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Blut
Großvater machte den besten Gammelhai auf der ganzen Insel. Ich machte den zweitbesten. Das haben mir schon mehrere bestätigt, Schafbauer Magnús Magnússon von Hólmaendar zum Beispiel, der seinen Gammelhai direkt von mir bezog und gut Akkordeon spielen konnte. Er sagte es jedes Mal: »Kalmann minn«, sagte er, »dein Großvater hat den besten Gammelhai in ganz Island gemacht. Aber deiner ist fast genauso gut!« Und das war nur logisch, weil ich ja vom Besten gelernt hatte.
Ich wünschte, Großvater wäre bei mir gewesen, als die Sache mit Róbert McKenzie passierte. Großvater hätte Rat gewusst. Und ich war, ganz ehrlich gesagt, ein bisschen sauer auf ihn, dass er mich in diesem Schlamassel einfach alleinließ. Ich wünschte, ich wäre an jenem Tag gar nicht auf Fuchsjagd gegangen. Ich wünschte, Róbert wäre so spurlos verschwunden wie ein Schiff am Horizont. Auf dem Meer gibt es nämlich keine Spuren. Ein Meer sieht immer so aus, als wäre es noch nie von jemandem berührt worden, ausgenommen dem Wind. Ist es nicht seltsam, dass man nur mit Luft Spuren auf dem Wasser machen kann?
Ausgerechnet ich musste an der Stelle beim Arctic Henge Monument vorbeikommen. Dabei folgte ich bloß der Fährte eines Polarfuchses, dem ich den Namen Schwarzkopf gegeben hatte, wie das Shampoo, aber das hatte mit dem Fuchs nichts zu tun. Ein ungezogener Fuchs war er, ein junges Männchen, einer, der sich bis an die Häuser herangetraute und sich da nach Essbarem umschaute. Vielleicht mochte ich ihn gerade deshalb. Und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihn auch gar nicht abgeknallt. Ich hatte einen heimlichen Pakt mit ihm. Aber Hafdís hatte mich gebeten, dem Fuchs eine Lektion zu erteilen, und jeder weiß, was das bedeutet, und wenn dich die Schulrektorin, die auch zur Gemeindeverwaltung gehört, um einen Gefallen bittet, sagt man nicht einfach nein. Zudem war Hafdís eine sehr schöne Frau, auch wenn sie nicht mehr jung war und drei erwachsene Kinder hatte. Manchmal fragte ich mich, was Hafdís hier in Raufarhöfn eigentlich verloren hatte. Sie sah nämlich aus wie eine Moderatorin im Fernsehen. Sie sagte, der kleine Kerl schleiche sich gefährlich nahe hinterm Gemeindehaus rum, und wenn man ihn verscheuche, mache er sich manchmal Richtung Vogar davon. Ich würde ihn am dunklen Fell und am noch etwas dunkleren Kopf erkennen.
Also einer mit blauem Fell, ging mir durch den Kopf, denn zu diesem Zeitpunkt hätte er noch weiße Flecken im Winterfell gehabt, wenn er die Farbe gewechselt hätte. Hafdís kannte sich mit Tieren nicht so gut aus, obwohl sie die Schulrektorin war. Aber ich sagte nichts, denn eine Schulrektorin darf man nicht belehren. Das würde die auch gar nicht zulassen.
Schwarzkopf war also ein Polarfuchs mit blauem Fell. Das sagt man so, obwohl das Fell gar nicht blau ist. Es ist braun, grau oder dunkelgrau. Die blauen Füchse ändern ihre Fellfarbe zum Saisonwechsel nicht, weil sie sich meistens an der Küste rumtreiben. Zwischen den schwarzen Steinen, Lappentang und Treibholz ist es die beste Tarnung. Da fällst du mit weißem Fell auf, denn am Strand liegt meistens kein Schnee, und darum brauchen die isländischen Füchse gar kein weißes Fell wie die Füchse in Sibirien oder in Grönland, wo alles schön weiß ist.
