5
Arnór
Ich wartete auf ein Klopfen an der Tür, wartete am Fenster, schaute zum Hafen hinunter, wo Siggi mit seinem Kutter anlegte. Ich schaute zu, wie er sich mit Hafenmeister Sæmundur unterhielt, wusste aber nicht, worüber sie sich unterhielten. Dann räumte ich ein paar Pizzakartons weg, machte Cola-Dosen platt und steckte sie in eine Plastiktüte. Für Dosen und PET -Flaschen kriegte ich im Laden Pfand. Mit dem Pfand kauf‌te ich mir meistens etwas Süßes. Das hatte ich mir dann verdient. Ich faltete die Decke auf der Couch zusammen, klopf‌te die Chipsreste von der Couch, positionierte die Kissen, kam so richtig in Fahrt. Meine Mutter wäre zufrieden mit mir gewesen.
Dann machte ich eine Pause. Siggi entlud seinen Kutter. Zwei ganze Schüttgutcontainer voller Lumpfische. Diese Fische kann man nur im Frühjahr fangen, ab dem zwanzigsten März, und nur für zwei Monate. Das ist dann ganz einfach, denn die Lumpfische kommen zum Ablaichen in die Küstengewässer der Fjorde und Buchten. Man muss die Netze aber auf dem Meeresboden spannen, weil die Fische am Boden entlang schwimmen. Jetzt war Siggi bestimmt zufrieden, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen würde. Den Lumpfisch-Kaviar salzte er selber, füllte ihn in kleine Gläser und nannte ihn Viking-Caviar. Er verkauf‌te alles nach China, und dafür bekam er recht viel Geld. Ich wusste nicht, wie viel. Aber sicher viel.
Ich setzte mich an meinen Laptop und rief Nói auf Messenger an. Er meldete sich sofort, denn er verbrachte die Tage wegen seines gesundheitlichen Zustandes meistens zu Hause am Computer. Die Nächte auch. Er war eigentlich ziemlich eigenartig. Er wollte nicht gesehen werden. Es ist wirklich wahr: Ich hatte noch nie sein Gesicht gesehen! Ich wusste nicht, wie er aussah. Die Kamera war immer auf seinen Pullover gerichtet, und es war meistens derselbe braune Gandalf-Pullover mit demselben Spruch: You Shall Not Pass! Sein Profilbild war ein total gut gelaunter Pferdekopf, der eine Sonnenbrille trug und eine Zigarette rauchte. Auf Facebook war er ein junger Arnold Schwarzenegger. Fotos von ihm gab es keine. Nói war ein Computergenie und Computerspielprofi. Er sagte, er verdiene mehr Geld als seine Eltern, aber er verschleudere das Geld für Whiskey, Frauen und Autos. Ich vermutete aber, dass er nicht immer die Wahrheit sagte, denn er war ja nur zu Hause, und er hatte mich auch noch nie besucht, obwohl er doch angeblich mehrere Autos besaß. Er hätte ja ganz einfach in den Norden fahren können. Er sagte nämlich, er würde die sechshundertneun Kilometer nach Raufarhöfn unter sieben Stunden schaffen, aber die Straßen hier oben seien schlecht, und das wolle er keinem Auto antun. Nói war erst neunzehn Jahre alt, also vierzehn Jahre jünger als ich, aber er war viel gescheiter, wusste eine Menge, und wenn er etwas nicht wusste, fragte er das Internet. Das weiß sogar, wie deine Kinder aussehen würden, wenn du mit Lady Gaga oder Elsa aus Frozen welche machen würdest. Nói sagte, wenn künstliche Intelligenz ans Internet angeschlossen werde, sei Feierabend für die Menschheit. Dann brauche es uns nicht mehr. Er sagte, in ein paar Jahren brauche es keine Männer mehr. Wir werden von Maschinen ersetzt, und die Frauen befruchten sich selber oder vielleicht auch mit Sexmaschinen.
