37. KAPITEL

Dezember 2004

Ein warmer, feuchter Herbst ging in einen warmen, feuchten Winter über. Anfang Dezember lag Kate eines Abends im Dunkeln und hörte zu, wie heftiger Regen auf das Dach von Paradise Cottage prasselte. Sie hatte sich anfangs an dieses Geräusch gewöhnen müssen, jetzt gefiel ihr die Vorstellung, dass sie nur ein paar dünne Schichten Mörtel und Stroh vom offenen Himmel trennten.

Die Wanduhr unten schlug fünf Mal. Im Winter war dies eine seltsame Zeit, um wach zu sein. Zu früh um aufzustehen, zu spät, um noch einmal richtig einzuschlafen und um sieben vom Wecker aus dem Schlaf gerissen zu werden, zumal sie einen anstrengenden Tag vor sich hatte. Sie und Joyce halfen Jasmin beim Anfertigen der Kostüme für das Krippenspiel, in dem Daisy eine Schneeflocke spielte und Sam einen König. Um neun Uhr sollte die Anprobe beginnen.

Also begann Kate über die Nachricht nachzudenken, die sie am Tag zuvor erhalten hatte. Jasmin hatte angerufen, um ihr einen Brief von Simons bissigem Anwalt vorzulesen. Kate wäre vor Erleichterung fast das Telefon aus der Hand gefallen.

Simon hatte seine Forderungen schließlich doch zurückgezogen. Seddington House würde bei der Vermögensaufteilung nicht berücksichtigt werden. Kate würde einen nicht unbeträchtlichen Anteil des Kapitals erhalten, das ihnen der Verkauf des Hauses in Fulham eingebracht hatte. Die Kleinigkeiten würden sie zwischen sich aufteilen.

Kate wusste, dass die Einzelheiten noch verhandelt werden mussten, aber es gab nun wenigstens eine grundsätzliche finanzielle Einigung. Sie verspürte keine Genugtuung, nicht einmal Zufriedenheit. Dazu waren die Verletzungen durch Simons Seitensprung noch viel zu frisch. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, weil sie ihm die Kinder brachte, fühlte sie sich an ihren Verlust erinnert. Doch ähnlich wie ein Schiffbrüchiger, der sich erschöpft, aber lebend an die Küste gerettet hatte, empfand sie tiefe Dankbarkeit, es geschafft zu haben, und sah sogar einen ersten Hoffnungsschimmer. Jetzt konnte sie allmählich einen Schritt nach vorn wagen.

Kurz nach dem Gespräch mit Jasmin hatte Raj bei Kate angerufen.

»Farrell’s hat eine Liste der Gemälde geschickt, die sie zum Verkauf empfehlen«, sagte er. »Ich schicke sie Ihnen zu.« Zwei Wochen zuvor hatten er, Kate und Max sich mit den Beamten des Nachlassgerichts getroffen. Das Testament würde geprüft und den Testamentsvollstreckern Handlungsvollmacht zugesichert, sobald die Erbschaftssteuer gezahlt worden war. Die Summe schien sehr hoch, aber nach Rücksprache mit dem Steuerberater hatten sie beschlossen, keinen Einspruch dagegen zu erheben. Das bedeutete allerdings, dass sie ein Dutzend der wertvollsten Gemälde und den Schmuck von Agnes sofort verkaufen mussten.

»Wir haben Glück«, meinte Raj. »Bei großen Nachlässen ziehen sich die Verhandlungen oft über Monate hin. Das Engagement von Farrell’s hat es uns recht einfach gemacht. Sobald diese Steuerrechnung erledigt ist, können wir damit beginnen, das Erbe auszuzahlen.«

Debbie und Dan hatten Recht behalten. Damals im Sommer, als so viele Veränderungen auf Kate eingestürzt waren, das Ende ihrer Ehe, Agnes’ Tod und die Belastung, die Angelegenheiten der alten Dame zu regeln, hatten die beiden ihr gesagt, dass sich viele Probleme von selbst erledigen würden. Kate hatte nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern eine innere Stärke und Entschlossenheit bei sich entdeckt, die sie niemals für möglich gehalten hätte. Und ganz allmählich hatte sie das Schlimmste hinter sich gebracht.

