräber der Familie Melton.

»… in sicherer Erwartung der Auferstehung zum ewigen Leben …« Laut und deutlich erklang die Stimme des Pfarrers, während Kate ein paar Rosenblätter aus Agnes’ Garten in das offene Grab warf, sich ein letztes Mal verabschiedete und leise fortging. Sie wollte noch einen kurzen Abstecher zu den anderen Gräbern der Familie Melton machen, und schließlich stieß sie auf den Grabstein von Agnes’ Mutter. Unter der Inschrift für Evangeline und ihr tot geborenes Baby las sie: Gerald Maurice Melton, gest. 1943. Eine Vase mit frischen Rosen stand auf dem Grab – hatte Marie sie dorthin gestellt?

Später versammelte sich die Trauergemeinde in Seddington House. Der Tisch im Salon bog sich unter dem Gewicht von Sandwiches, Kuchen und anderen von Marie Summers zubereiteten Leckereien.

Kate half, Sherry auszuschenken, dann ging sie hinaus in den Garten, um sich ein wenig mit Marion zu unterhalten. Sie musste bereits Anfang sechzig sein, wirkte aber wesentlich jünger. Ihre Stimme war der von Kates Mutter sehr ähnlich, allerdings war Marion offenbar an lautes Jagdgeschrei gewöhnt.

»Ich habe gerade erfahren, dass du das Haus kriegst«, trompetete sie. »Was für ein Glücksfall! Na ja, besser du als ich – es ist ein ziemlicher Kasten, nicht? Du wirst doch wohl nicht darin wohnen wollen, oder? Ich muss sagen, ich war ein bisschen überrascht, dass sie es dir vererbt hat. Ich dachte immer, dieser junge Mann, der Enkel ihres Bruders, käme an erster Stelle. Aber Agnes hatte schon immer einen eigenen Willen.«

Kate wusste nicht so recht, was sie auf diese deutlichen Worte sagen sollte. Sie zog es vor, das Thema zu wechseln und über Familienfeste zu sprechen. Im nächsten Moment bereute sie es. Taktgefühl gehörte offenbar nicht zu Marions Stärken.

»Natürlich habe ich Barbara seit deiner Hochzeit nicht mehr gesehen. Eine Schande! Wir haben so häufig zusammen Ferien gemacht, als wir klein waren. Barbara und ihr armer Bruder Kenneth waren oft bei uns in Woodbridge. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber sie hat sich nach ihrer Hochzeit ziemlich verändert. Sie ist viel besonnener geworden. Und nachlässiger. Ganz anders als mit zwanzig. Damals war sie eine Wucht, das sage ich dir. Aber dein Vater – ich habe mich immer gewundert, dass Barbara sich so einen ruhigen Mann ausgesucht hat.«

Kate sah Marion erstaunt an. Wie viel wusste Marion über die Ehe ihrer Eltern?

»Dann kam diese schreckliche Geschichte mit deiner Schwester«, fuhr Marion fort. »Danach wollten sie nichts mehr mit uns zu tun haben. Sie haben sich völlig zurückgezogen. Wir haben sie zu Tiggys Hochzeit eingeladen, das ist unsere Älteste, aber sie sagten, es sei ihnen zu weit. Dabei wohnen wir doch bloß in Suffolk.« Sie zuckte mit den Schultern. »Weihnachten schreiben wir uns regelmäßig eine Karte, aber das ist alles. Wie geht es Barbara jetzt?«

Kate erklärte ihr, dass es mit ihrer Mutter auf und ab ging, und blieb absichtlich vage. Sie sah, dass Dan sich mit Max unterhielt. Max hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und Dan hatte sich leicht zur Seite gedreht und schaute in den Garten. Was hatten sie sich zu sagen?

»Ich glaube nicht, dass man je über den Verlust eines Kindes hinwegkommen kann«, meinte Marion und stürzte ihren Sherry hinunter. »Schrecklich, wirklich.«

»Weißt du«, fragte Kate plötzlich, »ob Agnes ein Kind hatte?«

»Agnes?« Marion lachte. »Du meine Güte, nein. Sie war eine alte Jungfer, als ich sie kennen lernte. Es gab Gerüchte über einen Mann, dem sie einen Korb gegeben haben soll, einen älteren Mann – ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so etwas gemacht hätte. Aber Menschen überraschen einen immer wieder, nicht?«

Kate beobachtete, wie Dan mit gesenktem Kopf ins Haus ging, dann kam Max auf Marion zu, um sich vorzustellen. Kate nutzte die Gelegenheit zu entschwinden und lief geradewegs in Raj Nadirs Arme.

»Kate, ich möchte Sie gern mit Ursula Hollis vom Auktionshaus Farrell’s bekannt machen.« Kate schüttelte der großen, hageren Frau, die in der Kirche neben Raj gesessen hatte, die Hand.

