8
Magga
Dann wurde es Samstag. Das bedeutete, dass ich meinen Großvater in Húsavík besuchte. Das war so abgemacht, und das war schon so, seit Großvater nach Húsavík ins Pflegeheim gebracht wurde, nachdem ich ihn auf dem Küchenboden in seiner eigenen Pisse liegend vorgefunden hatte. Jeweils um neun Uhr hupte es vor meinem Haus, und ich schlüpf‌te in meine schöne Jacke. Cowboyhut, Sherif‌fstern und Mauser ließ ich liegen, denn in Húsavík wussten nicht alle, wer ich war.
Inzwischen lief die Suche nach Róbert wieder auf Hochtouren. Schon seit dem frühen Morgen hörte man den Lärm der Jeeps und Quads, aber ich wurde wohl nicht mehr gebraucht. Niemand hatte nach mir gefragt. Ich ging nach draußen und stieg in Maggas kleine Skoda-Blechbüchse, die immer etwas schief stand, wenn Magga hinterm Steuer saß.
»Guten Tag, junger Fernsehstar!«, sagte sie, und ich musste lachen. So war es also, wenn man berühmt war. Magga sagte dann ein paar Minuten lang nichts, weil sie den Wagen in Bewegung setzen und sich dabei konzentrieren musste. Zudem kamen uns gleich drei Fahrzeuge der Rettungswache entgegen, und Magga sagte: »So ein Verkehr!«
Ich wunderte mich jedes Mal, wie sie ihren dicken Körper hinters Steuer brachte. Autofahren war nicht ihre Stärke. Erst als Raufarhöfn hinter uns lag und die Straße nur noch ein Strich in der Landschaft war, entspannte sie sich und quatschte mir den Kopf voll. Es war, als hätte sie die ganze Woche darauf gewartet, ihre Gedanken zu äußern. Nun repetierte sie die Tagesschau und was sie heute Morgen alles vor ihrem Fenster beobachtet hatte. »Die Schnüffelei der Rettungswache«, wie sie es nannte. Sie konnte immer über etwas reden, es gab immer etwas, das sie beschäftigte. Und ich brauchte ihr gar nicht zu antworten. Das war in Ordnung. Manchmal sagte ich den ganzen Weg nichts, saß einfach nur da und hörte ihr zu – oder eben nicht, schaute nur aus dem Fenster, dachte an meinen Großvater oder sah vielleicht Tiere, die man hätte jagen oder beobachten können. Ein Jäger hat einfach ein Auge für so was. Auf der Melrakkaslétta gab es Polarfüchse und Wildgänse, Falken und Schneehühner. Einmal, aber nur einmal, sah ich eine Schneeeule.
»Findest du nicht auch?«, fragte Magga und riss mich aus den Gedanken. »Du bist doch ein Jäger und weißt schließlich genau, wovon du sprichst. So einer Vermutung müsste man doch nachgehen! Wenn da wirklich ein Eisbär rumläuft, dann ist das gefährlich, unmöglich ist es ja nicht, findest du nicht auch?« Ich zuckte mit den Schultern und sagte nichts. »Du hast das wirklich ausgezeichnet gemacht, gestern in der Tagesschau.« Magga machte einen kleinen Schlenker auf der Straße, so dass ich mich am Sitz festhielt. »Hast du denn etwas bemerkt da oben? Hast du Spuren im Schnee entdeckt?«
»Vielleicht«, sagte ich. »Es kamen schon oft Eisbären nach Island. Einmal in die Westfjorde, nördlich von Hornstrandir. Fischer haben den Eisbären schwimmen gesehen und ihn mit einem Seil am Bug erhängt. Einfach ein wenig hochgezogen. So.«
Ich machte eine passende Geste.
»Armes Tier«, seufzte Magga.
»Einen Eisbären haben sie in Fljótum im Skagafjörður erschossen, einen in Grímsey, und einen erst kürzlich in Hvalnes am Skaga.«
»Daran erinnere ich mich.«
»Sie schwimmen.«
»Ja, auf Treibeis.«
»Nein«, widersprach ich. »Sie schwimmen manchmal den ganzen Weg von Grönland. Es gibt nämlich nicht immer Treibeis.«
»Das ist bestimmt viel zu weit.«
»Keine Chance! Sie können dreihundert Kilometer weit schwimmen oder mehr! Und von Grönland bis in die Westfjorde sind es dreihundert Kilometer. Bis hierher etwa einhundert Kilometer weiter. Darum –«
»Jetzt übertreibst du aber, Kalmann minn. Vierhundert Kilometer? Schwimmen?«
»Schon möglich, wenn sie in den Westfjorden eine Pause machen zum Beispiel.« Ich war es gewohnt, dass man mir nicht glaubte. Kein Grund zur Sorge.
