9
Großvater
Ich putzte den Teller leer und verließ den Tankstellenimbiss, ohne mich von Salvör, der sowieso wieder in der Küche verschwunden war, zu verabschieden. Die zwei Touristen schauten mir hinterher, lächelten sogar, aber ich ignorierte sie.
Draußen schien die Sonne. Es war eigentlich ein ganz hübscher Tag. Frühlingshaft. Hier in Húsavík lag der Schnee nur noch im Schatten der Häuser und war schwer und schmutzig. Ich wollte hoch zum Pflegeheim, bemerkte aber Maggas Auto vor dem Laden und machte darum einen Umweg.
Man kannte mich im Pflegeheim, ich musste mich nicht anmelden oder so, darum latschte ich einfach ins Gebäude, wie ich es immer machte. Ich wusste auch, wo sich Großvaters Zimmer befand. Aber da war er nicht, auch nicht auf dem Klo.
»Ah, Kalmann, grüß dich, junger Mann!«, rief mir Kolbeinn zu, als ich wieder aus dem Zimmer trat. »Besuchst du deinen Großvater? Wie nett von dir!« Kolbeinn schlurf‌te mir mit ausgestreckter Hand entgegen. »Ein Glück, dass du mich noch erwischst, ich muss eben noch ins Baugeschäft. Ich habe deinen Großvater im Kapellenkorridor gesehen.«
Ich nickte und schüttelte seine Hand. Kolbeinn war nicht mehr ganz klar da oben, glaubte wohl noch immer, zuständig für etwas zu sein. Dabei wohnte er im Zimmer neben meinem Großvater. Ich wusste aber nicht, wofür er früher einmal zuständig gewesen war. Möglicherweise war er Schreiner gewesen. Manchmal begrüßte er die Pflegeheimbewohner beim Mittagessen und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden aller, kontrollierte dabei die Stühle, rüttelte an ihnen herum und versprach, diesen oder jenen Stuhl bei Gelegenheit zu reparieren – was er aber nie machte.
»Prima«, sagte ich, ließ Kolbeinn stehen und ging in den Kapellenkorridor. Alle Korridore und Gebäudeteile hatten hier Namen. Es gab zum Beispiel den Hauptkorridor, der vom Haupteingang wegführte, den Hafenkorridor und den Garðarsaal. Mein Großvater wohnte im Náttfarikorridor. Aber er saß wirklich auf einem Stuhl im Kapellenkorridor, wie es Kolbeinn behauptet hatte – vielleicht war er doch noch nicht ganz ballaballa. Großvater war hübsch angezogen, weißes Hemd, schwarze Hosen, rote, flauschige Hausschuhe, saß einfach nur da und schaute aus dem Fenster. Sein Kinn hatte er nach oben gereckt, er verzog seinen Mund, als stecke ihm etwas im Hals. Er war noch grauer geworden, seit ich ihn vor genau einer Woche zum letzten Mal besucht hatte.
Großvater schaute mich verwirrt an, als ich einen Stuhl heranzog und mich zu ihm setzte.
»Hallo, Großvater«, sagte ich. »Wie geht es dir?« Keine Antwort. »Hast du Durst?« Großvater brummte. »Willst du vielleicht eine Cola?«
»Nein«, sagte er.
Ich stand auf und ging zum Getränkeautomaten im Hauptkorridor, kauf‌te eine Büchse Cola und ging damit zurück zu Großvater. Er hatte aber noch immer keinen Durst, also trank ich die Büchse selber leer.
»Róbert ist wohl tot«, sagte ich. Großvater schaute mich stirnrunzelnd an. »Du weißt doch, Róbert McKenzie, unser König. Aber er heißt eigentlich gar nicht McKenzie, das hat Óttar gesagt. Wusstest du das? Róbert hat sich den Namen selber gegeben. Ich habe der Polizei die Stelle gezeigt, wo noch das Blut im Schnee war, oben beim Arctic Henge. Es war seins. Und ziemlich viel obendrauf.«
»McKenzie!«, rief Großvater plötzlich. »Das hat er nur verdient!« Er schaute mich so wütend an, dass niemand seinem Blick hätte standhalten können.