Nói sagte nie Hallo. Sein You-Shall-Not-Pass!-Pullover erschien einfach auf meinem Bildschirm, und dann war er da. Er war meistens in ein Computerspiel vertieft, hielt manchmal mitten im Gespräch inne, weil er jemanden abknallen musste, aber für mich hatte er immer Zeit. Er war mein bester Freund.
»Mr. N.!«, sagte ich wie gewöhnlich.
»The sherif‌f is back in town!«, erwiderte er.
»You motherfucker!«, sagte ich.
»Und? Wer war’s?«
»War was?«, fragte ich.
»Hast du den Mörder erwischt?«
»Den Mörder?«
»Sag schon, wer hat den Hoteldirektor beseitigt?«
»Wieso weißt du, dass –«
»The internet, baby! Gibt es Verdächtige?«
»Was?«
Nói nahm mich wohl auf den Arm! Aber er löcherte mich weiter mit Fragen. Ließ gar nicht locker.
»Habt ihr einen Gärtner in Raufarhöfn?«
»Hier? Ich weiß es nicht, vielleicht im Sommer …«
»Es ist immer der Gärtner.«
»Ach so. Ich glaube, wir haben keinen Gärtner. Es wächst ja nichts.«
»Habt ihr einen Hauswart?«
»Vom Schulhaus, ja.«
»Verdächtiger Nummer eins.«
»Halldór? Aber –«
»Gibt es einen Koch?«
Ich stockte.
»Óttar«, sagte ich. »Er ist der Koch vom Hotel, aber weil er früher Schiffskoch war und da ein paar Leute verprügelte, nennen ihn alle Óttar Dampf‌topf.«
»Now we’re getting somewhere!«
»Was?«
»An dem musst du dranbleiben.«
»Wieso denn ich?«
»Das ist deine Chance, Junge! Du jammerst doch immer, dass es in Raufarhöfn keine Bräute gebe. Wenn du den Fall löst, bist du der Held! Eine nationale Berühmtheit. Dann liegen dir die Frauen zu Füßen!«
»Denkst du?«
»Ich weiß es!«
Mein Herz klopf‌te schneller. Fast ein bisschen zu schnell, denn der Gedanke an nationale Berühmtheit und Frauen, die sich mir an den Hals werfen würden, war mir dann doch etwas zu viel. Eine Frau hätte mir eigentlich genügt.
»Keine Sorge, Junge. Ich kann dir helfen. Ich kann die möglichen Verdächtigen googeln, wenn du willst. Aber ich kann leider keine Informationen auf illegalem Weg beschaffen. The dark web is of‌f limits, my friend! Wenn sie mich wieder beim Hacken erwischen, bin ich erledigt. Dann wird der Stecker gezogen.«
»Ach so.«
»Licht aus, verstehst du?«
»Nein.«
»Also. Gib mir seinen vollen Namen.«
»Vom Dampf‌topf? Ich weiß nur, dass er Óttar heißt und fast zwei Meter groß ist.«
»Kein Problem. Wo wohnt er?«
»Mýrarbraut.«
»Hausnummer?«
»Hm. Ich bin mir nicht ganz sicher. Sieben oder elf.«
»Die Farbe des Daches?«
»Blau.«
»Óttar Ólason. Mýrarbraut vier.«
»Stimmt genau!« Ich staunte nicht schlecht. Nói war ein Genie.
»Wieso hast du es dann nicht gleich gesagt?«
»Ich weiß es auch nicht, ich … Es ist mir einfach nicht –«
Nói seufzte laut.
»Was weißt du noch über ihn?«
»Du meinst, wie er aussieht?«
»Korrektomundo.«
Ich dachte nach.
»Er ist groß und ziemlich schwer, aber nicht dick. Er war früher Alkoholiker, jetzt trinkt er aber nur noch viel Kaffee. Er ist jetzt auch nicht mehr so wütend auf alle. Doch er raucht immer noch. Und das hört man auch, wenn er redet.«
»Sehr gut. Vielleicht finden wir Zigarettenstummel am Tatort.«
»Zigarettenstummel?«
»Mach weiter.«
Ich dachte nach. Es fühlte sich verdammt spannend an!