Das alles hätte ich Hafdís erklären können, machte ich aber nicht. Ich tippte nur mit dem Zeigefinger an die Krempe meines Cowboyhutes – so sagt man in Amerika »Okidoki«, denn von da war mein Cowboyhut – und nahm hinterm Gemeindehaus die Fährte auf, kletterte den Hang hoch und überblickte das ganze langgezogene Dorf, das neuere Holtquartier mit dem Schul- und Sportgebäude zu meiner Rechten, der Hafen und die Kirche zu meiner Linken. Der Hüttenteich war noch immer mit einer matschigen Eisschicht überzogen, aber aufs Eis hinausgewagt hätte ich mich nicht. Ich ging der Kante des Hanges entlang, bis ich auf der Höhe des Schulhauses war, kletterte wieder runter, ging am Schulhaus und am leeren Campingplatz vorbei, weiter zur Küste und von da der Strandlinie entlang bis in die Bucht von Vogar. Außer ein paar Eiderenten, Heringsmöwen und Dreizehenmöwen, die auf dem Wasser saßen und nichts machten, sah ich jedoch keine Tiere. Ich malte mir aus, wie ich Schwarzkopf das Fürchten lehren würde. Insgeheim hoffte ich aber, dass der Fuchs zutraulich war, ich mich mit ihm befreunden und ihn als Haustier würde halten können. Das gibt es nämlich. Zum Beispiel in Russland. Ich glaube, wenn ich einen gezähmten Fuchs als Haustier gehabt hätte, hätte ich bei den Frauen bessere Chancen gehabt.
Schwarzkopf hätte an jenem Tag ein weißes Winterfell gebrauchen können, denn es schneite wie verrückt; dicke, schwere Flocken, weshalb selbst die Steine am Strand schneebedeckt waren. Das Wasser lag matt und grau, bewegte sich kaum, das Wetter war ruhig. Bis auf das Nieseln des Schnees war es so still, dass man einfach ein Liedchen singen musste, denn der Schnee schluckte den Gesang, und niemand konnte mich hören.
Ich sang gerne. Aber das wusste eigentlich niemand. Schwarzkopf wusste es vielleicht, weil er mich gehört und sich darum versteckt haben muss, denn an jenem Tag bekam ich ihn nicht zu Gesicht, obwohl ich stundenlang da draußen herumstolperte, um die ganze Bucht herum, in die Melrakkaslétta hinein, zu den Glápavötn-Seen hoch und im Zickzack zum Arctic Henge rüber, dem halbfertigen arktischen Steinkreis, den Róbert McKenzie vor ein paar Jahren hatte errichten lassen. Ich ging gar nicht mehr davon aus, dass ich überhaupt einem Säuger begegnen würde, denn das Wetter war ungeeignet, die Sicht schlecht. Ich sah nicht einmal Schneehühner. Aber es war nicht mehr so kalt wie im Winter, nur etwa null Grad. Die Märzhelligkeit war angenehm. Und außerdem hatte ich es Hafdís versprochen, und ein Versprechen, das man einer Schulrektorin gibt, hält man.
Die Leute stellen sich die Jagd immer so spannend vor, glauben, dass man Spuren liest, die Nase in den Wind hält, die Sinne anstrengt, die Tiere schließlich aufschreckt und ihnen hinterherjagt. Quatsch. Man sitzt meistens auf dem kalten Boden und hofft, dass einem etwas vor den Lauf gerät. Dazu braucht man eine gute Portion Geduld. »Des Jägers wichtigste Tugend«, wie mein Großvater immer sagte. Er war wie ein Mentor. Ein Mentor ist ein Lehrer, der aber keine Prüfungen macht.
Doch an jenem Tag hatte ich keine Lust, irgendwo auf dem kalten Boden zu sitzen, denn ich vermutete, dass Schwarzkopf in seinem warmen Bau meinem Gesang zuhörte und sich die Ohren zuhielt. Ich frage mich, wieso ich ausgerechnet an jenem Tag zum Arctic Henge hochging. Wieso bog ich nicht einfach ab und ging heim? Es wäre besser gewesen. Denn da oben, ganz in der Nähe des Arctic Henge, stieß ich auf die Stelle mit dem Blut. Und es war viel Blut. Erstaunlich eigentlich, wie viel Blut in einem Menschen drin ist.