»Ich habe Ursula von Agnes’ Sammlungen erzählt«, sagte Raj. »Sie kann Ihnen behilflich sein, wenn Sie das eine oder andere Stück schätzen lassen möchten.«

»So ist es.« Ursula wirkte sehr interessiert. »Ich habe Agnes gekannt. Ihre Sachkenntnisse über englische Miniaturen aus dem 18. Jahrhundert waren ganz erstaunlich. Agnes hat uns vor einigen Jahren gebeten, einige ausgewählte Gegenstände für sie zu bewerten, aber natürlich müssten wir jetzt etwas genauer arbeiten. Es wäre uns eine Ehre, Ihnen in jeder nur erdenklichen Weise behilflich zu sein.«

»Danke.« Kate nahm die Visitenkarte, die Ursula ihr reichte. »Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald alles vorüber ist. Natürlich hat niemand erwartet, dass Agnes ewig lebt, aber dass sie so plötzlich gestorben ist, ist ein Schock für uns. Nicht zuletzt dieses Erbe.«

Sie lächelte noch einmal höflich, dann gesellte sie sich zu den anderen Gästen. Drei ältere Männer entpuppten sich als ausgewiesene Kenner der Kunst- und Antiquitätenszene – ein ehemaliger Professor aus Cambridge, ein pensionierter Experte von Sotheby’ s, der dritte ein italienischer Kunsthändler, der sich zufällig auf Geschäftsreise in England befand und daher an der Beerdigung teilnehmen konnte. Alle würdigten Agnes als kundige Sammlerin und gratulierten Kate zum Erbe des Hauses. Kate war überrascht, wie viel Respekt diese Leute Agnes entgegenbrachten. Plötzlich wurde ihr klar, welch große Verantwortung ihr mit Agnes’ Sammlungen auferlegt worden war.

Die ersten Gäste begannen sich zu verabschieden. Kate sammelte ein paar leere Gläser ein und brachte sie in die Küche. Auf dem Rückweg traf sie Dan, der in der Diele ein kleines Gemälde betrachtete. Sie gesellte sich zu ihm.

»Das ist Dunwich«, sagte er. Das Bild zeigte die Überreste einer Kirche. Sie stand auf dem Rand einer Klippe vor einem Gewitterhimmel. Dan zeigte auf die Signatur. »Offenbar ein lokaler Künstler. 1890. Könnte einiges wert sein.« Er trat zurück und schaute sich in der vollgestellten Diele um. »Sie werden überrascht sein, wie viel das alles wert ist.« Er zeigte auf ein weiteres Gemälde, ein riesiges Stillleben. Die toten Vögel und Hasen waren kunstvoll gezeichnet, jede Feder, jedes Haar reflektierte das Licht. »Wunderschön – wenn man so etwas mag. George Woodstow. Seine Ölbilder bringen inzwischen so um die zwanzigtausend Pfund ein, manchmal sogar mehr.«

»Nein!« Kate schwirrte der Kopf.

Dan drehte sich zu ihr um und lächelte. »Ich bin froh, dass Ihnen alles gehören wird.« Er seufzte. »Agnes fehlt mir schon jetzt. Offenbar scheint das eine Woche der Verluste für mich zu sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Linda und Shelley sind ausgezogen«, antwortete er schlicht. »Erinnern Sie sich, als Sie am Montag bei mir waren? Nachdem die beiden wiederkamen und Shelley im Bett war, hatten wir einen furchtbaren Streit. Am nächsten Morgen sind sie gegangen.« Er schüttelte traurig den Kopf. Sein Gesicht war nicht zu erkennen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Kate. »Sie Armer. Und Linda. Und Shelley. Wo sind sie hingegangen?«

»Zu ihrer Mutter.«

In diesem Moment erschien Max in der Diele. »Der Pfarrer möchte sich gern verabschieden«, sagte er zu Kate, ohne Dan eines Blickes zu würdigen. Kate schaute rasch zu Dan, doch der nickte nur und trat zurück, um sie vorbeizulassen. Als Kate aus der Tür ging, spürte sie Max’ Hand auf ihrem Rücken.

Als sie mit dem Aufräumen fertig waren, war es schon spät. Kate fuhr los, um die Kinder bei Debbie abzuholen. Als sie dort eintraf, herrschte im Haus der Samsons das reinste Chaos.

»War es sehr schlimm?« Erschrocken schaute Kate in Debbies Wohnzimmer. Es sah aus wie ein riesiger Schlafsaal, weil die Kinder das ganze Bettzeug von oben heruntergeholt hatten.

