35. KAPITEL

Erst als Kate den dichten Verkehr um Ipswich hinter sich gelassen hatte, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie hatte den Grund für den Anruf ihres Vaters noch immer nicht richtig begriffen und war froh gewesen, sich auf die endlosen Abzweigungen, Kreuzungen und Verkehrskreisel konzentrieren zu können.

»Es geht um deine Mutter, Kate.« Die Stimme ihres Vaters hatte gezittert und schrecklich alt geklungen. »Ich bin im Krankenhaus. Es ist schon wieder passiert. Die Ärzte wissen diesmal nicht, ob sie es schafft.« Und dann der schliche Hilferuf: »Bitte, komm!«

Kate hatte Joyce kurz darüber informiert, was geschehen war, und innerhalb einer Viertelstunde im Auto gesessen.

Als sie nun in den Nieselregen schaute und auf die Überholspur ausscherte, um an einer endlosen Reihe Lastwagen vorbeizufahren, rief sie sich die zusammenhanglosen Sätze ihres Vaters wieder in Erinnerung. Barbara hatte offenbar ihre Antidepressiva aufgespart. Als Kate vor ein paar Wochen bei ihren Eltern gewesen war, hatte sie sich über die schlechte Stimmung ihrer Mutter gewundert, sie jedoch darauf geschoben, dass sie ihnen gerade eröffnet hatte, dass sie und Simon sich getrennt hätten.

Ihr Vater hatte sich die Nachricht zu Kates Erstaunen besonders zu Herzen genommen.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das auch unsere Schuld ist«, gab er niedergeschlagen zu, als sie zusammen am Frühstückstisch saßen, während Barbara sich oben anzog. »Wir waren so sehr mit uns beschäftigt, mit … dem, was passiert ist.« Er schaute sich im Zimmer um, betrachtete die vielen Gesichter von Nicola, die fröhlich von den Fotos lächelten. »Wir haben uns nicht genug um euch gekümmert.«

Kate wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich meinte sie zögernd: »Ich weiß noch immer nicht, was Simon dazu gebracht hat, sich von uns zu entfernen. Ich glaube, er hat mich nicht zum ersten Mal betrogen. Aber ich wüsste wirklich nicht, was das auch nur im Geringsten mit dir oder Mum zu tun haben könnte. Ich glaube, er ist einfach nicht bereit, mich und die Kinder in seinem Leben an die erste Stelle zu setzen. Im Moment ist alles noch ein großes Chaos, und nichts ergibt einen Sinn …« Sie spürte die Tränen in ihren Augen brennen und bückte sich, um Benjy zu streicheln, der sich ungewöhnlich zutraulich an ihre Beine drängte.

Hatte es erst des Zusammenbruchs ihrer Ehe bedurft, um etwas an der Beziehung zu ihren Eltern zu verändern, oder gab es dafür andere Gründe? Ihr inzwischen siebzigjähriger Vater wirkte plötzlich unsicher. Kate sah auf einmal, wie empfindsam das tapfere Gesicht war, das er vor der Welt immer zur Schau stellte. Dieses Mal umarmte sie ihn zärtlich und gab ihrer Mutter einen sanften Kuss, als sie fuhr, und es fiel ihr kein bisschen schwer.

Sie erreichte das Krankenhaus erst gegen Mittag, fand nach längerem Suchen einen Parkplatz und folgte den Wegweisern zur Intensivstation. Eine Schwester führte sie in einen Raum mit einem Bett, in dem eine leblose schmale Gestalt lag. Sie hatte eine Sauerstoffmaske im Gesicht, eine Infusionsnadel steckte in ihrer Hand. Neben dem Bett standen mehrere Instrumente, die ihre Vitalfunktionen überwachten. Kates Vater saß auf der anderen Seite und starrte ins Leere.

»Kate!« Er war sofort hellwach. Erleichtert griff er nach ihrer Hand und drückte sie. Dann standen sie gemeinsam da und blickten auf Barbara hinab.