Das Blut glänzte rot und dunkel im weißen Schnee. Die Schneeflocken legten sich unaufhörlich darauf und schmolzen in der Blutlache. Mir war ganz heiß vom Gehen, ich schwitzte, aber weil ich jetzt plötzlich stillstand und einfach nur bewegungslos auf die Blutlache starrte, begann ich zu schlottern. Erschöpfung machte sich in mir breit. Meine Glieder waren plötzlich bleischwer, als hätte ich eine anstrengende Arbeit gemacht. Ich dachte an Großvater, während ich zuschaute, wie das Blut die Schneeflocken aufsog, bis die rote Stelle unterm Neuschnee verblasste. Eine ganze Weile muss ich einfach nur dagestanden haben, aber schließlich gab ich mir einen Ruck, steif vor Kälte, und erwachte wie aus einem Traum. Ich schaute mich um und wusste erst gar nicht, wo ich mich befand, bis ich die Steinblöcke des Arctic Henge erkannte und mich an Schwarzkopf erinnerte. Ob er das Blut gerochen hatte? Vielleicht konnte ich ihm hier auf‌lauern.
Natürlich schaute ich mir die ganze Sauerei etwas genauer an. Ich bemerkte Spuren, aber sie waren durch den Neuschnee nur noch undeutlich zu erkennen. Die Vertiefungen führten von der Blutlache weg Richtung Dorf, hinunter an den Hafen, dann verloren sie sich im Schneetreiben. Ich war plötzlich nicht mehr sicher, ob es jetzt meine Fußspuren waren oder die eines anderen. Oder waren es zwei Spuren? Mehrere Leute? Aus welcher Richtung war ich eigentlich gekommen? Wohin hatte ich gewollt? Ich schaute mich nach allen Seiten um. Ich war mutterseelenallein. Die Schneeflocken, die unaufhaltsam auf mich niedernieselten, verwirrten mich. Wenn alles weiß ist, weiß oben, weiß unten und weiß rundherum, geraten die Sinne durcheinander. Vielleicht waren die Spuren gar keine Spuren, sondern bloß Vertiefungen im Boden, zwischen den Grashöckern, und plötzlich dachte ich: Es könnte ja eigentlich auch ein Eisbär sein.
Eisbären sind in Island selten anzutreffen, aber trotzdem gefährlich. Sehr gefährlich. Die sind dann hungrig, wenn sie kommen. Doch ich war zu erschöpft, um mich zu sorgen. Ich hatte genug. Ich wollte heim. Ich wollte mich auf die Couch legen, vielleicht mit Nói quatschen. Die Blutlache war nun fast nicht mehr zu erkennen. Wenn es so weiterschneite, war sie bald weg. Gut so.
Ich stapf‌te Richtung Dorf, schaute bei Hafdís in der Schule vorbei und teilte ihr mit, dass ich Schwarzkopf nicht hatte aufspüren können.
»Schwarzkopf?«, fragte sie und klappte ihren Laptop zu. Ich wurde rot. Eigentlich hatte ich nicht gewollt, dass sie den Namen erfuhr. Das war eine Sache zwischen mir und dem Fuchs. Darum sagte ich nichts und schaute zu Boden. »Hast du ihm einen Namen gegeben? Wie das Shampoo?« Hafdís schmunzelte. Sie stand von ihrem Tisch auf und trat an mich ran, fasste mich an beiden Händen, hob sie etwas hoch und schaute sie sich an. »Deine Hände sind ja ganz rot!«, sagte sie erschrocken. »Ist das Blut? Hast du dich verletzt?«
Ich entzog ihr meine Hände und bemerkte nun selber, dass sie zwar blutig, aber trocken waren.
»Nicht meins«, sagte ich. Ich erinnerte mich, dass ich in das Blut hineingefasst hatte. War ich gestolpert?