»Sagen wir mal, sehr lebendig«, meinte Debbie. Sie sah erschöpft aus. »Sie sind eben schon in Ferienstimmung.«

»Tut mir leid.« Kate verzog das Gesicht. »Danke, dass du sie genommen hast.«

»Wie war es bei dir?«

Kate berichtete Debbie kurz vom Verlauf des Nachmittags. Am Ende erwähnte sie noch, wie wertvoll das Inventar von Seddington House offenbar war.

»Natürlich werde ich eine Menge Steuern zahlen müssen, aber es bleibt trotzdem noch einiges übrig. Ich kann gar nicht glauben, dass ich so viel erben soll.«

»Du wirst das Geld brauchen, wenn du dort leben willst«, meinte Debbie. »Die Renovierung wird ziemlich teuer werden.« Sie schob ein paar Kekskrümel zusammen und fragte vorsichtig: »Wie geht es mit Simon? Besser?«

Kate nickte. »Ja, aber es ist noch ein weiter Weg. Er hält es für keine gute Idee, Seddington House zu behalten.«

Debbie sah sie so erstaunt an, dass Kate ihr rasch erklärte, warum Simon so ungern in Seddington wohnen wollte.

»Ich muss sagen, das schockiert mich wirklich, Kate. Bist du sicher, dass er sich nicht mehr mit dieser Frau trifft?«

»Ja.«

Debbie nickte langsam, dann umarmte sie Kate. »Ich hoffe so sehr, dass alles so wird, wie du es dir wünschst. Ich weiß, wie gern du in diesem Haus leben würdest, aber setz deswegen nicht deine Ehe aufs Spiel. Ein Haus ist schließlich nur ein Haus.«

»Das weiß ich. Aber ich habe immer geglaubt, Simon und ich würden dasselbe wollen. Jetzt stellt sich plötzlich heraus, dass das ein Irrtum war.«

Als die Kinder abends im Bett waren, saß Kate am Küchentisch und trank ein Glas Wein, während Joyce das Abendessen vorbereitete.

»Hast du noch einmal über euren Umzug nachgedacht, meine Liebe?«, fragte Joyce.

Kate schüttelte den Kopf. »Nicht richtig. Ich weiß nur, dass ich nicht mehr nach London zurückwill. Mein Lebensmittelpunkt ist hier, das fühle ich, vor allem seit ich Seddington House geerbt habe. Ganz gleich was passiert, wir müssen dringend umziehen. Wir sind dir viel zu lange zur Last gefallen, Joyce.«

»Ich will nicht behaupten, dass es immer einfach war, aber ich hatte euch gern bei mir, Kate. Das war jedoch nicht der Grund meiner Frage.« Joyce stellte sich und Kate ein Stück Fischpastete hin und setzte sich dann ebenfalls. »Wie kommst du mit Simon voran? Ich weiß, dass ich mit dieser Frage schon wieder meine Nase in Dinge stecke, die mich nichts angehen, aber ich bin besorgt.«

»Das weiß ich.«

»Kate, es stört mich wirklich nicht, wenn ihr noch eine Weile hier wohnen bleibt. Ich möchte das Beste für euch alle. Nehmt euch so viel Zeit wie ihr braucht.« Hörte Kate eine gewisse Resignation aus ihrer Stimme?

»Danke, Joyce, du bist so liebenswürdig. Dabei ist es sicher nicht leicht für dich. Nie kannst du deine Freundinnen oder deinen Lesezirkel zum Essen einladen.«

»Dafür haben sie alle Verständnis. Außerdem dauert es nicht mehr lange bis zu meinem Urlaub. Ich kann mich ja unterwegs revanchieren.« Joyce’ Lesezirkel unternahm in zwei Wochen eine Bildungsreise nach Italien. An diesem Abend trafen sich alle bei Hazel, um abzustimmen, was sie bis zu den Ferien lesen würden.

»Und wenn du dann nach Hause kommst, sind wir schon in Frankreich«, gab Kate zurück. »Ich habe für uns vier dort ein Haus gebucht. Dann hast du ein paar Tage Ruhe.«

»Es wird euch guttun, ein paar Tage allein zu sein, das Häuschen sieht sehr hübsch aus. Simon braucht dringend Erholung, und ihr müsst hier mal raus, stimmt’s?«

»Du hast sicher Recht«, antwortete Kate. Insgeheim fürchtete sie sich vor der Reise. Wer würde den Streit um ihren künftigen Wohnort gewinnen?

Um halb neun rief Simon vom Flughafen an. Er klang müde, aber euphorisch. »Stell dir vor, der Vertrag ist unter Dach und Fach. Wir haben noch gefeiert, deshalb ist es so spät geworden. Ich müsste um halb elf in Diss sein, wenn der Zug keine Verspätung hat. Mach dir keine Umstände, ich nehme ein Taxi.«

»Wer ist ›wir‹?«, fragte Kate erstaunt. ›Wir‹ waren immer sie und Simon gewesen.

