36. KAPITEL

Oktober 2004

Seit einer ganzen Weile schon saß Kate in der Bar des Swan Hotels in Southwold vor einem Glas Mineralwasser und wartete auf Max. Immer wieder wanderte ihr Blick zur Tür, dann las sie einen Absatz des Berichts, den Jasmin für das nächste Treffen der Schulrettungsinitiative angefertigt hatte. Diese Frau ist wirklich grandios, dachte Kate und zählte die Sponsoren, die Jasmin für ihre Ziele gewonnen hatte. Sie selbst hatte einer Journalistin von der Lokalzeitung ein Interview gegeben, was sich ebenfalls ausgezahlt hatte. In einer der letzten Ausgaben hatte es einen langen Bericht über die Schule gegeben, der Jasmins Bemühungen sicher entgegengekommen war.

»Es tut mir schrecklich leid, Kate. Wartest du schon lange?« Max wirkte trotz seiner perfekt gebügelten Cordhose und seines makellosen Jacketts aufgelöst. Atemlos stand er vor ihr und zog sich den Schal vom Hals.

»Nur ein paar Minuten. Der Verkehr, nicht?«, fragte sie jetzt lächelnd und steckte den Bericht in ihre Handtasche.

»Nein. Claudia, meine Exfrau, hat die Kinder zu spät abgeholt.«

Ihr Tisch im hinteren Teil des Restaurants war fertig, daher gingen sie hinüber und setzten sich. Nachdem sie bestellt hatten, schob Max ihr ein kleines Päckchen zu. »Die Tagebücher«, sagte er. »Gestern Abend habe ich den letzten Band gelesen.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Eine unglaublich bewegende Geschichte. Ich bin ehrlich gesagt völlig schockiert. Ich hatte von alledem überhaupt keine Ahnung. Kein Wunder, dass die beiden Seiten der Familien kein Wort mehr miteinander gewechselt haben.«

»Ja, man kann gut verstehen, dass sie diese Geschichte nicht einfach ignorieren konnten, nicht?«

»Ich weiß nicht mal, ob Raven und Vanessa meiner Mutter die ganze Wahrheit erzählt haben«, sagte Max. »Von ihr habe ich jedenfalls nicht viel erfahren. Ich wusste nur, dass Vanessa schon mal verheiratet und dass ihre Scheidung ein ziemlicher Skandal war. Aber ich dachte immer, das hätte daran gelegen, dass in den Zwanzigerjahren jede Scheidung ein Skandal war.«

»Und was sagst du zu der Geschichte mit dem Baby?«

»Herzzerreißend. Und so grausam. Arme Agnes.«

»Glaubst du, ich habe etwas überlesen, Max? Es ist so hilfreich, mal eine andere Perspektive zu haben. Hast du vielleicht irgendeinen Hinweis entdeckt, den ich nicht bemerkt haben könnte?«

»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Abgesehen von der Sache mit der verlorenen Medaillonhälfte. War es Zufall, dass sie genau in der Zeit der Geburt verschwunden ist?«

»Agnes hat nicht gesagt, dass sie genau in der Zeit der Geburt verschwunden ist, oder? Vielleicht hat Miss Selcott sie ja aus reiner Boshaftigkeit gestohlen.« Dann fiel Kate etwas ein. »Max, es gibt da noch etwas, das ich dir nicht erzählt habe. Es ist mir selbst erst klar geworden, als ich den letzten Band der Tagebücher gefunden habe.« Sie erzählte ihm, dass sie duch einen Zufall Harrys Medaillonhälfte in einem Kuriositätenladen in Norwich erstanden hatte.

Er war erstaunt. »Tatsächlich? Ich würde sie gern einmal sehen.«

»Ich habe sie mitgebracht.« Kate grub in ihrer Handtasche und reichte sie ihm über den Tisch.

Aufmerksam betrachtete er sie, drehte sie um und sah das verblasste Foto an. Dann gab er sie Kate zurück. »Es ist nicht besonders hübsch, aber interessant. Übrigens kenne ich diesen Laden. Ich habe dort mal eine Lea-Stein-Brosche für Claudia gekauft. Sie haben eine Menge Art-déco-Schmuck.«

Kate steckte die Kette wieder in ihre Handtasche. »Chronologisch gesehen war es das Medaillon, das mich überhaupt erst in diese Geschichte hineingezogen hat.«

Nachdem Simon sich über ihre Traumhaus-Fantasien lustig gemacht hatte, hatte Kate niemandem mehr von ihren Träumen erzählt, nicht einmal Agnes. Inzwischen wusste sie, dass sie als Kind ein Foto des Hauses gesehen und im Unterbewusstsein gespeichert haben musste. Aber wieso tauchte es ausgerechnet wieder auf, nachdem sie das Medaillon erstanden hatte? Vielleicht wurde es Zeit, dem Schmuckstück einen angemessenen Raum zu geben. Und Max hatte schließlich das Recht, alles zu erfahren. Teile von Agnes’ Geschichte waren auch seine Geschichte. Also erzählte Kate ihm, ein wenig holprig zunächst, weil es ihr peinlich war, wie sie von Seddington House geträumt hatte und über ihre Träume nach dem Lesen der Tagebücher.