»Na«, sagte Magga, »wenn sich ein Eisbär hier oben rumtreibt, ist er bestimmt hungrig, ob er nun geschwommen, auf einer Eisscholle angetrieben oder mit Easyjet hergeflogen ist.«
Das fand ich lustig, und ich musste lachen. Magga konnte manchmal sehr lustig sein. Sie lachte auch, schaute mich dabei an und geriet mit dem Auto auf die andere Straßenseite. Darum hörte ich auf zu lachen, Magga guckte wieder auf die Straße, riss das Steuer rum, und dann sagte sie eine Weile nichts mehr. Ich schaute angestrengt aus dem Fenster, als versuchte ich, einen Eisbären zu erspähen.
»Glaubst du«, fragte mich Magga, »so ein Eisbär könnte einen Menschen mit Haut und Haar fressen, bis nichts mehr von ihm übrig ist?«
»Hm«, machte ich nur, obwohl ich die Antwort darauf wusste.
»Wir sollten das Thema wechseln«, schlug Magga vor, blieb jedoch stumm.
Ein Auto kam uns entgegen, weshalb Magga die Fahrt massiv verlangsamte, bis wir das Auto passiert hatten, obwohl die Straße breit genug für zwei Autos war.
»Dagbjört«, stellte Magga erstaunt fest.
Ich drehte mich überrascht um und schaute dem Auto hinterher. Magga hatte recht. Es war ein roter Kia Picanto, aber Dagbjört war verdammt schnell unterwegs, und so war sie schon bald hinter dem Horizont verschwunden.
»Arme Dagbjört. Erst die Mutter und jetzt der Vater. Und wenn wir die Quote für Raufarhöfn verlieren, gehen die letzten Arbeitsplätze verloren, und dann gibt es zu wenig Kinder hier, dann macht die Schule zu, und dann hat Dagbjört alles verloren. Auch ihre Stelle.« Magga machte eine Denkpause. »Aber vielleicht gibt es den Róbert noch. Vielleicht hat er sich nur verletzt und – nein. Das wäre unrealistisch, wo doch sein Blut – sie sagen, niemand überlebe so einen Blutverlust. Aber möglicherweise ist es ein Missverständnis. Das kommt ja manchmal vor. Wie letzten Sommer, als die Rettungswache einen vermissten Touristen suchte, weißt du noch? Wo war das?«
»In der Eldgjá-Schlucht.«
»Ganz genau, Kalmann. Du weißt aber auch immer ganz genau, wo was war!«
Ich nickte. Magga lachte, beugte sich dabei etwas vor, als wollte sie das Steuerrad umarmen.
»Sie suchten und suchten. Und an der Suche beteiligt ist der Tourist selber, eine Frau natürlich, es hätte ja gar nicht anders sein können! Und sie hat keine Ahnung, dass nach ihr gesucht wird, darum denke ich, es ist nicht gut, wenn wir so viele Touristen nach Island bringen, weil die ganze Arbeit letztlich an uns hängenbleibt, und die Touristen sind so dumm, begeben sich ständig in Lebensgefahr, und wenn wir sie retten müssen, sind auch wir in Lebensgefahr, nicht wahr? Aber die Regierung in Reykjavík muss ja nicht selber hin, und darum locken sie immer mehr Leute nach Island, nicht nur Touristen, auch Flüchtlinge, das sieht man ja im Fernsehen, dabei geht es uns nicht viel besser. Wir haben ja nicht einmal genug Geld, um die Fischerdörfer vor dem Bankrott zu bewahren! Nein, sie lassen uns hier oben verdorren, glauben, dass wir nur von der guten Luft und der schönen Aussicht leben. Ja, von was bitte sollen wir hier oben denn leben, wenn sie uns die Quoten wegnehmen?«
Sie schaute mich an, als erwarte sie eine Antwort. Dabei wollte sie nur, dass ich nickte. Also nickte ich, obwohl das meiste überhaupt nicht stimmte, was sie sagte.