»Nicht deins?«
»Ich habe eine Blutlache gefunden, oben, beim Arctic Henge«, gestand ich rundheraus und fragte mich, ob Großvater gewollt hätte, dass ich davon erzählte. Vielleicht hätte ich lügen sollen, aber lügen darf man nur, wenn man jemanden beschützen will, zum Beispiel einen Freund oder eine Freundin.
»Blut?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Nur Blut. Sonst nichts. Kein Grund zur Sorge.«
»Hast du dich ganz sicher nicht verletzt?«
»Ganz sicher«, sagte ich.
Wir schauten uns meine Hände genauer an, fanden zwar keine Wunden, aber sie waren etwas geschwollen von der Kälte.
»Blut.« Hafdís war ganz nachdenklich. »Von einem Tier?«
»Möglich«, sagte ich und schob noch ein »bestimmt« nach.
Hafdís legte ihre Stirn in Falten, schüttelte den Kopf und sagte:
»Du bist mir ein Jäger!«
Ich grinste. Ich mochte es, wenn man mich »Jäger« nannte.
Hafdís ließ mich ziehen, und ich ging nach Hause, beschloss, nachdem ich meine Hände gründlich gewaschen hatte, den Rest des Tages mit Fernsehen zu verbringen. Es war erst drei Uhr, aber Dr. Phil schaute ich gern, denn dieser Seelenklempner konnte echt Gedanken lesen! Wenn die Leute einen Lügendetektortest machten, war Dr. Phil nie überrascht von dem Resultat, denn er wusste genau, welche Spielchen da gespielt wurden. Da gab es Männer, die in ihre Schwestern verliebt waren oder nicht von zu Hause ausziehen wollten, sogar älter waren als ich, aber noch immer bei ihren Müttern wohnten, die sich dann bei Dr. Phil beschwerten. Und es gab Frauen, die fremdgingen und mit den anderen Männern auch noch Kinder zeugten und es nicht zugaben, obwohl ein DNA -Test das Gegenteil bewies. Einmal war da eine weiße Frau und ein weißer Mann, und die Frau hatte ein schwarzes Baby, bestritt aber, mit einem schwarzen Mann gevögelt zu haben. Und ihr Mann glaubte ihr sogar, sagte, er vertraue ihr und er liebe sie, gehe mit ihr bis ans Ende der Welt. Aber Dr. Phil durchschaute die Frau und schimpf‌te mit ihr, bis sie alle weinten und das schwarze Kind dann weder einen schwarzen noch einen weißen Vater hatte. Und dann klatschte und jubelte das Publikum, und Dr. Phils Frau begleitete ihren Mann zum Studio raus und lobte ihn, auch wenn man nicht genau hörte, was sie sagte. Aber sie war immer ganz begeistert von seiner Show. So eine Frau hätte ich auch gerne gehabt. Aber jünger.
Ich machte mir eine Tiefkühlpizza in der Mikrowelle und schaute den ganzen Abend fern, bis ich auf der Couch einschlief. Ich war so müde, dass ich sogar vergaß, Nói auf Messenger anzurufen.
Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster, alles weiß, das Meer tiefblau, fast schwarz, alles ganz normal, also kein Grund zur Sorge. Es musste schon in der Nacht aufgehört haben zu schneien, denn es sah nicht danach aus, als käme noch mehr vom Himmel runter.
Ich zog mich warm an und ging an den Hafen. Hier unten standen eine ganze Menge alter Lager- und Fischverarbeitungshallen, Gebäude, die in den Fünfzigern und Sechzigern errichtet worden waren und nun einknickten: die Britenbaracken und Arbeiterunterkünfte, die mächtigen Lebertran- und Öltanks. Alles leer. Ich konnte das Miami-Gebäude gratis benutzen, den hinteren Teil zumindest, obwohl der Rest des Gebäudes von niemandem sonst benutzt wurde. Das Gebäude hieß so, weil sein erster Besitzer Baldur ein paar Palmen auf die Fassade hatte malen lassen, die man jetzt aber fast nicht mehr sah, und die Palmen erinnerten die Leute an Miami, weil es da richtige Palmen gab.