»Na ja«, sagte ich, schaute weg und sagte mit einer Stimme, die irgendwie gar nicht meine war: »Gefunden haben sie ihn nicht. Sie wissen nicht, was mit ihm passiert ist. Sie suchen ihn noch immer, jetzt, wo der Schnee bald weg ist, aber Spuren gibt es keine. Sie wissen nur, dass sie ihn nicht mehr lebend finden werden. Das steht eigentlich fest. Also kein Grund zur Sorge.«
»Das hat er verdient, dieser Saukerl! Verpiss dich!«
Großvater starrte mich noch immer an. Sein Blick war böse und starr. Ich kannte das. Manchmal war er so gar nicht der Großvater, der er einmal gewesen war. »Dieser Teufel, dieser verfluchte Hund! Fahr zum Teufel, du Saukerl!« Großvater wurde ganz rot im Gesicht. Er zitterte, und seine Augen begannen zu tränen. Meinte er mich? Er machte mir richtig Angst, also schaute ich auf meine Hände im Schoß. Sie waren ganz weiß.
Eine Pflegefrau kam vorbei und muss bemerkt haben, dass etwas nicht in Ordnung war, denn sie fragte mich, ob mit uns alles in Ordnung war. Ich hätte weinen können. Denn es war eben nicht alles in Ordnung. Großvater war nicht mehr Großvater! Er war so wütend, dass er mir Angst machte.
»Komm, Kalmann«, sagte die Frau, die ich eigentlich gar nicht gut kannte, aber schon einige Male hier gesehen hatte. »Dein Großvater meint es nicht so. Menschen in seiner Situation sind manchmal sehr wütend, aus unerklärlichen Gründen. Er meint es aber gar nicht so. Ganz sicher!«
Ich nickte traurig und folgte ihr, ließ sogar zu, dass sie mich bei der Hand nahm, denn bei Frauen mache ich manchmal eine Ausnahme. Zudem sah ich fast nichts mehr, alles war verschwommen.
Die Pflegefrau führte mich in die Kaffeestube der Angestellten.
»Willst du ein Stück Kuchen?«
Ich nickte und wischte mir die Tränen aus den Augen.
»Komm, wir haben noch welchen von gestern. Aber«, und jetzt hielt sie den Zeigefinger vor ihre Lippen und machte »pssst!, sag’s nicht weiter. Mittagessen gibt’s in einer halben Stunde.«
Die Frau setzte sich ein wenig zu mir und trank einen Kaffee, wollte wissen, wie das Wetter in Raufarhöfn war und ob man den vermissten Hotelbesitzer schon gefunden habe, schaute aber immer wieder auf ihre Armbanduhr. Offenbar hatte sie die Tagesschau nicht geguckt, darum wusste sie nicht, dass ich heute eigentlich berühmt war. Bald hatte sie den Kaffee ausgetrunken. Er war wahrscheinlich nicht sehr heiß gewesen. Sie entschuldigte sich und ließ mich alleine in der Kaffeestube zurück.
Ich dachte an Magga. Daran, was sie sonst noch während der langen Autofahrt gesagt hatte. Etwas über Quotenspekulationen. Ich wusste, was sie damit meinte. Großvater hatte es mir einmal erklärt, als er noch er war. Er ärgerte sich über die Quotenspekulationen, wahrscheinlich, weil er ein Kommi war, und als ich ihn einmal darum bat, mir das Ganze zu erklären, dachte er eine Weile nach und erklärte es mir dann mit einem sehr guten Beispiel.
»Im Laden gibt es doch Süßigkeiten, nicht wahr?«
Ich nickte. Ich liebte Süßigkeiten. Darum musste ich jedes Jahr zum Zahnarzt, um Löcher zu bohren. Das liebte ich aber gar nicht.
»Nun, Kalli, stell dir vor, jeder darf sich an den Süßigkeiten bedienen. Gratis. Was glaubst du, was dann geschieht?«
Meine Augen leuchteten.