»Ich glaube nicht«, sagte ich, »dass Róbert an seiner eigenen Suche beteiligt ist.«
»Natürlich nicht!«, rief Magga. »Aber vielleicht ist es ein Missverständnis. Vielleicht hat er sich verletzt, und so ein Tourist hat ihn nach Akureyri gebracht, und da hat er gar nicht mitbekommen, dass – nein. Das kann auch nicht sein.« Magga drückte aufs Gas, um den Fuß gleich wieder vom Pedal zu nehmen. So fuhr sie den ganzen Weg. Gas geben, Fuß vom Pedal nehmen. Gas geben. »Róbert gibt es nicht mehr«, sagte sie. »Entweder hat ihn ein Eisbär gefressen, oder jemand hat Fischfutter aus ihm gemacht.«
Ich nickte.
»Fischfutter«, sagte ich, und Magga seufzte.
Wir machten auf dem Weg nach Húsavík nur zwei kurze Stopps. Einen auf der Melrakkaslétta mitten im Nirgendwo. Weil ich unbedingt pinkeln musste, brachte Magga ihren Skoda am Straßenrand zum Stehen. Und weil kein anderes Auto weit und breit zu sehen war, stieg auch Magga aus, ging am Straßenrand in die Hocke und pinkelte ins Krähenbeerengestrüpp. Ich war aber vor ihr fertig, und Magga lachte:
»Nicht gucken!«
Ich guckte nicht.
Den zweiten Stopp machten wir in Kópasker, wo ich mir eine Cola kaufen durf‌te und sich Magga eine Weile mit Gummi unterhielt, der sich immer gerne unterhielt.
In Húsavík setzte mich Magga bei der Tankstelle ab. Eigentlich wollte sie mich zum Pflegeheim fahren, aber sie musste noch tanken, und ich schlug vor, dass ich mich zu Fuß rüber zum Pflegeheim begab. Ich war schließlich kein Kleinkind mehr. Magga willigte nur ungern ein, versprach aber, mich um vierzehn Uhr beim Pflegeheim abzuholen.
Ich schlich ums Tankstellengebäude und wartete bei den Müllcontainern, bis Magga fertig war. Das dauerte eine ganze Weile, weil sie lange am Selbstbedienungsautomaten herumdrückte, offenbar akzeptierte der Automat ihre Karte nicht, und dann fummelte sie eine Weile am Tankdeckel rum.
Frauen und Autos! Wieso durf‌te sie Auto fahren, aber ich nicht? Das sollte mir mal einer erklären! Die theoretische Prüfung war völlig übertrieben. Wir hatten hier oben ja gar keine Verkehrsampeln, sowieso keine Autobahnen, keine Kreisel, nur Straßen, manche geteert, mit Höchstgeschwindigkeit neunzig, andere nicht geteert, Höchstgeschwindigkeit achtzig, das wusste ich längst, das war das Gesetz, und im Dorf durf‌te man nicht schneller als fünfzig fahren. Manchmal auch dreißig. Das kam drauf an, ob es Kinder oder eine Schule in der Nähe gab. Die Geschwindigkeit stand ja immer geschrieben, und lesen konnte ich. Man musste es sich also nicht einmal merken. Aber dass man sich anschnallen und das Licht einschalten musste, musste man wissen, das ist das Gesetz, und Magga machte beides nicht. Aber ich durf‌te nicht. Dabei war ich schon mal Auto gefahren, als ich achtzehn war, und alle Beteiligten überlebten diese Autofahrt. Da war eine Tanzveranstaltung in Kópasker, und ich musste da hin, weil mein Cousin Draupnir aus Reykir zu Besuch war und keine Widerrede zuließ. Doch bald waren alle, mich ausgenommen, zu besoffen, um überhaupt aufrecht stehen zu können. Es blieb mir also gar nichts anderes übrig, als meinen Cousin und ein paar weitere Junggesellen nach Hause zu fahren, um selber nach Hause zu kommen. Sie hätten mich auch gar nicht überzeugen müssen, ich wollte nämlich längst wieder heim, weil ich mich insgeheim in ein Mädchen verliebt hatte, das dann aber mit einem Húsavíkinger rumknutschte. Die Jungs versicherten mir, dass ich nichts zu befürchten hätte, da ich ja keinen Führerschein besäße, den man mir entziehen könne. Das klang logisch, und irgendwie war mir dann sowieso alles egal.