»Ich habe übrigens Neuigkeiten.«

»Welche?«

»Das erzähle ich dir, sobald ich zu Hause bin.«

»Simon, ich kann keine Überraschungen mehr vertragen.«

»Also gut. Meine Beförderung ist klar. Gillingham hat es mir vorhin im Flugzeug gesagt.«

»Das ist ja fantastisch!«

»Ja, nicht wahr? Wir müssen uns nächste Woche noch über ein paar Einzelheiten unterhalten, aber sie waren wohl sehr beeindruckt von meiner Arbeit in Osteuropa. Kate, die ganze Zeit, die ich investiert habe, hat sich gelohnt.«

Mit gemischten Gefühlen legte sie das Telefon aus der Hand. Simon hatte so begeistert geklungen, er war noch nie so erfolgreich gewesen. Aber zu welchem Preis hatte er sich die Beförderung erkauft? Und was noch viel entscheidender war: Welchen Preis würden sie dafür noch zahlen müssen?

In der Normandie würden sie endlich Zeit haben, in Ruhe darüber zu sprechen. Kate fiel plötzlich etwas ein. Sie schaltete den Computer ein, um nachzusehen, ob ihre Tickets bestätigt worden waren. Die E-Mail, auf die sie gewartet hatte, war im Posteingang, ebenso eine von Claire. Rasch öffnete sie die von Claire.

Hi, Kate. Tut mir leid, dass ich mich jetzt erst melde. Aber du weißt ja, wie das ist, wenn man schwanger ist und einem ständig schlecht ist. Ich fahre oft zu meiner Mutter. Mit Alex ist es schwierig. Wir sehen uns weiterhin, und er sagt, er würde mir mit dem Baby helfen, aber das ist nicht das, was ich mir wünsche. Er gibt mir die Schuld an allem, aber wenigstens ist er katholisch erzogen und hat mir nie vorgeschlagen, es wegmachen zu lassen. Das hätte ich nicht ertragen. Ich weiß, dass er sich nicht binden will. Ich verstehe das. Seine Karriere ist im Moment an einem entscheidenden Punkt. Hast du übrigens etwas von Liz gehört? Sie arbeitet in letzter Zeit so viel. Ich hoffe, zwischen dir und Simon läuft es wieder besser. Ich rufe dich bald an. Liebe Grüße an die Kinder. Claire.

Arme Claire! Kate wollte gerade auf »Antworten« klicken, als sich der Computer, der manchmal seinen eigenen Willen hatte, einfach ausschaltete. Im selben Moment klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Sie nahm den Hörer ab.

»Kate?« Ihr Vater.

»Dad? Schön, dass du anrufst.«

»Wie war es heute?«

»Ganz gut. Schade nur, dass so wenig Leute da waren.«

»Hm.« Ihr Vater klang abwesend.

»Ist was?«

»Ich fürchte, deine Mutter ist ziemlich deprimiert.«

»Wieso?«

»Es ist wegen Ringo.« Kate seufzte, als sie daran dachte, wie viel Aufmerksamkeit ihre Mutter den Hunden schenkte. »Wir mussten ihn heute einschläfern lassen.«

»Das tut mir leid, Dad. Ich wusste gar nicht, dass er so krank war.«

»Er lag praktisch im Koma, als wir heute Morgen aufgestanden sind. Es blieb uns nichts anderes übrig. Aber deine Mutter ist jetzt natürlich am Boden zerstört. Ich habe ihr eine Tablette gegeben und sie ins Bett geschickt. Ich … ich …«

»Dad, bist du okay?« Die Stimme ihres Vaters klang so schwach.

»Ich bin nur ein bisschen müde, Liebes.« Er räusperte sich. »Ich dachte, du solltest das mit Ringo vielleicht wissen. Der andere Hund ist auch in keinem guten Zustand, wenn du mich fragst.«

»Er trauert sicher um Ringo. Wie geht es Mum?«

»Sie schläft jetzt. Aber sie würde sich bestimmt freuen, wenn du morgen mal anrufst. Sie ist ganz aufgeregt wegen des Hauses. Sie kann gar nicht glauben, dass es jetzt dir gehört, und diesen ganzen Unsinn über Agnes und ihr angebliches Kind versteht sie nicht. Ich muss sagen, es klingt auch ziemlich absurd. Und was für ein Pech für diesen Mann, ihren Großneffen. Wie auch immer, erzähl ihr ein bisschen davon, das lenkt sie ab.«

»Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich so lange nicht bei euch war«, meinte Kate. »Aber im Moment ist es einfach schwierig …« Sie brach ab. Sie hatte schon mehrmals überlegt, ihren Eltern von ihren Problemen mit Simon zu erzählen, aber sich immer wieder dagegen entschieden. Es würde sie nur zusätzlich belasten, und sie wären sicher enttäuscht.