Im Innern des Gebäudes war es dunkel und feucht. Ein großes Haus, das über die Abwesenheit der Menschen traurig war. Durchs Dach tropf‌te an vielen Stellen das Schmelz- und Regenwasser, darum benutzte ich nur die Stelle, die trocken blieb, ganz hinten.
Früher war hier in Raufarhöfn ein Heringsboom. Die Leute kamen sogar aus Reykjavík, denn es gab viel zu tun für Männer und Frauen. Aber der Platz in den Wohnhäusern reichte kaum, obwohl die Kajütenbetten bis an die Decke gestapelt waren. Das Hotel war früher gar kein Hotel, sondern eine Unterkunft für Arbeiter. Der Schuppen schräg gegenüber dem alten Posthaus war eine Unterkunft für Arbeitermädchen. Die Britenbaracken waren auch Unterkünfte. Es brauchte einfach ganz viele Hände hier oben. Damals hatte das Dorf noch ein Kino, einen Theaterverein und Tanz. Hafenmeister Sæmundur erzählte mir manchmal davon. Bei den Veranstaltungen an den Wochenenden hätten gar nicht alle Seeleute und Hafenarbeiter in den Ballraum gepasst, was dazu führte, dass niemand mehr tanzen konnte, weil die Männer und Frauen dort drin so zusammengepfercht waren wie die Schafe im Stall. 1966 kamen sogar Hljómar nach Raufarhöfn, und damit alle sie zu sehen bekamen, machten sie gleich drei Konzerte an einem Tag!
Aber das war einmal. Heute versammeln sich manchmal alle Bewohner von Raufarhöfn im Gemeindesaal, beispielsweise zum Opferfest Þorrablót, und dann ist der Saal noch immer nur halbvoll.
Die Fischer fischten alle Heringe, die in Islands Küstenmeer zu finden waren, und als alle Heringe in Küstennähe weg waren, versuchte man, die Fischschwärme mit dem Flugzeug aufzuspüren, ganz weit draußen. Die Boote waren dann einen Tag lang unterwegs, um zu den Heringsschwärmen zu gelangen, und als die auch weg waren, waren die Fische eben weg, und die Leute zogen wieder nach Reykjavík und machten etwas anderes. Und es wurde ruhig in Raufarhöfn. Es gab dann zwar genug Platz zum Tanzen, aber die Zurückgebliebenen wollten nur noch saufen. Da merkte man, dass man auch andere Fische fangen und essen konnte, nicht nur Heringe, sondern auch Lumpfische, Schellfische, Köhler, Lengfische, Seewölfe und Makrelen. Und darum gab es hier in Raufarhöfn noch eine ordentliche Industrie, bis dann das Fangquotensystem von den Politikern eingeführt und die Quote fast gänzlich aus Raufarhöfn abgezogen wurde. Nun lagen die Hallen brach, jedes dritte Haus stand leer. Es gab inzwischen nur noch einen Mann, der eine ordentliche Fangquote hatte, wenn auch keine große: Róbert McKenzie. Siggi fing gelegentlich für ihn Kabeljau mit der Handwinde, Einar mit dem Langleinenschiff. Auch Júníus und Flóki, die Vater und Sohn waren und von allen nur Jú-Jú genannt wurden – das ist kurz für Júníus und Junior –, fingen die Fische mit Netzen. Sie waren die fleißigsten von allen, waren meistens auf dem Wasser und im Dorf kaum zu sehen. Manchmal landeten sie sieben Tonnen an einem Tag! Aber das konnte mir egal sein. Ich war der Einzige hier, der Haie fing, war also ganz unabhängig von den Fangquoten. Und darum durf‌te ich das leere Miami-Gebäude benutzen, in dem früher die Abfälle von der Heringsverarbeitung, Fischköpfe und so, ausgeschmolzen und dann zu Fischmehl verarbeitet wurden. Man roch es noch immer. Ich hatte meine Fässer und Wannen hier, in denen ich meine Haie ein paar Tage in Salzwasser liegen ließ, wenn ich sie nicht gleich am Hafen verarbeitete. Hier lagerte ich die Fässer mit meinen Ködern, hier war mein Arbeitstisch, mein Kühlschrank, der mit dem Wellblech im Wind um die Wette surrte, meine Messer und meine Werkzeuge, die ich für Petra brauchte. Mein Boot. Sie war auch nicht mehr die Jüngste. Großvater hatte mir all das vermacht – bis auf den Kühlschrank; den hatte ich von Magga bekommen.