»Er hat eine Freundin aus Thailand, und sie reicht ihm nur knapp bis zur Brust.«
»Die ist sicher gut im Blasen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht sind sie verheiratet.«
»Glaub mir, Kalli. Die sind verheiratet.«
»Wieso?«
»Weil die Puppe sonst nicht in Island bleiben dürf‌te!«
»Ach so.«
»Wie alt ist er?«
»Etwa fünfzig.«
»Fährt er ein Auto?«
»Ja, einen Toyota Cruiser. Und er hat einen winzigen Kutter, mit dem geht er manchmal angeln und verarbeitet den Fang dann im Hotel, obwohl man das eigentlich gar nicht darf.«
»Er weiß also, wie man das Gesetz bricht und jemandem die Kehle durchschneidet«, bemerkte Nói. »Könnte unser Mann sein. Hat er Kinder?«
»Nein.«
»Impotent.«
»Was?«
»Er kann keine Kinder zeugen.«
»Oder seine Frau«, vermutete ich.
»Das glaube ich nicht. Er hätte längst mit einer anderen Bitch Kinder gezeugt. Seeleute vögeln die ganze Zeit, wenn sie an Land sind. Und jetzt hält er sich eine asiatische Sexsklavin. But he is shooting blanks, Mister!«
»Sie ist eigentlich ganz nett. Sie heißt Ling.«
»Dieser Dampf‌topf ist ein manipulatives Schwein.«
»Was? Ich glaube, Ling ist ziemlich glücklich in Raufarhöfn, arbeitet im Kindergarten und kocht für die Schüler Mittagessen. Manchmal Thailändisch, ganz lecker. Und sie kann auch gut Isländisch.«
»Kalmann! Langsam! Wieso weißt du, dass ihr Essen lecker ist?«
»Ich darf manchmal in der Schule essen.«
»Na gut. Weird, aber na gut. Was weißt du sonst noch?«
Ich fragte mich, ob es klug war, weitere Details preiszugeben, schließlich sah ich keinen Grund, den Dampf‌topf anzuschwärzen. Wieso hätte er seinen Arbeitgeber umbringen und verschwinden lassen wollen?
»Du, Nói«, sagte ich vorsichtig. »Ich glaube nicht, dass Óttar der Mörder ist.«
»Glaube hat mit Polizeiarbeit nichts zu tun. Wir erstellen hier ein Profil, so nennt man das. Wir zeichnen ein Profil, wir kommen mit einer Theorie, versuchen herauszufinden, wo sich der Dampf‌topf während der Zeit herumgetrieben hat, als der Hotelbesitzer verschwand. Und wenn er tatsächlich schuldig sein könnte, versuchen wir, seine Unschuld zu beweisen, und wenn uns das nicht gelingt, ist der Dampf‌topf definitiv schuldig.«
Das klang vernünftig, aber anstrengend, und obwohl ich Nói nicht ganz folgte, sagte ich:
»Verstehe.«
»Aber wir machen das nicht nur mit ihm, sondern mit allen, die verdächtig sind, alle, die den Hotelbesitzer tot sehen wollten.«
»Das wird ein Haufen Arbeit«, seufzte ich. Ich erinnerte mich an Elínborgs Worte: Ein Eisbär sei das Letzte, wovor sich Róbert zu fürchten brauche.
Es klopf‌te.
»Ich muss gehen!«, rief ich noch und klappte Nói zu.
Ich horchte angespannt, schaute auf die Uhr. Viertel nach fünf. Ich wusste genau, wer da an meine Tür klopf‌te. Birna wahrscheinlich. Oder die Rettungswache. Oder andere Polizisten vielleicht. Ich wusste es also doch nicht, und darum wurde ich nervös.