»Ja, ja, ich verstehe«, antwortete Kates Vater. »Wir kommen schon zurecht. Mach dir um uns keine Sorgen.« Desmond war wieder ganz der Alte, als sie sich verabschiedeten, aber trotz seines forschen Tons war eine gewisse Beunruhigung nicht zu überhören.

Um zehn Uhr kam Joyce mit einer langen Liste von Büchern über Italien nach Hause. Taktvoll kündigte sie an, sofort ins Bett gehen und nicht mehr auf Simon warten zu wollen. Kate wünschte ihr eine gute Nacht und zappte anschließend ein wenig durch die Fernsehkanäle. In den Nachrichten gab es einen Bericht über eine Labour-Ministerin, die Ähnlichkeit mit Marion hatte. Jedenfalls fand Kate das. Als sie den Fernseher ausschaltete, dachte sie über ihr Gespräch auf der Beerdigung nach.

Marion, die schon als Kind Kontakt zu Agnes gehabt hatte, wusste zwar auch nichts von einem Baby, aber sie hatte von einem Verehrer gesprochen, einem älteren Mann. Damit konnte doch nicht Harry gemeint sein? Wie sollte sie das nur herausfinden? Solange sie nicht ein konkretes Datum hatte, war es sinnlos, in irgendwelchen Geburtenregistern zu suchen. Ob es im Ort jemanden gab, der alt genug war, sich an etwas zu erinnern? Vielleicht konnte sie ja ein paar der älteren Einwohner befragen. Dann war da natürlich noch das Tagebuch, das mit der Krankheit von Agnes’ Vater Gerald begann. Sie hatte es mittlerweile gelesen, musste es sich aber wohl noch einmal vornehmen. Beim ersten Durchlesen war ihr nichts aufgefallen, wodurch sie Rückschlüsse auf Agnes’ Baby hätte ziehen können. Am besten, sie beschäftigte sich noch einmal eingehend mit der Affäre zwischen Agnes und Harry.

Plötzlich fiel Kate etwas ein. Der Brief, der bei den Tagebüchern gelegen hatte! Jetzt, wo Agnes tot war, durfte sie den Umschlag sicher öffnen. Rasch lief sie die Treppe hinauf, nahm den versiegelten Umschlag aus ihrer Nachtkommode und setzte sich damit aufs Bett. Sie las noch einmal die Aufschrift. An meinen Sohn – von seiner Mutter Agnes Lavender Melton. Vorsichtig öffnete Kate das Kuvert und zog ein einzelnes vergilbtes DIN-A4-Blatt heraus, das von beiden Seiten beschrieben war. Es war datiert auf Mai 1950.

Mein geliebtes Kind,

es kann sein, dass wir uns in diesem Leben niemals begegnen werden, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich an jedem Tag meines Lebens vermisst habe und dass ich jeden Tag dafür gebetet habe, dass du gesund und glücklich bist. Außerdem möchte ich dir sagen, dass ich dich liebe, ganz gleich wer du bist, was du bist und wo du bist. Ich habe dich von dem Moment an geliebt, als ich erfuhr, dass du in mir heranwuchsest; wenn es je ein Wunschkind gab, dann warst du es. Es war das größte Unglück meines Lebens, dass du mir gegen meinen Willen fortgenommen wurdest, ehe ich dich auch nur ein einziges Mal anschauen konnte. Du warst ein Teil von mir. Ich kannte dich, deine Gestalt und das Gefühl deiner Bewegungen in meinem Körper, auch wenn ich dich nie in den Armen halten und dir nie in die Augen sehen konnte. Mein lieber Sohn, es tut mir leid, schrecklich leid, dass du wegen der Fehler, die ich gemacht habe, deine Mutter verloren hast, ehe du sie kennen lernen konntest. Ich habe immer dafür gebetet, dass du liebevolle Eltern finden und gesund und glücklich aufwachsen würdest, ohne etwas von dem Verlust zu ahnen, mit dem ich in jedem Augenblick seit deiner Geburt leben musste.

Ich nehme an, dass du viele Fragen hast, wenn du überhaupt über mich nachdenken möchtest, daher hinterlasse ich dir meine Tagebücher. Sie erzählen meine Geschichte, die ebenso deine Geschichte ist.

Auf ewig dein, in diesem wie im nächsten Leben!

Deine Mutter Agnes Melton

Kate ließ sich auf ihr Bett zurückfallen und schloss die Augen. Dann hatte Agnes das Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, also nie zu Gesicht bekommen. Irgendjemand hatte Mutter und Kind rücksichtslos getrennt. Wie grausam!