Nach einer Weile nahm Kate sich einen zweiten Stuhl und setzte sich zu ihrem Vater. Diesmal streckte sie die Hand nach ihm aus.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Er seufzte tief. »Der Arzt hatte ihr beim letzten Mal etwas gegen die Depressionen verschrieben.« Also vor sechs Monaten, rechnete Kate nach. »Ich habe ihr die Tabletten jeden Tag abgezählt gegeben. Anscheinend hat sie sie gesammelt. Und als ich gestern Abend zum Bridgespielen bei den Scotts war, hat sie sie geschluckt. Ich habe sie gefunden, als ich nach Hause kam. Sie lag auf dem Bett, aber sie hatte sich übergeben. Das könnte ihr das Leben gerettet haben, sagt der Arzt.

Ich habe sofort einen Notarzt gerufen, und der hat sie hierhergebracht. Als ich dich angerufen habe, wussten sie noch nicht, ob es rechtzeitig war, aber sie sagen, sie sei jetzt ein wenig stabiler und brauche vielleicht bald keinen Sauerstoff mehr.«

»Arme Mum. Ich … Ich wusste nicht, dass sie wieder so schlecht dran war.«

»Seit dem Sommer geht es mit ihr bergab. Sie klagte immer wieder über Müdigkeit und darüber, dass alles so sinnlos sei. Und … sie äußerte dieselbe Befürchtung wie ich, dass wir irgendwie mit schuld sind am Ende eurer Ehe.«

»Aber das seid ihr nicht, Dad.«

»Doch.« Er schüttelte bedrückt den Kopf. »Wir haben euch nicht genug geholfen.«

Nach einigen Stunden wachte Barbara auf. Sie öffnete die Augen, aber ihr Blick war so angstvoll, dass Kate froh war, als sie sie wieder schloss. Eine Viertelstunde später begannen ihre Lider erneut zu flattern. Dieses Mal bewegte sie ihren Kopf, als störte sie die Maske über ihrem Mund. Und dann drückte sie die Hand ihres Mannes, als er ihren Namen flüsterte. Zutiefst gerührt sah Kate zu, wie er seinen Kopf neben ihren aufs Kissen legte, sie auf die Wange küsste und ihr übers Haar streichelte. Er vergöttert sie noch immer, nach all den Jahren, dachte Kate.

Sie zog ihren Stuhl näher ans Bett. »Mum?«, flüsterte sie. »Ich bin es, Kate.« Entsetzt sah sie, wie Tränen über die Wangen ihrer Mutter liefen.

Am späten Nachmittag kam Major Carters Schwester Maggie, die ebenfalls telefonisch verständigt worden war. Sie ordnete einen großen Strauß duftender Lilien in einer Vase, die sie mitgebracht hatte, und befahl Desmond, nach Hause zu fahren.

»Du warst die ganze Nacht wach, und ich wette, du hast kaum etwas gegessen.« Tatsächlich hatte er auch die Sandwiches kaum angerührt, die Kate ihm in der Cafeteria des Krankenhauses gekauft hatte. Er hatte bloß dagesessen und in seinem Tee gerührt. Kate war erschrocken gewesen, ihn so verletzt, so einsam zu sehen.

»Ich bleibe bei ihr, Desmond, mach dir keine Sorgen«, erklärte seine Schwester. »Wenn etwas ist, rufe ich dich sofort an, das verspreche ich dir.«

Als sie um acht nach Hause kamen, stellte Kate fest, dass es im Haus kaum etwas zu essen gab. »Ich wollte eigentlich heute einkaufen gehen«, sagte ihr Vater müde und sank aufs Sofa.

»Kein Problem, es gibt noch Eier und ein paar Reste. Ich mache uns ein Omelett.« Kate goss ihrem Vater einen Whisky ein, dann improvisierte sie eine Mahlzeit und überredete ihn dazu, etwas zu essen.