Die größte Befriedigung verschaffte ihr die Tatsache, dass die lange Störung in der Beziehung zu ihren Eltern beseitigt worden war und es hier und dort Anzeichen für einen Neuanfang gab.

Einige Wochen zuvor war Kate mit Daisy und Sam zu ihrem Vater und ihrer Mutter gefahren. Zu ihrem Erstaunen ging Barbara inzwischen regelmäßig zu einer Therapeutin, einer Spezialistin für Depressionen. Die Wirkung der regelmäßigen Sitzungen machte sich bereits bemerkbar.

Major Carter hatte Kate anvertraut: »Dr. Alton nimmt uns endlich ernst. Ich dachte immer, diese ganzen Therapien seien unsinnig, aber das, was sie uns erklärt, erscheint mir sehr sinnvoll. Und es wirkt. Deine Mutter zeigt plötzlich wieder Interesse an ihrer Umgebung. Redet von Orten, wo wir waren, als wir uns damals kennen lernten. Und stell dir vor, sie will, dass ich Kontakt zu unseren alten Freunden Bob und Janey aus Yorkshire aufnehme. Wir haben sie seit Jahren nicht gesehen. Ich habe ihnen geschrieben und sie zu uns eingeladen.«

»Wie schön, Dad.«

Auch die Beziehung zwischen Barbara und ihren Enkeln machte große Fortschritte.

»Ich habe Grandad gebeten, ein bisschen Spielzeug für euch zu besorgen«, sagte Barbara. Sie zog eine große Kiste mit Puzzles, Gesellschaftsspielen und Autos aus einer Wohnzimmerecke, während Desmond ein hübsches Puppenhaus, das er selbst gebaut hatte, und ein Parkhaus aus einem Secondhand-Shop herbeischleppte. Es gab sogar die Lieblingskekse der Kinder und statt der üblichen Dosenfrüchte Schokoladeneis zum Nachtisch. »Großeltern müssen ihre Enkel verwöhnen«, meinte Barbara. »Gib nur Benjy keinen Keks, Sam. Er ist jetzt schon viel zu dick.«

Das deutlichste Zeichen für die Veränderung war die Tatsache, dass jetzt nur noch ein Foto von Nicola im Wohnzimmer stand. Es war das große Studio-Porträt, das im Winter vor ihrem Tod aufgenommen worden war. Kate betrachtete es traurig. Nicola lächelte, und ihre Augen funkelten vor Lebensfreude. Um dieses Foto herum standen nun ein halbes Dutzend Bilder von Daisy, Sam und Kate sowie ein Hochzeitsfoto in Schwarzweiß, das Desmond in seiner Offiziersuniform zeigte und Barbara als lebensfrohes Ebenbild ihrer toten Tochter. Ein Schnappschuss von Tante Maggie mit ihrer geliebten Katze vervollständigte den Familienkreis.

Major und Mrs Carter wollten Weihnachten für ein paar Tage nach Paradise Cottage kommen.

»Das heißt, dass du bei den Kindern schlafen musst«, warnte Joyce ihre Schwiegertochter.

»Und das wiederum heißt verdammt wenig Schlaf am Weihnachtsmorgen.« Kate lachte. »Das macht nichts. Ich freue mich, wenn Mum und Dad dabei sein können, wenn die Kinder ihre Geschenke öffnen. Vielen Dank, Joyce.«

Schritte nach vorn machen.

Schlaftrunken wie sie war, wanderten Kates Gedanken nun zu Dan.

Seit sie im August zusammen Kaffee trinken waren und sie ihm die Tagebücher zum Lesen gegeben hatte, hatte sie ihn nicht mehr allein gesehen. Zuerst war er in Urlaub gefahren, dann hatten der Schulalltag der Kinder, die Wochenendbesuche bei Simon, die Krankheit ihrer Mutter und die vielen anderen kleinen Dinge Kate in Atem gehalten, und sie war froh über diese Ablenkung gewesen.

Ein paarmal war sie Dan zufällig über den Weg gelaufen, einmal zusammen mit Max in Seddington House und einmal auf dem Abenteuerspielplatz, wo er mit Shelley und sie mit ihren Kindern gewesen war. Jetzt stellte sie fest, dass sie Sehnsucht nach ihm hatte, aber sie hatte den Verdacht, dass er sie in letzter Zeit mied.