Sie erinnerte sich an die Worte des letzten Briefs, den Agnes zusammen mit seiner Hälfte des Medaillons an Harry geschickt hatte. Wenn du dieses Medaillon anschaust, kannst du von mir träumen

»Ich weiß, dass das jetzt völlig verrückt klingt, Max«, schloss sie. »Aber ob es nun mit dem Medaillon zu tun hat oder mit Agnes’ Tagebuch, es gibt irgendeine psychologische Verbindung, die ich einfach nicht näher erklären kann.«

Max, der Kate so gebannt zugehört hatte, dass seine Suppe darüber kalt geworden war, sagte eine Weile nichts. Dann trank er einen Schluck Wein und stellte sein Glas ab.

»Als ich noch zur Schule ging«, erinnerte er sich, »habe ich manchmal von Orten geträumt, an denen ich nie war. Und irgendwann, manchmal viel, viel später, kam ich dorthin und dachte: Hier war ich schon mal! Es waren oft ganz gewöhnliche Orte, zum Beispiel ein altes Haus in Cambridge, das zu einem Museum umgebaut wurde. Ich war mir sicher, dass ich es schon einmal gesehen hatte, bevor es zum Museum wurde, aber mein Vater behauptete, dass weder er noch meine Mutter je mit mir dort gewesen seien.« Max schüttelte den Kopf. »Ein anderes Mal war es ein Strand. Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen, aber damals fing ich an zu glauben, dass ich tatsächlich schon einmal dort war, vielleicht in einem anderen Leben. Das klingt albern, nicht?« Er lächelte. »Ich war damals in der Pubertät, und wahrscheinlich haben meine Hormone bloß verrückt gespielt. Ich will damit nur sagen, dass ich dich nicht für verrückt halte.«

»Danke.« Kate war erleichtert, dass sie jemanden gefunden hatte, dem sie von ihren Träumen erzählen konnte, ohne dafür ausgelacht zu werden.

»Ich weiß nur nicht, was das alles nun für uns bedeutet«, schloss Max und wandte sich endlich seiner Suppe zu. »Einmal angenommen, das Baby ist nicht gestorben, sondern Selcott hat es mit Listers Hilfe weggegeben … Gott!« Er legte den Löffel aus der Hand. »Das ist ja entsetzlich! Sie werden es doch nicht umgebracht haben, oder?«

Kates Löffel fiel in die Suppe. »Bestimmt nicht. Die Gouvernante war zwar grausam zu Agnes, aber sie war eine aufrechte Christin. Ein Kind zu töten hätte gegen ihren Glauben verstoßen.«

»Hoffen wir, dass du Recht hast. Okay, sie und Lister haben das Baby also weggegeben. Was macht man in einem kleinen Ort, wenn man ein Baby weggeben will?«

»Dazu ist eine gewisse Ortskenntnis nötig, oder?«, meinte Kate nachdenklich. »Man muss ein Ehepaar kennen, das sich dringend ein Kind wünscht, das Baby sofort nimmt und über seine Herkunft schweigt.«

»Selcott könnte so jemanden gekannt haben, wahrscheinlicher aber Lister.«

»Es muss noch nicht einmal in Seddington gewesen sein. Wo hat Lister denn gewohnt, wenn er nicht in Seddington House war?«

»Keine Ahnung, wie wir das herausfinden können.«

Kate beobachtete Max verstohlen, als der Ober kam und ihre Teller abräumte. Er schien angestrengt nachzudenken. Die Hauptspeise wurde serviert und ihre Gläser neu gefüllt. Max blickte auf.

»Sieht köstlich aus, findest du nicht auch?« Sie hatten beide Fisch bestellt. »Was ist so lustig?«

»Ich amüsiere mich darüber, dass du dich plötzlich so für die Geschichte interessierst. Vor allem nachdem du mir vorgeworfen hast, ich sei besessen davon.«

»Erstens geht es um meine Familie, und zweitens kann man Agnes’ Verzweiflung gut nachvollziehen, wenn man ihre Tagebücher liest. Ich verstehe jetzt, warum du der Sache unbedingt auf den Grund gehen willst, Kate. Und ich verstehe auch, warum Agnes Seddington House dir und nicht mir hinterlassen hat.«

»So?« Kate war erleichtert, wusste aber nicht, was sie sagen sollte.

»Ich weiß, dass meine Tante sich in den letzten Jahren große Mühe gegeben hat, nett zu mir zu sein, und ich weiß auch, dass sie ein sehr gerechter Mensch war. Sie hat mich für das, was ihr Bruder getan hat, nicht verantwortlich gemacht. Aber sie konnte die Vergangenheit auch nicht ignorieren. Sollte sie ihr Haus an einen Enkel des Mannes vererben, der ihren Vater so grausam betrogen hat? Und du hast vollkommen Recht – ich sehe Raven tatsächlich sehr ähnlich. Ich will damit nur sagen, dass ich Agnes’ Entscheidung akzeptiere. Ich werde das Testament nicht anfechten.«

»Danke«, antwortete Kate schlicht. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihm von Simons Forderungen erzählen sollte. Sie entschied sich, es zu tun. Schließlich war Max Anwalt, und seine Meinung interessierte sie.