Sie öffnete die Augen wieder, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Vielleicht war das Baby ja gestorben, und Agnes hatte in all den Jahren mit einer Illusion gelebt. Kate hatte gehört, dass Hebammen und Ärzte früher geglaubt hatten, sie könnten Müttern viel Leid ersparen, wenn sie ihnen ihre tot geborenen Babys fortnahmen, ohne dass sie sie sahen und sich von ihnen verabschieden konnten. Agnes war offenbar davon überzeugt gewesen, dass ihr Kind am Leben gewesen war – warum? War es reines Wunschdenken, oder hatte ihr jemand gesagt, dass man ihr das lebensfähige Baby genommen hatte?

Impulsiv griff Kate in die Nachttischschublade und zog das letzte Tagebuch hervor. Sie schlug die erste Seite auf. 1943. Agnes’ Vater lag im Sterben. Er hustete, sein Atem ging rasselnd, seine Brust hob sich nur schwer. Der Arzt hatte eine Lungenkrankheit diagnostiziert, eine Folge der Senfgasvergiftung im Ersten Weltkrieg. Und Gerald verlor zusehends seinen Lebensmut. Nachdem Vanessa ihn verlassen hat, so hatte Agnes geschrieben, ist er nicht mehr der Alte. Er ist in sich gekehrt und verschlossen, auch wenn er sich mit viel Arbeit und einem streng geregelten Alltagsleben tröstet. Meine Mutter hat ihm das Herz gebrochen, fuhr sie fort, Vanessa hat ihm den Lebensmut genommen.

Der Eintrag von 23. Juli, als Gerald auf dem Friedhof von St. Mary’s in Seddington neben seiner geliebten Frau Evangeline zur letzten Ruhe gebettet wurde, zeigte Agnes an einem seelischen Tiefpunkt.

Ich bin nun allein, völlig allein. Raven ist nicht mal zur Beerdigung seines Vaters erschienen. Es war ein sehr trauriges Ereignis. Auch der Pfarrer war tief getroffen, weil er einen wahren Freund verloren hatte. Viele Leute, die eigentlich hätten kommen müssen, waren nicht da. Nur Mr Armstrong ist mit dem letzten Tropfen Benzin aus London angereist. Die anderen Geschäftspartner von Vater haben Beileidskarten geschickt. Lister war natürlich da und Mrs Duncan, die Einzigen, die unserem kleinen Haushalt nun noch angehören. Und von den Leuten aus dem Dorf sind Diana und ihre Mutter und unsere Nachbarn von Fortescue Hall gekommen. Lady Fortescue sieht schrecklich alt und abgehärmt aus, seit sie erfahren hat, dass Paul vermisst wird, und ihr Haus von Truppen beschlagnahmt worden ist.

Kate blätterte weiter. Es folgten Berichte über Agnes’ Alltagsleben, über ihre Bücher, ihre Besuche bei Diana, Belanglosigkeiten. Dann kam ein überraschender Eintrag.

Heute Morgen kam ein Brief von Vanessa. Der erste, den ich von ihr bekommen habe, denn sie hat zu Vaters Tod nicht geschrieben. Es ging um Harry. Sie schrieb, es würde mich vielleicht interessieren, dass er bei einem Luftangriff ums Leben gekommen ist. Das gesamte Gebäude ging in Flammen auf und wurde zerstört. Ich kann es noch immer nicht begreifen.

Der Eintrag endete abrupt, und einige Tage später gestand Agnes:

Harrys Tod ist das Ende aller Hoffnungen. Auch wenn mir mein Verstand immer gesagt hat, dass alles vorüber ist und wir nie zusammen sein werden, hat mein Herz offenbar etwas anderes erhofft. Doch nun ist es wahrhaftig vorüber.

Die beiden rasch aufeinanderfolgenden Todesfälle ihres Vaters und ihres ehemaligen Liebhabers stürzten Agnes in tiefe Depressionen. Sie schrieb nur noch selten in ihr Tagebuch; gestelzte Sätze, in denen sie beschrieb, dass sie manchmal endlos über Felder und Wiesen lief, als könne sie so die Dämonen vertreiben, die sie jagten, während sie sich an anderen Tagen in ihrem Dachzimmer versteckte und stundenlang schlief oder vor sich hin starrte. Sie hatte in diesen Zeiten nur wenig Gesellschaft. Diana besuchte sie ab und zu, wenn sie Gelegenheit hatte, nach Halesworth zu kommen. Geralds treuer Geschäftsfreund Mr Armstrong kam ebenfalls gelegentlich nach Seddington und war Agnes eine wertvolle Hilfe bei der Abwicklung der komplizierten Angelegenheiten, die das Anwesen betrafen und die Geralds Anwalt noch immer mühsam entschlüsselte. Bei einem ihrer Spaziergänge kam Agnes durch Wenhaston, ein fünf Meilen entfernt gelegenes Dorf, wo sie ihr altes Hausmädchen Ethel mit ihren beiden Kindern traf.