»Ruh dich ein bisschen aus, während ich abräume«, sagte sie anschließend. »Danach koche ich uns noch einen Kaffee.« Als sie jedoch ins Wohnzimmer zurückkam, war er nicht da. Sie hörte ihn oben hantieren und ging ebenfalls hinauf.

In diesem neuen Haus war sie nur selten im Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen. Als sie an die Tür klopfte und hineinschaute, sah sie ihren Vater auf dem alten Doppelbett aus Nussbaumholz sitzen, das sie durch die verschiedenen Kontinente begleitet hatte. Neben ihm stand eine Reisetasche.

Er lächelte schwach, als er Kate sah. »Ich wollte ihr ein paar Sachen packen«, sagte er. »Aber ich fühle mich auf einmal so müde.«

»Ich helfe dir«, sagte sie und reichte ihm seinen Kaffee. »Sag mir, was ich tun soll.« Dann legte sie ein Nachthemd und Unterwäsche in die Tasche, eine Hose und eine Bluse und packte anschließend im Bad das Waschzeug zusammen. Als sie zurückkam, kramte ihr Vater in der Nachttischschublade ihrer Mutter.

»Hier hat sie ihre Tabletten aufbewahrt, sieh nur.« Er zeigte auf ein paar zerdrückte Tabletten auf dem Boden der Schublade. »Und ich habe es nicht gemerkt.« Er ging zu einem kleinen Sessel und setzte sich. Nachdenklich schlürfte er seinen Kaffee.

Vorsichtig zog Kate die Schublade ganz heraus. In dem Durcheinander aus Perlenketten, einer Augencreme und einigen angebrochenen Pfefferminzrollen fand Kate einen Igel aus Ton und eine emaillierte Brosche, die sie einmal gebastelt hatte, außerdem zwei kleine Samtschachteln und ein paar Postkarten. Kate stellte den Igel auf den Nachttisch und öffnete eine der Schachteln. Darin befand sich etwas, das aussah wie gräulich-weiße Steinchen. Kate wusste sofort, was es war, da sie für Daisy vor kurzem ebenfalls eine Sammlung angelegt hatte: Milchzähne. Sie öffnete die andere Schachtel – das gleiche. Sie klappte beide Schachteln wieder zu und drehte sie um. Auf der einen stand Nicola, auf der anderen Kate.

Die Karten waren selbst gebastelt und ein bisschen zerknittert. Ein Weihnachtsbild war dabei, von Nicola für Mummy und Daddy, und eine Valentinskarte. Mummy, ich liebe dich. Deine Kate, stand darauf. Sie erinnerte sich vage daran, sie mit neun oder zehn geschrieben zu haben. Zwischen den Karten befanden sich einige Fotos. Drei davon zeigten Kate: als Kleinkind, mit zehn Jahren und mit fünfzehn in einem kirschroten Partykleid. Nur auf einem Bild war Nicola zu sehen. Ganz unten in der Schublade fand Kate schließlich noch zwei Zellophantütchen mit jeweils einer Haarlocke.

Versonnen betrachtete Kate die Erinnerungsstücke. Sorgsam hatte ihre Mutter, die immer so distanziert gewesen war, alles aufbewahrt: Kates Kinderzähne, eine Locke vom ersten Frisörbesuch, die kostbaren Karten und kleinen Geschenke, die Kate ihr gemacht hatte. Ihre Mutter liebte sie.

Ihre Hände zitterten, als sie alles in die Schublade zurücklegte. Dann merkte sie plötzlich, dass ihr Vater sie beobachtete.

»Ich wusste gar nicht, dass Mum das alles aufgehoben hat«, sagte sie leise. »Ich dachte, sie hätte die Sachen, die ich für sie gemacht habe, weggeworfen, weil sie brüchig und alt geworden waren.«

Ihr Vater stellte seine Kaffeetasse ab und beugte sich zu ihr herüber.