Es klopf‌te wieder. Ich stöhnte so laut, dass man es draußen bestimmt hören konnte. Dann schlurf‌te ich zur Tür und machte auf, guckte ganz unwirsch. Es war nicht Birna, die an die Tür geklopft hatte, sondern Arnór, der in einem rotblauen Overall der Rettungswache steckte und schon die Hand zum erneuten Klopfen erhoben hatte, sie jetzt aber sinken ließ. Wir kannten uns von früher aus der Schulzeit, aber er wohnte mittlerweile in Húsavík und hatte eine hübsche Frau und drei kleine Kinder. Das perfekte Leben. Ich war ihm und seiner Familie am letzten Nationalfeiertag in Húsavík begegnet. Er hatte Hallo gesagt, und ich hatte seine Frau angestarrt, weil sie wirklich schön war. Dieser Glückspilz. Er hatte einen gepflegten roten Bart, und er fuhr mit Touristen aufs Meer, um Wale zu beobachten.
»Hallo, Kalmann, wie geht’s? Lange her! Kommst du nicht mit?«
Ich seufzte.
»Doch«, sagte ich. »Aber ich muss erst aufs Klo.« Dabei musste ich gar nicht. Ich ließ Arnór im Eingang stehen, hörte aber, wie er sich mit jemandem am Telefon unterhielt: Ja, ich sei zu Hause, hörte ich ihn sagen, und wo mein Haus zu finden sei. Ich wurde noch nervöser und musste dann doch ein wenig pinkeln.
Arnór stand noch immer vor der Tür, als ich zum Badezimmer heraustrat und den Hosenschlitz zumachte. Er schaute mir zu, wie ich mich bereitmachte, und gab seine Kommentare ab. Als ich zum Beispiel den Cowboyhut aufsetzte, meinte er, eine Wollmütze wäre angebrachter, denn es sei verdammt kalt da oben. Ich ignorierte ihn und band mir den Pistolengürtel um, und Arnór sagte, dass wir uns nicht auf Menschenjagd begäben, sondern auf Vermisstensuche, aber ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Ich zog meine Jacke an, der Sherif‌fstern steckte noch immer an meiner Brust. Arnór musterte mich, als wäre er irgendwie nicht ganz sicher, ob er mich wirklich mitnehmen sollte, doch er nickte schließlich, reichte mir eine gelbe Signalweste und sagte:
»Zieh die an! Wir wollen dich nicht aus den Augen verlieren.«
Draußen kam ein mordsmäßiger Jeep mit Reifen so groß wie Erstklässler angebraust und hielt schaukelnd neben uns an. Die Schneeflocken schmolzen auf der Windschutzscheibe dahin, es war also schön warm im Jeep, viel zu warm, wie ich sofort feststellte, als ich auf den Rücksitz kletterte, und ich war froh, keine Wollmütze aufgesetzt zu haben. Man muss immer auf seine innere Stimme hören. Und nicht auf Arnór.
Am Steuer saß einer, den ich nicht kannte. Ich mag Leute, die ich nicht kenne, grundsätzlich nicht. Außer Frauen. Aber das ist etwas anderes. Die muss man nämlich mögen, denn das ist die Natur. Fortpflanzung. Der Fremde warf Arnór einen Blick zu, als ich mich auf dem Rücksitz anschnallte.
Ich habe eine Superpower. Ich merke, wenn sich die Leute Blicke zuwerfen, und ich kann die Blicke lesen. Wenn ich jemandem begegne, dem ich noch nie begegnet bin, werden ganz sicher solche Blicke ausgetauscht. Aber ich habe gelernt, sie zu ignorieren. Manchmal guckt man mich einfach nur an, die Leute starren geradezu, völlig behindert, und dann muss ich grinsen, auch wenn ich gar nicht grinsen will, aber ich grinse einfach, und es hat auch schon der eine oder andere gesagt: »Wieso grinst der so blöd?« Und dann sagt ein anderer, ich sei einfach so, oder man verteidigt mich, sagt, ich sei schon recht, und es sind immer die Leute aus Raufarhöfn, die mich verteidigen, denn hier kennt man mich, hier bin ich wer.
»Die Knarre ist nicht geladen«, murmelte Arnór in seinen roten Bart, und der Fremde verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf und sagte wie zu sich selber:
»Willkommen in Raufarhöfn!« Dabei war er gar nicht aus Raufarhöfn. Man kann sich nicht selber irgendwo willkommen heißen, das geht gar nicht. Das ist einfach so.