»Ich würde einen ganzen Sack voll mit nach Hause nehmen!«, sagte ich.
»Richtig«, sagte Großvater. »Und alle deine Freunde?«
»Die auch!«, sagte ich, obwohl ich keine richtigen Freunde hatte.
Großvater war zufrieden.
»Richtig. Und dann?« Ich musste nicht lange überlegen, bis ich draufkam, dass die Süßigkeiten bald alle wären. »Richtig. Die Süßigkeiten wären bald aufgebraucht. Genau das ist mit den Fischen im Meer passiert. Alle Fischer haben so viele Fische gefangen, wie sie nur konnten, bis keine Fische mehr da waren. Aber dann hat der Staat eine Fangquote festgelegt, das heißt, jeder durf‌te nur noch eine bestimmte Menge Fische fangen, etwa so, wie wenn jedes Kind nur noch drei Süßigkeiten nehmen darf.«
»Jeden Tag?«
»Hm. Sagen wir mal, jede Woche.«
»Gratis?«
»Ja, gratis.«
»Ok«, sagte ich und fand das fair.
»Ja, eigentlich ganz in Ordnung«, sagte Großvater. »Gar nicht so dumm. Aber nun darf jeder, der möchte, seine Quote verkaufen. Sagen wir mal, du magst lieber Kartoffelchips als Süßigkeiten, also verkaufst du deine Quote an Heiðars Jungen –«
»Gulli!«
»… Gulli, der Süßigkeiten liebt, und du bekommst von ihm zehntausend Kronen. Dafür kann er nun für immer sechs Süßigkeiten aus dem Laden nehmen.«
»Zehntausend Kronen?«
»Ziemlich viel, nicht wahr? Damit kannst du ganz viele Kartoffelchips kaufen oder ein neues Fahrrad.«
»Ein neues Fahrrad?«
»Ganz egal was. Aber Gulli hat einen Plan. Er kauft nämlich alle Quoten auf, bis niemand mehr Süßigkeiten nehmen darf außer ihm. Er besitzt jetzt also alle Quoten. Und wer nun Süßigkeiten möchte, muss sie von ihm abkaufen, und zwar für sehr viel Geld.«
»Zum Glück hat jeder zehntausend Kronen.«
»Hm«, machte Großvater. »Aber jetzt passiert etwas ganz Schlimmes. Gulli zieht nach Reykjavík. Und er nimmt die ganzen Süßigkeiten-Quoten mit. Denn sie gehören ja ihm. Aber die Süßigkeiten bleiben trotzdem in Raufarhöfn, es darf sich nur niemand mehr bedienen. Und nun habt ihr Trottel hier oben in Raufarhöfn keine Süßigkeiten mehr. Nur noch neue Fahrräder, die man im Winter sowieso nicht gebrauchen kann!«
Ich war beleidigt. Ich war wütend. Ich fragte mich, was die Polizei dazu sagen würde. Einfach mit der Quote abgehauen! Ich verstand nun, dass es sich mit den Fischen ähnlich verhielt und dass die Quotenspekulationen ungerecht waren. Mehr noch: Die Fische gehörten eigentlich allen Isländern, wie mir Großvater einmal erklärt hatte, aber nur wenige Leute machten damit ein Vermögen.
Großvater konnte mir immer alles gut erklären, so dass ich es verstand. Damals. Jetzt nicht mehr. Dabei hätte es mich sehr interessiert, was Großvater zu dem ganzen Vermisstenfall gesagt hätte, und es fiel mir schwer, mir vorzustellen, was er dazu gesagt haben könnte.
Großvater war nicht mehr da, wo er vorher gewesen war, aber ich musste ihn nicht lange suchen, fand ihn auf der Toilette, wo er in den Schüttstein pinkelte. Als er mich bemerkte, knurrte er irritiert und schlug die Tür hinter sich zu.