Eigentlich ging ich grundsätzlich nicht gerne zu Partys, weil ich weder Alkohol trank noch tanzte, aber die meisten Leute tranken und tanzten, und nach einer Weile waren sie hemmungslos. Man unterhielt sich dann gerne mit mir, auch wenn es nur Quatsch war, aber immerhin waren sie nett zu mir, und dann war es auch lustig für mich. Sie seien froh, so einen wie mich in Raufarhöfn zu haben, einen, der ein wenig aufs Dorf aufpasse und dem Kaff ein Gesicht gebe, einen Charakter. Sie sagten, hier oben sei jeder willkommen, ich sowieso, ausgenommen Muslime, denn Religionen dürfe man nicht vermischen. Das sei in der Natur der Menschen. Und das leuchtete mir ein, aber die meisten, die diese Meinung hatten, gingen gar nicht in die Kirche oder so, und darum fragte ich mich, ob sie denn überhaupt eine Religion hatten. Sie waren nur betrunken und redeten Quatsch und meinten es gar nicht so. Aber ich hörte halt zu. Das ging ja gar nicht anders. Sie brüllten mir immer ins Ohr, weil sie nicht mehr so gut hörten, wenn sie betrunken waren. Manchmal warfen sie sich mir richtig an den Hals, hielten sich an mir fest, sagten, ich sei ein guter Mann, ein Fels, und ich solle mir bloß nicht gefallen lassen, wenn mich jemand einen Downser nenne, was mich aber niemand nannte, weil ich ja auch keiner bin. Ich bin einfach anders. Aber Großvater hatte mir einmal gesagt, dass jeder in gewisser Weise anders sei, und darum sei ich ganz normal. Die besoffenen Partygänger sagten, ich könne immer auf sie zählen, wenn sich jemand über mich lustig mache, aber ich wusste ganz genau, dass sie es am nächsten Morgen schon wieder vergessen haben würden, denn wenn man betrunken ist, ist man gar nicht die Person, die man eigentlich ist. Sie sagten, sie möchten viel eher einen wie mich hier oben als so einen Muselmann, der sich dann in die Luft sprenge. Man müsse nur den Fernseher einschalten, um den Zusammenhang zu verstehen.
»Paris! Viele Muslime! Bumm! Verstehst du? Raufarhöfn! Keine Muslime! Kein Bumm!«
Und das stimmte schon, da hatten die Besoffenen sicher recht. Aber wegen Nói wusste ich, dass es in Reykjavík auch Muslime gab, und das ging offenbar ganz reibungslos, denn bis jetzt hatte sich da noch niemand in die Luft gejagt oder ein Fahrzeug in eine Menschenmenge gefahren oder Leute mit einem Messer abgestochen. Dabei hätten sie sicher einen Grund dazu gehabt, die Muslime in Reykjavík. Sie wollten nämlich eine Muslimenkirche bauen, aber dann warfen ein paar Isländer Schweinsköpfe auf die Wiese, da, wo die Muslimenkirche hätte gebaut werden sollen. Vielleicht sind Muslime Vegetarier, und darum sind sie im Nordosten nicht beliebt, denn niemand ist hier oben vegetarisch. Ich kenne zumindest niemanden. Doch, nein, stimmt nicht. Ich kenne jemanden: Dagbjört ist Vegetarierin. Das weiß ich, weil sie vor ein paar Jahren dafür sorgte, dass im Hotelrestaurant ihres Vaters auch ein vegetarisches Gericht auf der Karte stand: Risotto mit Pilzen. Und einmal, als sie wie üblich aushalf, tischte sie mir den Risotto gratis auf und sagte, ich solle ihn probieren und ihr dann sagen, wie er schmecke, und ich tat wie mir geheißen, rieb aber viel Käse darüber. Der Risotto war eigentlich ganz lecker, ich putzte den Teller sogar leer, und Dagbjört war so glücklich darüber, dass sie eine Siegesfaust machte und »yes!« sagte. Und darum habe ich ihr nie gesagt, dass ich weiterhin lieber Hamburger esse – weshalb ich ja hinter der Tankstelle bei den Müllcontainern wartete, bis Magga endlich ihre Blechbüchse vollgetankt hatte und weggefahren war. Erst dann ging ich hinein und bestellte bei Salvör einen Hamburger mit Fritten und Cocktailsauce für eintausendachthundertfünfundvierzig Kronen, obwohl es erst elf Uhr war, aber das machte nichts, denn es gab im Pflegeheim erst um zwölf Uhr dreißig Mittagessen, und meistens mochte ich das Essen da nicht so sehr. Das Kartoffelpüree schon, und die Sauce meistens auch, aber nicht so sehr die Karotten, den Brokkoli und den Blumenkohl. Ich bin doch kein Kaninchen!