Ich machte mich an Petra zu schaffen. Sie brauchte einen Ölwechsel. Sæmundur kam rüber, schaute mir eine Weile zu, kletterte zu mir ins Boot und half, auch wenn ich das alleine schaffte. Einmal kam er mir so nahe, dass ich versehentlich mit meinem Gesicht in seine Haare geriet. Das kitzelte. Sæmundur hatte so ziemlich überall Haare, keinen richtigen Bart zwar, aber war immer unrasiert, hatte wuschelige Kopfhaare, sperrige Nasenhaare, buschige Augenbrauen, behaarte Unterarme und Handrücken, und er hatte nur wenige weiße Haare, obwohl er schon sehr alt war.
»Jetzt starr mich nicht so an!« Er lachte plötzlich. »Du machst mich ganz verlegen!«
Ich lachte auch. Doch als ich den Trichter auf den Öltank setzte und Sæmundur behutsam Öl in den Tank glucksen ließ, waren wir ganz konzentriert. Und vielleicht wurde Sæmundur deswegen nachdenklich, vielleicht wollte er einfach etwas loswerden, denn er sagte:
»Róbert, Róbert. Einfach so, puff, verschwunden. Unser hauseigener Hotelbesitzer. Unser Quotenkönig, Herrschaften!« Sæmundur stellte den Ölkanister ab und schüttelte den Kopf. »Das wird einen Tumult geben, wirst sehen. Jetzt ist der Friede endgültig draußen!«
Da hörte ich zum ersten Mal davon, dass Róbert McKenzie vermisst wurde. Und ich hätte über diese Neuigkeit auch gar nicht überrascht sein müssen, schließlich hatte ich tags zuvor eine enorme Blutlache gefunden, ganz in der Nähe des Arctic Henge, und den hatte er immerhin bauen lassen. Aber irgendwie war ich so überrumpelt, dass ich Sæmundur gar nicht davon erzählte. Sæmundur rätselte noch, wo sich Róbert möglicherweise befinden könnte, zum Beispiel in einem Puff in Amsterdam oder in einer Entzugsklinik in Florida. Zu alldem sagte ich überhaupt nichts, und als ich mit meiner Arbeit fertig war, ging ich gleich nach Hause, denn ich fühlte mich, als würde ich etwas verschweigen, als hätte ich eine Dummheit begangen, und sobald ich es den Leuten erzählen würde, hätte ich wirklich etwas mit Róberts Verschwinden zu tun. Aber es war ja eigentlich schon zu spät, Hafdís wusste von der Blutlache, und damit fing der ganze Stress an, weshalb ich versuchte, nicht mehr an die Sache zu denken. Wenn man die Person ist, die eine Leiche oder deren Überreste findet, und sei es auch nur eine Pfütze Blut, hat man etwas mit der Sache zu tun. Man gehört dann einfach in die Geschichte und damit in die Geschichtsbücher. Und das wollte ich verhindern, indem ich einfach nichts sagte. Doch als mich eine Frau von der Polizei auf meinem Mobiltelefon anrief und bat, ins Schulhaus zu kommen, damit sie sich ein wenig mit mir unterhalten könne, wurde ich nervös, fühlte mich schuldig, auch wenn ich überhaupt nichts verbrochen und niemanden umgebracht hatte. Trotzdem. Ich machte mich auf richtigen Zoff gefasst.