Nach einer Weile kam er aus dem Badezimmer geschlurft, die Hose offen. Sein Gürtel glitt ihm fast aus dem Bund und baumelte zwischen seinen Beinen. Ich half ihm, die Hose zuzumachen. Er ließ mich. Ich wagte aber nicht, ihm in die Augen zu schauen. Ich war noch immer ein wenig beleidigt, weil er so böse zu mir gewesen war, auch wenn er es nicht so gemeint hatte. Er roch komisch.
»Gehst du heute wieder nach Kef‌lavík?«, fragte er mich.
»Meinst du Raufarhöfn?«, fragte ich ihn.
»Nein, Kef‌lavík!«, beharrte er, wollte es dann aber doch nicht mehr wissen.
Dann erklang der Gong, und wir gingen essen, aber Großvater hatte keinen Hunger und schob den Teller mürrisch weg. Ich aß nur das Kartoffelpüree, die Sauce und das Schweinefleisch, aber beim Gemüse war mein Bauch zum Platzen voll.
An unserem Tisch saß, wie so oft, Lísa. Ich weiß auch nicht, warum sie sich immer zu Großvater setzte. Und meistens fragte sie uns, ob der vierte Platz am Tisch noch frei sei, denn ihre Freundin komme sie besuchen, aber bis jetzt war ihre Freundin noch nie gekommen. Darum blieb der vierte Platz immer frei. Lísa war auch immer so angezogen, als mache sie sich gleich auf den Weg, mit Handtasche, Hut und allem. Manchmal stand sie draußen vor dem Eingang und wartete auf den Bus, wie sie erklärte, dabei war vor dem Pflegeheim gar keine Bushaltestelle. Die Leute hier waren wirklich ballaballa. Großvater war also in guter Gesellschaft.
Zur Nachspeise gab es Karottentorte. Die fand ich lecker. Ich aß auch Großvaters Stück, bis mir schlecht wurde und ich keinen Bissen mehr runterbrachte.
»Meine Tochter hat sich gestern aus dem Fenster gestürzt«, sagte Lísa und lächelte mich erwartungsvoll an. Sie sagte immer so komische Sachen, man musste also gar nicht darauf reagieren.
»Die spinnt doch«, sagte Großvater, und jetzt schaute Lísa ganz traurig.
Als wir wieder zurück im Zimmer waren, zückte ich meine kleine Plastikdose mit Gammelhai. Ich hatte immer ein kleines Klappmesser dabei. Das hatte einen guten Biss. Ich zerschnitt den Gammelhai in kleine Stücke, und Großvater schaute mir ungeduldig zu. Als ich fertig war, bediente er sich und brummte zufrieden.
»Da kommen einem direkt die Tränen«, seufzte er.
Ich war so stolz.
Es klopf‌te, die Tür ging auf, eine Pflegefrau trat ins Zimmer, blieb aber abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, sagte »nein, danke!«, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer fluchtartig. Aber bevor sie die Tür hinter sich zuwarf, rief sie noch: »Macht um Himmels willen das Fenster auf!«
»Beißen sie?«, fragte Großvater. Und plötzlich war er da! Und ich zögerte nicht. Wenn Großvater plötzlich da war, musste man das einfach sofort nutzen.
»Ich habe neue Köder bekommen«, sagte ich schnell. »Ich lasse die Stücke aber noch ein wenig in den Fässern, und dann beißen sie bestimmt, du wirst sehen! Vielleicht fahre ich morgen raus, oder übermorgen, mal sehen.«
Großvater nickte und kaute.
»Und Petra läuft?«
Ich nickte.
»Habe einen Ölwechsel gemacht. Sæmundur hat mir geholfen.«
Großvater musterte mich.
»Du machst das wirklich gut«, sagte er. »Das habe ich immer gewusst.« Ich nickte und unterdrückte ein Grinsen. Großvater packte meine Hand und drückte sie ganz fest, was fast weh tat. »Dein Hai ist delikat. Der beste Hai in ganz Island!«
»Du nimmst mich auf den Arm!«, rief ich und prustete.