Der Fremde hatte sehr große Muskeln und einen breiten Hals. Er war, was man einen Muskelberg nennt. Das Gegenteil von Nói, meinem besten Freund. Bestimmt hätte der Muskelberg den Jeep hochheben und über seinem Kopf balancieren können, doch jetzt hatte er Mühe, den Viermalvier in Position zu hebeln. Er fluchte. Aber es gelang ihm schließlich, und der Jeep machte einen kleinen Ruck, der Viermalvier war drin, und jetzt erst drehte sich der Muskelberg zu mir um und streckte mir seine Hand entgegen, ohne seinen Namen zu nennen. Er hatte ein Tattoo am Unterarm, aber ich sah es nur bis zu den Ärmeln.
Ich reagierte nicht, starrte aber seine Hand und sein Tattoo an.
»Lass mal«, sagte Arnór.
Der Muskelberg machte das Daumen-hoch-Zeichen und fragte ganz beiläufig:
»Du hast also die Blutlache gefunden?«
Ich nickte und schaute aus dem Fenster.
»So ein Zufall! Kannst du uns da hinbringen?«
»Kinderspiel«, sagte ich. »Ist gar nicht so weit weg.«
»Sehr gut. Wo denn, Kapitän?«
»Einfach hier den Hügel hoch, aber erst musst du zum Dorf raus und bei der Tafel links abbiegen.«
Der Muskelberg nickte, legte den ersten Gang ein und fuhr los, meinem Finger nach. Vielleicht war er gar nicht so arrogant, wie ich zuerst geglaubt hatte. Fast wünschte ich mir, die Stelle wäre weiter weg gewesen, nicht bloß einen Kilometer, sondern zehn Kilometer, damit wir länger gefahren wären und ich die ganze Rettungswache über die Hochebene hätte führen müssen. Aber es dauerte nicht lange, bis wir da waren, keine fünf Minuten eigentlich, und da waren auch schon eine ganze Menge Leute, die im Schnee herumstanden und sich das Steingebilde anschauten, einige von der Rettungswache, einige in Polizeiuniform, und mir wurde fast ein wenig schwindlig, denn ich kannte praktisch niemanden, aber als ich Birna unter den Leuten entdeckte, war ich erleichtert, denn erstens kannte ich sie, und zweitens war sie eine Frau.
Aber die Leute hatten offenbar die Blutlache auch ohne mich gefunden, hatten die Stelle sogar mit einem gelben Plastikband weiträumig abgesperrt. Es flatterte im Wind und hielt sich kämpferisch an den Pföstchen fest. Zwei Leute in weißen Anzügen saßen in der Hocke und stocherten im Schnee rum, entnahmen Proben oder so. Gleich daneben stand ein fensterloser weißer Lieferwagen.
»Hallo, alle!«, rief Arnór, worauf sich fast alle um ihn scharten. »Kommt mal her!« Er zog mich neben sich.
Der Wind blies wirklich kalt, und ich hielt meinen Cowboyhut fest.