»Auch wenn sie dir das vielleicht nicht immer zeigen konnte, sie hat alles, was du ihr geschenkt hast, wie einen Schatz gehütet.« Er seufzte. »Weißt du, sie war nicht immer so. So traurig, meine ich. Sie war richtig lebenslustig, als ich sie kennen lernte, immer lachte sie. Sie tanzte schrecklich gern. Ich habe sie auf einem Ball kennen gelernt.«

»In Sandhurst, nicht?« Kate wartete darauf, dass er weiterredete.

Er nickte. »Ein Schulfreund hatte mich eingeladen und mir Barbara vorgestellt. Sie war unglaublich hübsch, ich konnte meinen Blick gar nicht von ihr wenden. Sie trug ein silbriges Kleid, das wie Wasser schimmerte. Und sie war sehr nett. Sie sah sofort, dass ich niemanden kannte. Ich verstehe bis heute nicht, was sie in einem so ruhigen Mann wie mir gesehen hat.«

Aber Kate wusste es. In diesem Augenblick, als sie ihren Vater so aufrecht und stolz vor sich sitzen sah, wusste sie, was Barbara in ihm gesehen haben musste: Stabilität, Wärme, Verlässlichkeit. Er war ein Mann, der sie nie im Stich lassen würde, der sie vor der Welt beschützen und hinter ihr stehen würde, ganz gleich, was passierte. Und Barbara hatte Recht behalten.

»An jenem Abend konnte ich nur zweimal mit ihr tanzen«, fuhr er fort. »Aber ich habe Bob überredet, zusammen mit seiner Freundin ein Treffen zu viert zu arrangieren. Bob hatte ein Auto, und wir fuhren an die Küste und hatten viel Spaß zusammen. Und so wurde sie mein Mädchen, und ich war schrecklich stolz, als sie einwilligte, mich zu heiraten.«

Kate wartete gespannt.

»Alles ging gut bis zu ihrer ersten Schwangerschaft. Ich weiß nicht, ob sie dir je davon erzählt hat, Kate, aber sie hat das Baby verloren.«

»Nein!« Das war ihr vollkommen neu.

»Eines Morgens weckte sie mich und sagte: ›Es bewegt sich nicht mehr.‹ Es war drei Monate zu früh, und sie musste noch wochenlang warten, ehe das Baby von selbst zur Welt kam. Es war ein kleiner Junge. Es war schrecklich, mit der Gewissheit leben zu müssen, dass das Baby tot war. Ich durfte nicht mal bei ihr sein.«

»War das in Hongkong?«

»Ich war damals noch in Kent stationiert. Danach sind wir erst nach Hongkong gegangen. Da war sie immer noch deprimiert und schrecklich dünn. Aber dann kündigte Nicola sich an, und wir dachten, es würde alles wieder gut.«

»Und war es so?«

»Nein. Nicola war wunderschön, als sie geboren wurde. Ich habe geweint, als ich sie das erste Mal im Arm hielt. Aber Barbara war vom ersten Moment an wie eine zersprungene Feder. Sie litt unter der ständigen Angst, das Baby könnte sterben. Sie fand keine Bindung zu Nicola, weil sie immer fürchtete, sie zu verlieren. Sie ging zum Arzt, und er sagte, es seien gewöhnliche Wochenbettdepressionen, sie müsse sich zusammenreißen. Sie erholte sich erst, als sie sah, dass das Baby gedieh. Endlich begann sie, ihre Mutterrolle ein wenig zu genießen. Dann kamst du, klein und hübsch, ein richtiger Sonnenschein. Deine Mutter hat dich immer geliebt. Aber sie war nie in der Lage, es dir zu zeigen.«

Kate blickte auf die Schublade voller Erinnerungen und biss sich auf die Lippen. Sie sah ihren Vater an. »Es klingt so wie das, was ich hatte. Postnatale Depressionen.«