Lag das daran, dass er nicht mehr an ihr interessiert war? Oder war er noch interessiert und versuchte sich Qualen zu ersparen? Wie auch immer, jedes Mal wenn Kate in letzter Zeit an ihn dachte, verspürte sie einen leise pochenden Schmerz, als unterdrücke sie tiefe Emotionen.

Die Wunde über das Ende ihrer Ehe war noch längst nicht verheilt, aber Kate begann allmählich zu akzeptieren, dass Simon nicht mehr zu ihrem Leben gehörte. Und der Gedanke an Dan war wie Balsam für ihre Seele. War das gut oder schlecht? Sie wusste es nicht.

Was sie jedoch wusste, war, dass sie bereit war, weitere Schritte nach vorn zu machen. Sie begann, Ausschau nach ihm zu halten – in den Geschäften von Halesworth, wenn sie durch Seddington fuhr, wenn sie Blumen auf Agnes’ Grab legte. Er hatte ihr damals im August gesagt, dass er ihre Freundschaft sehr schätzte. Wieso rief er sie dann nicht an?

Die Uhr unten schlug sechs Mal und riss Kate aus ihren Gedanken. Im nächsten Moment öffnete sich ihre Schlafzimmertür, und eine kleine Gestalt schlüpfte ins Zimmer. Sam kletterte zu ihr ins Bett und kroch wie ein warmer Welpe zu seiner Mutter unter die Decke. So fand Joyce sie um Viertel vor acht fest schlafend vor.

Zwei Tage später rief Dan endlich an. Zuerst brachte Kate vor lauter Freude kaum ein Wort heraus. Er erkundigte sich nach ihrer Mutter, über die Fortschritte der Testamentsvollstreckung, nach den Kindern. Und Kate, die das wahre Motiv hinter seinen Fragen witterte, deutete vorsichtig an, wie es zwischen ihr und Simon stand.

»Hast du am nächsten Donnerstag etwas vor?«, fragte er sie schließlich.

Nein, hätte sie fast gesagt, aber dann erinnerte sie sich daran, dass eine Frau einem Mann immer das Gefühl geben musste, etwas vorzuhaben. »Ich schaue mal in meinen Kalender.«

»Ich weiß, dass es kurz vor Weihnachten ist, aber wir veranstalten in der Galerie eine Party zur Eröffnung unserer neuen Ausstellung. Alison Rosa – kennst du ihre Bilder?«

»Nein, tut mir leid«, gab Kate zu.

»Sie muss nach Weihnachten ins Krankenhaus, daher haben wir uns entschlossen, die Vernissage vorzuziehen. Ein paar von uns wollen anschließend noch zusammen essen gehen. Es wäre schön, wenn du auch mitkämst.«

»Ich bin am Donnerstag noch frei, aber …«, sie sah, wie Joyce im Hintergrund hantierte, »… ich muss noch einen Babysitter finden.« Kate überlegte kurz, ob es für Joyce komisch sein könnte, zu babysitten, damit ihre Schwiegertochter sich mit einem Mann treffen konnte, aber sie verdrängte den Gedanken sofort wieder. Schließlich würde sie nicht allein mit ihm sein, es kamen ja noch andere Leute. Zur Not würde sie eben Michelle fragen.

»Ich sage dir noch Bescheid.«

»Ja. Ich hoffe, es klappt«, sagte Dan leise ins Telefon, und Kates Herz machte vor Freude einen kleinen Hüpfer.

Nachdem sie aufgelegt hatte, stand sie eine Weile wie in Trance. Als sie sich langsam umdrehte, um in ihr Zimmer hinaufzugehen, sah sie, dass Joyce in der Küchentür stand und eine Tasse abtrocknete. Sie lächelte, aber es war ein wehmütiges Lächeln.

»War das der, von dem ich glaube, dass er es war?«, fragte sie leise. »Dann werde ich am Donnerstag für dich babysitten.«

»Danke«, antwortete Kate. Als ihre Schwiegermutter sich umdrehte, wurde ihr plötzlich etwas bewusst: Sie und Sam und Daisy mussten von Joyce und von Paradise Cottage fortziehen, sobald sie etwas Neues gefunden hatten.