»Darf ich vorstellen: Kalmann. Der Sherif‌f von Raufarhöfn.« Er klopf‌te mir hart auf die Schulter. Arnór war größer als ich. Und er war hübscher. Er wurde bestimmt von allen gemocht. Wenn du so aussiehst wie Arnór, mögen dich alle. »Niemand kennt die Ebene so gut wie unser Kalmann. Er ist hier aufgewachsen. Er kennt jeden Fuchsbau und jeden Höcker. Vielleicht kennt man noch seinen Großvater, Óðinn.« Einige nickten. »Kalmann ist Jäger und Haifischfänger wie Óðinn damals. Wer ein gutes Stück Gammelhai braucht, kann sich bei Kalmann melden. Nicht wahr, Kalmann?« Arnór schaute mich an und wartete eine Antwort ab, doch ich blieb wie versteinert. Sollte ich die etwa alle mit Gammelhai versorgen? Ich würde weitere Langleinen einrichten müssen! Mein Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich schließlich nicht mehr hören konnte, was Arnór sonst noch über mich erzählte, und darum stellte ich mich hinter ihn, machte es ganz unauf‌fällig, als suchte ich ein wenig Windschatten, und da war tatsächlich Windschatten, da musste ich auch meinen Hut nicht mehr festhalten. Aber die Leute lachten, und Arnór ließ es nicht zu, drehte sich zu mir um und sagte: »Nur keine falsche Scheu, die beißen dich nicht, auch wenn sie so aussehen!« Er legte seinen Arm um meine Schultern und schob mich wieder neben sich. Die Berührung war unangenehm. Wie eine Anakonda-Schlange. Dabei sprach er nun gar nicht mehr über mich, sondern darüber, wie wir die Suche organisieren würden, und Birna übernahm das Wort, stellte sich nun auch neben mich, so dass ich komplett eingeklemmt war und wahrscheinlich wie der hinterletzte Dorf‌trottel grinste. Birna sagte etwas von Kreisen, einem Radius, einem Raster, dem Arctic Henge Monument, Küstenabschnitt, bis zur Dunkelheit, Schneefall und so weiter. Doch dann wandte sich Arnór unverhofft an mich und fragte mich laut, damit es alle hören konnten, ob ich noch einen weiteren Vorschlag hätte, aber ich hatte keinen weiteren Vorschlag, wusste in dem Moment auch gar nicht, was bisher vorgeschlagen worden war, aber Arnór sagte, ich solle mir ruhig Zeit nehmen mit dem Denken, also glaubte ich, irgendetwas sagen zu müssen, um mich aus dem Würgegriff zu befreien, und plötzlich wusste ich, was ich zu sagen hatte:
»Achtung, Eisbären«, murmelte ich.
»Was?«, fragte Arnór.
»Achtung, Eisbären!«, sagte ich.
»Shit«, knirschte Birna.
Bis auf sie lachten eigentlich alle, dabei hatte ich gar keinen Witz gemacht. Aber ich kannte das. Manchmal lachen die Leute, auch wenn ich gar nichts Lustiges gesagt habe. Ich lachte auch, aber dann fragte einer, den ich nicht kannte:
»Gab es hier schon mal Eisbären?«
»Und ob!«, rief ich.
Das Lachen verebbte jäh. Alle hörten hin.
»Wirklich?«, fragte Arnór und schaute mich stirnrunzelnd an. »Wann denn?«
»Ich weiß es nicht mehr«, sagte ich, und jetzt lachte wieder jemand, und ich versuchte mich daran zu erinnern, wann das letzte Mal ein Eisbär die Melrakkaslétta heimgesucht hatte.
»Das ist doch im letzten Sommer gewesen«, sagte der Muskelberg. Er amüsierte sich so, dass sein Hals noch dicker wurde. »Als zwei Franzosen zum ersten Mal ein Schaf gesehen haben!«
Alle lachten. Und zwar lauthals, selbst Birna. Aber ich dachte noch immer angestrengt nach, denn ich war fast ganz sicher, dass auf der Melrakkaslétta schon einmal Eisbären gesichtet worden waren.
»Kalmann«, sagte Arnór. »Du hast einen Witz gemacht, nicht wahr?«
Ich schaute ihn an, dann Birna, dann wieder Arnór und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Kein Grund zur Sorge«, murmelte ich.
Birna kam mir zu Hilfe.
»Ich denke, die Chance, dass sich hier oben ein Eisbär rumtreibt, ist eine Million zu eins, also …« Sie klatschte abschließend in die Hände. Aber Arnór blieb neugierig.
»Wie kommst du überhaupt auf die Idee?«
Ich zuckte wieder mit den Schultern.
»Die Spuren, die ich gesehen habe, könnten vielleicht von einem Eisbären sein. Und Róbert ist verschwunden, darum.«
»Wir wissen ja noch nicht einmal, ob das Blut im Schnee von Róbert ist«, warf Birna ein und war jetzt wirklich etwas ungeduldig.