Schweigend hörte er zu, während Kate schilderte, wie Simons Anwalt Seddington House benutzte, um so um ihr Vermögen zu feilschen.

»Das alles ist nur schwer zu beurteilen, bevor das Testament bestätigt ist.« Letzte Woche hatte Raj alle Unterlagen zur Testamentseröffnung an das Nachlassgericht geschickt, und jetzt hieß es erst einmal abwarten. »Aber Jasmin meint, ich sei die Erbin und nicht Simon, außerdem hätte ich erst davon erfahren, als die Trennung bereits im Vollzug war. Jasmin glaubt, dass Simon keinen Anspruch auf das Erbe hat, dass es jedoch für die Teilung unseres gemeinsamen Vermögens eine Rolle spielen könnte.« Schulterzuckend legte Kate Messer und Gabel zurück auf den Teller.

»Das alles muss schrecklich belastend für dich sein.« Mitfühlend drückte Max ihre Hand.

»Das ist es auch, und trotzdem versuche ich, was das Haus angeht, möglichst rational zu bleiben«, antwortete Kate und zog ihre Hand zurück. »Im Moment sind mir die Kinder das Wichtigste. Vor allem Sam nimmt es sich immer sehr zu Herzen, wenn ich ihn und Daisy zu Simon bringe. Dabei ist er gern bei seinem Vater. Daisy findet es aufregend, zwei Zuhause zu haben, aber wenn sich der Kitzel des Neuen erst mal legt, wird sie vielleicht auch darunter leiden. Was die Kinder betrifft, ist Simon glücklicherweise sehr vernünftig. Ich schätze, die Idee mit den finanziellen Forderungen kommt von seinem Anwalt, nicht von ihm. Jasmin sagt jedenfalls, ich solle das nicht zu persönlich nehmen.«

Kate machte eine Pause, dann fuhr sie fort. »Ich habe sehr viel über das Haus nachgedacht. Ich liebe es, aber man muss eine Menge Geld investieren, um ein modernes Familienheim daraus zu machen. Und was soll mit dem gesamten Inventar geschehen? Wir wissen immer noch nicht genau, wer was kriegt.«

»Agnes’ Nachfahren müssen sich innerhalb von sechs Monaten nach ihrem Tod erklären, nicht wahr? Das wäre Mitte Januar, also in zweieinhalb Monaten.«

»Das ist ja noch eine kleine Ewigkeit. Diese Ungewissheit ist sicher belastend.«

»Ein bisschen schon.« Er grinste. »Wenn plötzlich jemand aus dem Nichts auftaucht und behauptet, er sei Agnes’ Sohn, bekomme ich keinen Penny.«

»Und trotzdem bist du ganz schön verwickelt in die ganze Geschichte.«

»Das bin ich tatsächlich. Offen gestanden werde ich mir auch keine allzu große Mühe geben, das Geheimnis zu lüften. Ich fürchte, da bist du ganz auf dich allein gestellt, Kate.«

»Das kann ich dir nicht verübeln.« Sie lächelte.

»Kaffee für uns beide?«, fragte Max und bestellte, nachdem Kate bejaht hatte. Als der Kaffee kam, nahm er seine Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch. »Der Abend war sehr schön. Sollen wir ihn irgendwann mal wiederholen?«

Ihre Blicke trafen sich. Kate registrierte, dass ihm eine Locke in die Stirn gefallen war. Ohne seine Brille wirkte Max sehr jungenhaft und sehr sensibel. Und so vertraut. Sagte man nicht immer, Frauen verlieben sich in Männer, die ihren Vätern oder Brüdern ähneln? Aber sie hatte keinen Bruder, nicht einmal einen Cousin. Vielleicht wäre der Sohn, den ihre Mutter verloren hatte, wie Max gewesen. Aber Kate nahm wahr, dass sie nur Zuneigung für ihn empfand, keine Leidenschaft. Sie sagte: »Was hältst du davon, wenn du an einem Sonntag, an dem Sam und Daisy zu Hause sind, mit deinen Töchtern zum Mittagessen kommst? Die zwei freuen sich sicher über ihre – ja, was sind sie eigentlich?« Kate zog rasch einen Zettel und einen Stift aus der Handtasche und zeichnete einen kleinen Familienstammbaum. Sie schüttelte den Kopf. »Wie war das noch mit den Cousinen ersten, zweiten und dritten Grades?«

Max setzte seine Brille wieder auf und betrachtete die Zeichnung. Dann lächelte er. »Sagen wir einfach, sie sind Cousinen. Und es ist eine schöne Idee, dass sie sich einmal kennen lernen sollen.«