Aber ich hatte Pech. Der einzige Tisch, der besetzt war, war meiner. Ich setzte mich immer an diesen Tisch. Er stand nämlich genau an der Wand unter der Islandkarte. Darum habe ich noch nie an einem anderen Tisch gesessen. Salvör hatte es jetzt auch bemerkt, doch er schaute mich nur müde an und putzte seine Hände an der Schürze ab. Vielleicht überlegte er sich, wie er mir helfen konnte, zuckte dann aber nur mit den Schultern und verschwand in der Küche. Er war wohl schlecht gelaunt. Ich blieb also einfach stehen und schaute zu meinem Tisch rüber. Es waren Touristen. Ein junges Paar. Ein Mann mit lichtem Bart und eine schlanke Frau mit Kopf‌tuch und Zöpfen, aber keine Muslime. Das sah sogar ich. Ihre Rucksäcke standen am Boden an die Wand gelehnt. Sie hatten schwere Wanderschuhe an den Füßen und unterhielten sich auf Ausländisch. Französisch vielleicht. Oder Türkisch. Ich ging ein paar Schritte auf sie zu, drehte ihnen den Rücken und blieb stehen. Wartete. Sie hielten in ihrem Gespräch inne. Ich spürte ihre Blicke auf meinem Rücken. Dann ging ich zum Tisch daneben, stützte mich mit den Fäusten darauf ab und schaute zu ihnen rüber. Sie merkten noch immer nicht, dass sie an meinem Tisch saßen. Genau darum gefiel es mir in Raufarhöfn besser! Das war nun ein ganz wunderbares Beispiel! In Raufarhöfn wusste jeder, wer ich war und auf welchem Stuhl ich zu sitzen hatte. Da gab es keinen Grund zur Sorge.
Das Paar tauschte Blicke aus, dann schaute mich der junge Mann fragend an. Ich seufzte laut, aber sie blieben noch immer völlig verwirrt sitzen. Ich ging ganz nahe an ihnen vorbei zum nächsten Tisch und tat dasselbe, stützte mich mit den Fäusten ab und schaute die unverschämten Touristen wieder an. Sie besprachen sich, die Frau wurde nervös. War das denn so schwierig zu verstehen?
»Kalmann!« Salvör hielt unterm Arm eine Packung gefrorener Fritten und winkte mich mit der freien Hand zu sich. »Kannst du heute nicht ausnahmsweise mal an einem anderen Tisch sitzen? Schau nur, sie sind alle frei. Alle!«
Wie blöd kann man denn sein? Salvör kannte mich zwar, aber er war nicht mein Freund. Und er war wohl schwer von Begriff. Ich sah nämlich ganz genau, dass alle anderen Tische frei waren. Schließlich hatte ich Augen im Kopf. Ich rührte mich nicht vom Fleck.
»Aber sie sitzen an meinem Tisch!«, erklärte ich ihm, laut und langsam, so dass er verstand, worum es hier eigentlich ging.
»Es ist nicht dein Tisch«, sagte Salvör. »Es ist mein Tisch. Alle Tische sind meine. Und heute darfst du dich an einen anderen Tisch setzen. Bitte schön!«
Ich rieb mein Gesicht. Es gibt Tage, da sollte man am besten gar nicht aus dem Bett steigen! Es stimmte leider, was Salvör sagte, aber darum ging es hier nicht. Der Kunde ist König! Darum ging es! Das hatte er am besten zu wissen. Also richtete ich meinen Zeigefinger auf das Touristenpaar.