Es war, als hielten alle den Atem an.
»Verdammter Quark«, entfuhr es dem Muskelberg, und er stapf‌te zurück zu seinem Jeep. Birna und Arnór tauschten Blicke aus. Arnór strich sich durch den Bart, weil er überlegte.
»Der Entscheid liegt bei dir.«
»Wir suchen!«, sagte Birna, und Arnór nickte und rief:
»Also dann, los geht’s!«
Jetzt kam Bewegung in den Suchtrupp, jeder wusste, was zu tun war. Ich hörte jemanden sagen, dass wir uns noch wünschen würden, meine Spielzeugpistole wäre geladen.
Birna setzte sich auf den Beifahrersitz des Jeeps, und ich schaute ihr hinterher, bis sie im Schneegestöber verschwunden war. Arnór war indes bei mir stehen geblieben, und allmählich wurde es still.
»Kalmann, das ist jetzt eine komische Frage, aber wo würdest du hier oben eine Leiche verschwinden lassen?«
Ich fand die Frage nicht komisch. Eigentlich ganz logisch. Man muss sich in den Kopf eines Mörders versetzen, um ihm auf die Schliche zu kommen.
»Fischfutter«, antwortete ich und zeigte Richtung Meer.
Arnór nickte, als hätte ich seine Frage richtig beantwortet.
»Fischfutter«, echote er.
Wir stapf‌ten auf direktem Weg hinunter ans Meer, also schräg am Hafen und an der Kirche vorbei, gingen der Küste der Halbinsel entlang vom Friedhof bis zum Leuchtturm, guckten alle paar Meter über die Klippe, die immer weiter aus dem Meer ragte, je näher wir dem Leuchtturm kamen. Unter uns schäumten die Wellen auf den schwarzen Steinen. Wenn Róbert über die Klippe gefallen wäre, hätten ihn die Wellen mit kommender Flut von den Steinen gespült und ins Meer hinausgetragen. Die Eissturmvögel flogen irgendwie gelangweilt den Klippen entlang, nutzten den Aufwind, ließen sich mühelos tragen, drehten Runde und um Runde. Sie hätten uns sagen können, ob sie Róbert gesehen hatten. Wie einfach das Leben wäre, wenn wir uns mit Tieren unterhalten könnten. Aber vielleicht wäre das Leben dann komplizierter, weil sich die Tiere über uns Menschen beschweren würden.
Wir schauten uns auch beim Leuchtturm um, spähten zum Holm rüber, der aus der schäumenden Gischt ragte, und sahen auch da keinen Róbert.
»Schön, die Kormorane«, sagte Arnór, aber ich nickte nur. Die sitzen nämlich immer da.
Wir gingen weiter der Klippe entlang, doch ich war jetzt irgendwie müde und schaute gar nicht mehr richtig, sondern ging einfach hinter Arnór her, und als er mich fragte, ob wir uns noch auf dem Friedhof umschauen sollten, zuckte ich nur mit den Schultern. Wir schauten uns den Friedhof dann doch etwas genauer an, aber da war alles unberührt, und nun verstand ich auch, warum sich Arnór den Friedhof hatte anschauen wollen, denn es hätte ja jemand Róbert verbuddelt haben können, und das hätte man dann vielleicht gesehen. Eigentlich eine ziemlich gute Idee, auf die ich nicht gekommen wäre; den Ermordeten auf dem Friedhof zu begraben. Da fällt eine Leiche nämlich am wenigsten auf. Aber zu dieser Jahreszeit wäre es ein schwieriges Unternehmen gewesen, denn der Boden war noch immer hartgefroren, und man hätte einen kleinen Bagger gebraucht. Also doch keine gute Idee.