»Aber nein! Da können die Haifischfänger in den Westfjorden einpacken!«
Ich war so stolz! Aber ich hatte keine Zeit, um lange stolz zu sein, denn Großvater bat mich, ihm einen Kaffee zu holen, denn er sei müde. Aber ich war nicht schnell genug, denn als ich zurückkam, war er schon eingeschlafen, ließ sich auch nicht mehr wecken, atmete tief, schnarchte ein wenig. Selbst als ich ihm die Wangen tätschelte, schlief er weiter. Mir wurde bald langweilig, und der Kaffee wurde kalt, aber es dauerte sowieso nicht mehr lange, bis mich Magga abholen würde, also verabschiedete ich mich leise, küsste Großvater auf beide stachelige Wangen und auf die Stirn, umarmte ihn lange und ging.
Draußen setzte ich mich auf eine Bank und wartete, bis Magga angefahren kam. Ich war gar nicht glücklich, als hätte ich ein Loch in mir drin. Eine halbe Stunde später kam sie um die Kurve gefegt. Sie muss die Kurve wohl unterschätzt haben, so dass sich ihre Blechbüchse bedenklich neigte. Wenn sie noch etwas mehr aufs Gaspedal gedrückt hätte, wäre die Karre gekippt und mitsamt Magga in den nächsten Garten gerollt. Aber sie kam ruckartig und ziemlich nah an der Bank zum Stehen. Ich zog die Füße ein. Ich sah gleich, dass Magga gut gelaunt war. Die Rücksitze waren bis zu den Fenstern hoch mit Einkaufstaschen vollgestapelt, eine davon war für mich, das wusste ich, das war so abgemacht, und das machten wir immer so. Magga hatte eine neue Frisur, und damit ich es auch bemerkte, berührte sie mit den Handflächen ganz behutsam ihre Haare, worauf ich sagte, dass sie eine neue Frisur habe, was sie noch glücklicher machte. Magga ging oft zum Friseur, wenn wir nach Húsavík fuhren, aber man sah nicht immer einen Unterschied. Beim allerersten Mal, als ich natürlich sowieso nichts bemerkte, obwohl sie eine komplett neue Frisur hatte, erklärte sie mir, dass man in der Gegenwart von Frauen immer aufmerksam zu sein hatte und ihnen Komplimente machen müsse, das mögen Frauen. Das war ein guter Rat von ihr, denn ich wollte gerne eine Frau, hatte aber bisher noch keine gefunden, und darum war guter Rat teuer. Es war wichtig, dass ich alles richtig machte, und deshalb übte ich mit ihr, war immer aufmerksam und versuchte es zu bemerken, wenn sie eine neue Frisur hatte. Wir machten sozusagen ein Spiel daraus, und manchmal, wenn ich es nicht bemerkte, bekam ich Punkteabzug, wie sie sagte, obwohl wir gar keine Punkteliste hatten. Aber wenn wir eine Punkteliste gehabt hätten, wäre ich mit vielen Punkten im Vorsprung gewesen. Magga lächelte also auch diesmal geschmeichelt und sagte, ich bekomme zehn Punkte, und schon drückte sie mit Elan aufs Gaspedal, raste über eine Bodenschwelle, die den Verkehr eigentlich hätte verlangsamen sollen, so dass wir fast abhoben, aber sogleich zurück auf den Boden geholt wurden, was vor allem der Fronstoßdämpfer zu spüren bekam, doch als wir Húsavík hinter uns gelassen hatten, fuhr Magga keine siebzig Stundenkilometer mehr, weil uns doch ein paar Autos entgegenkamen. Sie redete den ganzen Weg bis nach Raufarhöfn, und manchmal hörte ich gar nicht richtig zu, wurde aber aufmerksam, als sie von einer Schlägerei zu erzählen begann, die sich wohl am Wochenende in Húsavík zugetragen hatte. Ein betrunkener Rumäne habe sich im Gamli Baukur an die Frauen rangemacht, habe auch eine begrabscht, worauf ihm diese eine runtergehauen habe, was den Rumänen, den die Húsavíkinger Troll nannten, wütend gemacht habe. Er habe die Frau so fest von sich gestoßen, dass sie über einen Tisch gefallen und alle Bier- und Weingläser mit sich zu Boden gefegt habe. Dabei habe sie sich üble Schnittverletzungen an den Händen zugezogen, was in einer Schlägerei zwischen Isländern und Rumänen resultiert habe. Magga schüttelte entrüstet den Kopf. Als sie diesem Troll einmal im Laden begegnet sei, habe sie gleich ein ungutes Gefühl gehabt. Die Rumänen, sagte sie, seien einfach ein Problem, denn wir bekämen nicht die besten Exemplare zugeschickt. Nicht wie die Polen, von denen zwar die meisten selbst nach zehn Jahren noch kaum Isländisch könnten, aber wenigstens fleißig seien, die Frauen und die Männer. Und wenn das mit der Einwanderung so weitergehe, gehe es uns gleich wie den Europäern, die von Räuberbanden aus Osteuropa heimgesucht werden.