»Aber ihnen gehört der Tisch auch nicht! Ich sitze immer an diesem Tisch! Es ist mein Tisch. Ich sitze am Tisch mit der Islandkarte! Das weißt du doch! Das weiß jeder. Das ist einfach so!«
»Du bist echt nicht zum Aushalten!«, rief Salvör, warf die Packung Fritten auf den Tresen und verwarf die Hände. »Soll ich die Touris etwa bitten, den Tisch zu wechseln?«
»Ja!«, rief ich, und Salvör stöhnte an die Decke.
»Sorry, can you please sit at another table? My buddy here is special, you know …«, sagte er.
»Why?«, fragte der Mann.
»Das ist mein Tisch!«, sagte ich laut.
»It’s not his …« Salvör rauf‌te sich die Haare. »Just sit at another table, yes? Please! Sorry.«
»Sure, whatever«, sagte der sture Touri genervt. Seine Touri-Frau stand schon. Sie sagte was, worauf auch er aufstand. Frauen haben meistens die Hosen an. Das ist so. Sie packten ihren Kram zusammen und wechselten den Tisch, wählten einen, der am weitesten von meinem entfernt war. Ich schaute ihnen wütend hinterher.
»This is my table«, murmelte ich und setzte mich an meinen Tisch. So was kann einem wirklich den Tag verderben. Eine ganz einfache Regel, könnte man glauben, aber die Leute sind unmöglich! Ich war stinksauer, streckte meinen Hals und rief dem Touristenpaar hinterher:
»This is my table!«
»Kalmann!«, brüllte Salvör, »du hältst jetzt deine Klappe! Du hast deinen Tisch bekommen! Du bist nicht unbedingt derjenige, der hier Forderungen stellen kann. Dein verfluchter Hai stinkt bis hier rüber!«
Ich wollte mich wehren, aber mit Salvör war heute wohl nicht gut Suppe essen, und ich wollte doch einen Hamburger mit Fritten von ihm. Also hielt ich die Klappe. Ich war aber so wütend, dass ich ein paarmal meine Fäuste auf den Tisch schlug und die junge Touristenfrau Quietscher von sich gab.
Frauen.
Als mir Salvör den Hamburger endlich servierte, hatte ich mich schon etwas beruhigt, ich bedankte mich sogar fast, und mit den ersten Bissen war die Wut verflogen, denn vielleicht war ich einfach nur hungrig gewesen, aber es war eben mein Tisch. Und das würde auch in Zukunft so bleiben.
Ich aß meistens alleine. Außer Salvör kannte ich niemanden hier, aber er war beschäftigt oder tat zumindest so, und zudem machte er noch immer ein beleidigtes Gesicht und hatte wohl keine Lust, sich mit mir zu unterhalten. Die Touristen studierten ihren Reiseführer, und ich fragte mich, ob sie überhaupt etwas bestellt hatten oder einfach nur in der Tankstelle saßen, um Zeit totzuschlagen. Also verlor ich mich in meinen Gedanken.
Ich dachte an so einiges. Ich dachte an die Tanzveranstaltung in Kópasker, als ich die Betrunkenen, eine ganze Autoladung voll, zurück nach Raufarhöfn fuhr. Während den ersten Kilometern grölten und lärmten sie, dann aber wurden sie plötzlich ruhig und schliefen ein, und es wurde plötzlich still im Auto und das Fahren sehr angenehm. Wenigstens einen Moment fühlte ich mich, umgeben von schnarchenden, stinkenden Männern, als wäre ich ein normaler junger Mann wie alle. Dass ich dem Auto eine Schramme verpasste, als ich die Gesellen vor ihren Häusern absetzte, weil ich einen Hydranten übersah, bemerkte niemand, und darum gab es keinen Grund zur Sorge.
Ich hätte gerne ein Auto. Es wäre ein Toyota Land Cruiser. Damit könnte ich querfeldein über die Melrakkaslétta brettern, um Schneehühner und Polarfüchse zu jagen. Und im Winter könnte ich ohne Probleme über die verschneiten Straßen nach Húsavík fahren, selbst wenn sie noch nicht gepflügt wären, um Großvater zu besuchen. Dann wäre ich nicht mehr auf Magga angewiesen und müsste mich nicht mehr hinter dem Tankstellengebäude verstecken. Das wäre prima.