»Ich schätze, so würden die Ärzte es heute nennen.« Ihr Vater nickte zustimmend. »Aber damals hat man über so etwas natürlich nicht gesprochen. Damals setzte man einfach nur ein tapferes Gesicht auf.«

»Und dann folgte Nicolas Tod …«

»Es war ein schrecklicher Schlag für uns beide, für uns drei. Aber für deine Mutter war es besonders schlimm. Sie hat sich solche Vorwürfe gemacht, als Mutter versagt zu haben. Sie hatte das Gefühl, alles verloren zu haben.«

Zu ihrer Überraschung merkte Kate, dass sie wütend wurde. »Sie hatte Nicola verloren, natürlich. Aber sie hatte doch immer noch mich. Ihr … sie … ihr habt mich einfach vergessen. Für euch gab es ständig nur Nicola, Nicola, Nicola.« Verzweifelt sprach sie weiter. »Dad, habt ihr euch nie überlegt, dass auch ich nach Nicolas Tod gelitten habe? Dass auch ich Trost brauchte? Es ging immer nur um Mum und um dich. Aber sie war meine Schwester. Ihr habt das einfach ignoriert – vielleicht habt ihr mir auch vorgeworfen, dass ich nicht an ihrer Stelle gestorben bin, ich weiß es nicht! Noch heute habt ihr unten nur Fotos von Nicola hängen, nicht von mir und meiner Familie. Von den Toten, nicht von den Lebenden. Ihr seht Sam und Daisy so gut wie nie und vergesst sogar ihre Geburtstage.«

Ihr Vater verbarg das Gesicht in den Händen. Kate sah, dass seine Schultern bebten. Weinte er? Nach einer Weile nahm er die Hände fort und sah sie zerknirscht an. »Ich muss meine Schuld bekennen«, sagte er. »Ich habe mich nur um deine Mutter gekümmert. Sie liebt euch, ich weiß, dass sie euch liebt. Es ist nicht ihre Schuld, sie ist krank. Und diese Trinkerei, diese schreckliche Form der Selbstzerstörung, ist ihre Art, damit umzugehen.«

»Habt ihr denn nie mit einem Arzt darüber gesprochen?«

»Wir haben nie einen gefunden, der ihr etwas anderes als Antidepressiva gegeben hat.«

»Dad, dann musst du jetzt etwas unternehmen. Du musst die Ärzte so lange bedrängen, bis sie euch an einen Spezialisten überweisen, der euch helfen kann. Er wird zu einer Therapie raten, und du musst Mum dazu überreden, ihm zuzustimmen. Das ist ihre einzige Chance. Sonst macht sie so lange weiter, bis es irgendwann klappt.«

Kate stand auf und ging zu ihrem Vater, um ihn in die Arme zu nehmen. Ihr Blick fiel auf die Tasche ihrer Mutter. Einem plötzlichen Impuls folgend rannte sie nach unten, nahm das einzige Foto von Sam und Daisy – das schon ein paar Jahre alt war –, lief zurück ins Schlafzimmer und legte es oben in die Tasche.

Am nächsten Morgen rief Maggie an, um ihnen mitzuteilen, dass Barbara auf eine normale Station verlegt worden sei und sie nun nach Hause gehen würde.

Als Kate und ihr Vater im Krankenhaus ankamen, war Barbara wach, aber sehr müde. Kate setzte sich zu ihr ans Bett, während ihr Vater sich um die Blumen kümmerte und ihre Tasche auspackte. Er zeigte seiner Frau das Foto von Sam und Daisy, ehe er es auf ihren Nachttisch stellte.

»Wie fühlst du dich, Mum?«

»Mein Rachen tut weh«, flüsterte Barbara. »Außerdem habe ich Kopfschmerzen.«

»Warum hast du das getan? Bitte, sag es mir«, flehte Kate.

Aber ihre Mutter wandte ihr Gesicht ab.