Ethel hat erzählt, sie und Alf seien im Sommer 1928 dorthin gezogen, als Alfs Mutter krank wurde. Sie wohnten in ihrem Haus, bis die Mutter starb und das Haus ihnen allein gehörte. Alf, der glücklicherweise zu alt ist, um eingezogen zu werden, arbeitet nun als Gärtner im örtlichen Krankenhaus. Dort wurden die Rasenflächen in Gemüsebeete umgewandelt. Die Kinder, ein Mädchen und ein Junge von ungefähr zehn und acht, haben Alfs strupppiges braunes Haar und Ethels schöne braune Augen. Der Junge hat mir erzählt, sie hätten noch eine fast vierzehnjährige Schwester. Ich habe ihnen gesagt, dass wir in Seddington House ein Dienstmädchen bräuchten. Wenn das Mädchen nach der Schule eine Stelle suchen würde, könne sie gern zu uns kommen. Ethel schien dieser Vorschlag zu kränken. Das hat mich überrascht. Aber womöglich hat sie ehrgeizigere Pläne für ihre Kinder. Vielleicht gibt es ja in dieser auf den Kopf gestellten Welt mehr Möglichkeiten für gewöhnliche Familien, wenn der Krieg erst zu Ende ist.

Erst Anfang 1945 schien Agnes sich von ihrem inneren Aufruhr zu erholen. Während sich der Krieg allmählich zugunsten der Alliierten entschied, begann sie wieder Pläne zu schmieden. Sie hatte sich entschlossen, in Seddington House zu bleiben, und widmete sich ihren Sammlungen. Es würde noch lange dauern, bis der Kunstmarkt sich erholte. Vieles war konfisziert worden und bei Luftangriffen und Plünderungen verloren gegangen, aber Agnes wollte weitermachen.

Dann löste sich das Geheimnis über den Verehrer, den Marion erwähnt hatte. William Armstrong machte Agnes nach seiner langen, treuen Freundschaft einen Heiratsantrag.

Natürlich musste ich Nein sagen. Er ist ein netter Mann und seit dem Tod seiner Frau allein. Aber ich kann ihn mir einfach nicht als Ehemann vorstellen; er weckt keinerlei Leidenschaft in mir. Nicht nach Harry. Harry hat mich verdorben. Außerdem habe ich mich daran gewöhnt, allein zu sein. Es wäre sicher aufregend, einen Liebhaber zu haben, aber ich bin viel zu schwierig und zu launisch, um eine Ehefrau zu sein. Diana sagt, ich müsste nur dem richtigen Mann begegnen. Sie meint, sie sei überrascht, dass William nicht eher etwas gesagt habe und dass es viele Arten von Ehen gäbe – jemand Ruhiges und Verlässliches könne genau der Richtige für mich sein. Sie weiß von Harry, aber sie kennt nicht die ganze Geschichte. Sie weiß auch nicht, warum Mrs Selcott so plötzlich gegangen ist. Ich weiß, dass alle seit Jahren darauf gewartet haben, dass William mir einen Antrag macht, aber ich dachte immer, sie würden sich irren. Er hat mir gegenüber nie Annäherungsversuche gemacht, seine Manieren waren immer perfekt, daher glaubte ich, seine Besuche seien nur aus Freundschaft zu meinem Vater erfolgt. Armer William. Ich habe ihn gebeten, mich weiter zu besuchen und mein Freund zu bleiben, aber ich weiß nicht, ob er das tun wird. Es ist schade.

Kate war auf der letzten Seite angekommen und klappte das Tagebuch zu. Dann war Agnes’ Verehrer also ein vertrockneter alter Witwer gewesen. Und danach? Wer wusste das? Vielleicht hatte Agnes ja noch einmal Glück und Leidenschaft gefunden. Aber ihr Herz war gebrochen, wegen Harry und dem, was sie auseinandergebracht hatte. Und sie hatte ein Kind bekommen, ein Kind, das sie so heimlich auf die Welt gebracht hatte, dass nicht mal Diana etwas davon zu wissen schien.

Noch einmal nahm Kate Agnes’ Brief zur Hand. Die Antworten auf alle Fragen lägen in den Tagebüchern, hatte Agnes geschrieben. Doch die, die Kate gefunden hatte, hatten sie bisher nicht an den Kern des Geheimnisses geführt. Es musste irgendwo noch einen weiteren Band geben. Aber wo?

Kate war müde. Sie fragte sich, ob sie in dieser Nacht wieder träumen würde, von dem Haus und den Ereignissen, von denen sie soeben gelesen hatte. Sie erinnerte sich an ihren ersten Traum von Seddington House. Damals hatte sie geglaubt, er hätte etwas mit dem Medaillon zu tun gehabt, doch dann hatte sie das Foto im Album ihrer Mutter entdeckt. Welche Streiche einem das Gehirn oft spielte. Das Medaillon war jedenfalls verschwunden. Kate war sicher, dass sie es in einer Kiste im Schuppen verstaut hatte, aber alle bisherigen Suchaktionen waren erfolglos gewesen.