Als wir hinunter in den Hafen kamen, war ich dann schon ziemlich müde. Aber wir mussten uns den Hafen zum Glück gar nicht genauer anschauen, denn ein gutes Dutzend Frauen und Männer der Rettungswache waren dabei, unter jeden Steg und in jede alte Fischverarbeitungshalle zu gucken. Auch Hafdís und Sæmundur waren da und bemühten sich, die Besitzer der Gebäude ausfindig zu machen und die verschlossenen Türen zu öffnen. Sæmundur kämpf‌te mit einem Schlüsselbund. Meine Halle war nie abgeschlossen, weil ich sie ja brauchte, und sie war bis auf meinen Kram leer. Nun drehte der Wind, und eine steife Brise blies vom Meer direkt in den Hafen, so dass ich meinen Cowboyhut wieder festhalten musste und meine Ohren dann doch ziemlich kalt wurden. Der Wind wirbelte den Schnee zwischen den rostigen Hallen umher, türmte Verwehungen auf, die Schneeflocken tanzten in alle Richtungen.
»Mir ist kalt«, sagte ich zu Arnór, worauf er mich eine Weile anguckte, dann aber sagte, dass er mit mir noch am Meer entlang bis zur Schule gehen wolle.
Als wir endlich da angekommen waren, machte er noch ein paar Telefonate, und weil es schon fast dunkel geworden war, brach er die Suchaktion endlich ab.
»Melde dich!«, rief er mir noch hinterher, aber ich hatte mich schon umgedreht.
Manchmal guckte ich Krimis. Der Mörder ist meistens derjenige, den man am allerwenigsten verdächtigt. So einer wie Arnór eben. Vielleicht würde ich Nói darum bitten, sich ihn einmal genauer anzuschauen.
Da, wo Halldór einen Schneehaufen aufgetürmt hatte, spielten noch die Kinder, obwohl es jetzt ganz dunkel war. Sie rutschten auf ihren Hintern von oben nach unten und gruben Höhlen in den Haufen. Halldór stand mit seinem Pick-up in der Nähe und befreite die Schaufel von Schnee.
»Kinder!«, rief er mürrisch. »Schiebt den ganzen Schnee bloß nicht wieder zurück auf die Straße!«
»Nein, nein!«, gaben die Kinder zurück, salutierten und lachten. Dann deckten sie mich mit Schneebällen ein. Ein Hinterhalt! Alle gegen mich, ich gegen alle. Da ließ ich mich nicht zweimal bitten. Kraft genug, einen Schneeballhagel auf die Kinder regnen zu lassen, hatte ich allemal, und sie verkrochen sich kreischend in ihren Höhlen. Halldór schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Die Kinder wagten dann noch einen Gegenangriff, doch er war nicht ernst zu nehmen, denn ihnen war die Puste ausgegangen. Aber ich blieb noch ein paar Minuten und ließ sie – vom ältesten bis zum jüngsten – meine Pistole in den Händen halten. Ich erzählte ihnen, dass sich da oben möglicherweise ein Eisbär herumtreibe, ausschließen könne man es nicht, und die Kinder waren ganz aufgeregt und überhaupt nicht ängstlich. Óli sagte, dass er dem Eisbären in den Kopf schießen würde, so, aber ich nahm ihm, bevor er abdrücken konnte, die Pistole wieder aus der Hand und zeigte ihm, wie man sie richtig hielt, nämlich nicht mit beiden Händen wie amerikanische Polizisten in den Filmen, sondern in einer Hand, den Arm gestreckt, die Füße eine Schulterbreite auseinander. So. Und ich erklärte ihnen, dass man nicht auf den Kopf ziele, sondern aufs Herz, denn man müsste sehr genau schießen, um den Kopf zu treffen, das Risiko eines Fehlschusses sei zu groß, man würde das Tier nur verletzen, den Kiefer wegschießen oder so. Das Tier würde dann davonlaufen und so lange leben, bis es verhungerte oder verdurstete. Weil ohne Kiefer kann man nicht essen. Das ist einfach so. Und das wäre dann Tierquälerei.
Die Kinder hörten mir mit offenen Mündern zu. Ich zielte auf Arnór, der nun bei Halldórs Pick-up stand, sich mit ihm unterhielt und uns den Rücken zukehrte, und ich sagte:
»Peng.«