»Mum, Dad hat mir ein paar Dinge erzählt, und ich verstehe jetzt viel besser, warum du so leiden musst. Aber Dad und ich und Sam und Daisy, wir lieben dich. Wir möchten, dass es dir wieder besser geht. Damit du das nicht mehr tun musst. Du brauchst dringend Hilfe. Dad hat mir versprochen, dass ihr euch professionelle Hilfe sucht. Wir schaffen das zusammen, wir müssen es schaffen. Sam und Daisy brauchen dich, sie brauchen ihre Großmutter, verstehst du das?«

Das Gesicht ihrer Mutter war immer noch abgewandt, aber sie nickte kaum merklich. Das war genug.

Kate rief Joyce vom Krankenhaus aus an. Ihre Schwiegermutter hatte darauf bestanden, die Kinder am Sonntag abzuholen, aber Kate war froh zu hören, dass Simon sich angeboten hatte, sie mit dem Zug nach Diss zu bringen. Joyce würde sie dort am Bahnhof in Empfang nehmen.

Kate blieb den ganzen Tag im Krankenhaus. Sie begleitete ihren Vater zu den Gesprächen mit den Ärzten und kümmerte sich darum, wie es mit ihrer Mutter weiterging. Als sie am nächsten Morgen wieder nach Suffolk aufbrach, umarmte ihr Vater sie, wie er es noch nie getan hatte.

»Du bist ein tolles Mädchen«, sagte er. Seine militärische Korrektheit kehrte zwar langsam zurück, aber seine Augen funkelten. Sie standen noch ganz am Anfang, das Band zwischen ihnen dreien war jedoch neu geschmiedet.

Als Kate die Kinder am Montag von der Schule abholte, kam Sam auf sie zugelaufen und umarmte sie, als sei sie das einzig Verlässliche in einer unstabilen Welt.

»Was ist los, mein Schatz?«, flüsterte sie und drückte ihn fest an sich.

»Ich hab dich lieb, Mummy«, sagte er nur. »Du darfst nicht mehr weggehen.«

Als sie später zusammen am Tisch saßen, fragte Daisy fast beiläufig: »Mummy, stirbt Granny Carter jetzt?«

Sam richtete sich auf und sah seine Mutter mit großen Augen an.

Kate brauchte eine Sekunde, ehe sie antwortete: »Nein, Liebling. Sie war zwar sehr krank, aber es geht ihr schon wieder viel besser.« Wie hatten sie und Joyce und Simon nur so sehr mit ihren Erwachsenensorgen beschäftigt sein können, dass sie sich gar nicht mehr um die Ängste der Kinder gekümmert hatten?

Sie erklärte ihnen, dass Granny Carter noch im Krankenhaus sei, aber dass die Ärzte und Schwestern sie dort gesund machen würden, damit sie schnell wieder nach Hause konnte. Dann kam sie auf ihren Aufenthalt bei Simon zu sprechen. Sie wollte wissen, ob es den Kindern gefallen hatte.

Sam nickte langsam. »Wir waren bei den Schiffen«, sagte er mit vollem Mund. »Und da, wo den Leuten früher der Kopf abgeschlagen wurde.«

»Daddy hat vergessen, Sam zu fragen, ob er seine Zähne geputzt hat«, meinte Daisy altklug. Im nächsten Moment schien sie ihre Bemerkung zu bereuen, denn sie fügte rasch hinzu: »Aber das war nicht schlimm, weil Sammy sie am nächsten Morgen dafür zweimal geputzt hat.«

Sie fangen jetzt schon an, mich und Simon voreinander zu schützen, dachte Kate erschrocken.

»Mummy, fahren wir nächstes Wochenende wieder nach London?«, fragte Daisy.

»Nein«, antwortete Kate und wartete gespannt auf Daisys Reaktion.

»Oh, gut«, sagte Daisy. »Es ist so schrecklich weit. Ich frage Dad lieber, ob er nicht wieder nach Hause kommen und bei uns wohnen will.«

Kate riss sich zusammen, aber sie konnte ihre Tränen kaum zurückhalten.