Sie ging zu ihrer Schmuckschatulle und durchsuchte sie zum tausendsten Mal. Erneut schaute sie hinter die kleinen Schubladen und untersuchte den Boden auf Löcher. Aber sie fand nichts. Draußen fuhr ein Auto vor.

Kate stand auf und öffnete die Haustür. Während sie wartete, bis Simon den Taxifahrer bezahlt hatte, hielt sie den aufgeregten Bobby fest.

Simon ließ sein Gepäck in der Diele fallen und küsste sie. Er schmeckte fremd – nach Fastfood und Whisky –, sein Gesicht war blass, und er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Er sah aus wie ein Fremder.

Er zog sich Jacke und Krawatte aus, öffnete die obersten Knöpfe seines Hemds und kramte in der Reisetasche.

»Schampus«, sagte er und zog eine Flasche hervor. »Aber vorher muss ich etwas essen.« Er lief in die Küche und machte sich ein Sandwich. Kate saß am Tisch und schaute ihm zu. Schließlich setzte er sich zu ihr und goss ihnen Champagner ein.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Kate und trank einen Schluck. Er war nicht richtig kalt.

»Herrje, ich habe mich für diese Beförderung krummgearbeitet«, stieß Simon aus und stürzte das Getränk herunter wie Limonade. Dann goss er sich noch ein Glas ein. »Aber es hat sich gelohnt.«

Sein Gesicht hatte etwas Manisches. Kate erschauerte.

»Ich freue mich wirklich für dich, Schatz.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Ehrlich? Meinst du das ehrlich?« Er schaute sie an.

»Warum fragst du? Natürlich tue ich das. Ich weiß doch, wie viel du gearbeitet hast und wie sehr du dir das gewünscht hast.«

Simon schien zufrieden. »Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, Erfolg gehabt zu haben. Selbst mein Vater wäre jetzt stolz auf mich.«

»Bestimmt, Simon«, versicherte Kate. Sie gönnte ihm diesen Augenblick des Triumphes.

Simon beobachtete sie genau. Seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck, sein Haar war zerzaust und strähnig. Erst jetzt kam Kate der Gedanke, dass er wahrscheinlich schon viel getrunken hatte.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte er höhnisch. »Du denkst, Dads Meinung spielt keine Rolle mehr, weil er tot ist. Aber sie spielt eine Rolle.«

»Ich wünsche mir doch auch, dass meine Eltern stolz auf mich sind.« Kate zuckte mit den Schultern. »Das ist ein bisschen albern in unserem Alter, nicht? Aber ich bin auch stolz auf dich.« Sie streckte die Hand aus und drückte seine Finger. Er reagierte nicht.

»Du findest sicher, ich sollte nicht so viel Zeit für meine Arbeit verschwenden.«

»Du weißt, dass ich das so sehe. Aber das heißt nicht, dass ich nicht stolz auf dich bin. Nur, dass es noch andere Dinge im Leben gibt, mit denen man Erfolg haben kann. Dinge, die vielleicht sogar noch wichtiger sind, das verstehst du sicher.« Ihr Blick wanderte zum Kühlschrank, wo die Zeichnung der Traumfamilie hing.

»Du und die Kinder«, murmelte er und ließ sie nicht aus den Augen. »Ja, ich weiß das. Aber es ist etwas anderes. Es verschafft mir nicht dasselbe Erfolgserlebnis. Die Aufregung im Büro, die Konflikte, die Vertragsverhandlungen – das gibt einem das Gefühl, dabei zu sein, wichtig zu sein.«

»Aber wir sind auch wichtig«, sagte Kate leise.

»Natürlich seid ihr das. Für dich und die Kinder tue ich das doch alles.«

»Nein, das tust du nicht, Simon. Du tust es für dich. Versteh mich nicht falsch, ich weiß, wie wichtig ein Job ist – für mich genauso wie für dich. Aber nicht so wichtig, dass er eine so große Rolle im Leben spielen darf wie bei dir.«

»Das liegt nur an den vielen Reisen. Ich werde vorerst nicht mehr ins Ausland müssen. Und wenn ich die ganze Fahrerei noch einschränken könnte …«

»Jetzt fangen wir wieder an, uns im Kreis zu drehen.«

»Wir müssen eine Entscheidung treffen. Dieses Haus – was schätzt du, wie viel es wert ist?«

»Simon, du musst morgen mitkommen und dir Seddington House anschauen. Dann verstehst du vielleicht, was ich meine. Warum ich so gern dort wohnen möchte.«

»Klar. Wenn du möchtest.«

Sie standen da und sahen sich an, aber Simon schien ihr zu entgleiten, ohne dass sie irgendetwas tun konnte.