Von Nói wusste ich, dass vor allem Rumänen und Litauer Sachen klauten, aber am allermeisten Drogensüchtige in Wohnungen einbrachen, also Isländer, denn Drogensucht hat mit Nationalität nichts zu tun. Und das sagte ich ihr auch, obwohl ich meistens nicht viel sagte.
Magga schaute mich an, war entweder überrascht, weil ich etwas gesagt hatte oder weil sie geglaubt hatte, dass es immer nur Rumänen waren, die Probleme machten. Jedenfalls schaute sie mich an, und darum schaute sie nicht auf die Straße, bis die Räder an den Straßenrand gerieten und Schlamm an der Seite hochspritzte. Magga gab einen erschreckten Ton von sich und riss das Steuer rum, drückte dabei aber aufs Gas, und mir kam der Gedanke, als ich mich am Sitz festhielt und die Zähne zusammenbiss, dass ich meinen Großvater vielleicht zum letzten Mal gesehen hatte.
»Litauer?«, sagte sie. »Aber das sind doch Litauer, die bei uns im Dorf sind, nicht wahr? Im Hotel, das sind doch Litauer!«
Das stimmte. Und darum nickte ich eifrig. Und ich schwitzte.
»Nicht wahr?«, sagte Magga und schaute mich wieder an.
»Ja, Litauer!«, rief ich und zeigte auf die Straße, denn ich wollte, dass Magga auf die Straße schaute, was sie dann auch tat.
»Armer Róbert«, sagte sie. »Vielleicht haben ihn die Litauer ermordet.« Sie machte eine Pause, war einen Moment ganz still, dann fügte sie hinzu: »Organisiertes Verbrechen«, seufzte und ergänzte: »Bei uns in Raufarhöfn. Nirgendwo ist man noch sicher. Da müssen wir noch bis zum Nordpol, um sicher zu sein.«
»Da gibt es Eisbären«, erinnerte ich sie, und Magga lachte, sagte, ich solle jetzt aber mal aufhören mit meinen Eisbären, sonst kämen sie dann wirklich! Sie erzählte mir dann einiges über Róbert, der früher ein ganz hübscher Mann gewesen sei, ein richtiger Frauenschwarm, in den einige Frauen verliebt waren, ein Bachelor, jung und erfolgreich, der sogar sieben oder acht Jahre im exotischen Ausland gelebt und mit Fischzuchten in Brasilien ein Vermögen gemacht habe.
»Aquakulturen«, erzählte Magga. »Fischzuchten, das ist genial. Dann muss man die Fische nicht mehr fangen. Die sind dann schon im Netz!«
»Aber dafür muss man sie füttern, die Fische«, sagte ich.
»Trotzdem, viel einfacher«, sagte Magga.
»Große Fische essen kleine Fische«, sagte ich. Das wusste ich von Großvater. »Darum muss man trotzdem fischen gehen.« Aber Magga schüttelte nur den Kopf und wurde irgendwie traurig, sagte, der arme Róbert habe doch viel zu viel gearbeitet, und der ganze Stress wegen der Quote, dem Hotel und dem Finanzdesaster mit dem Arctic Henge. Sowieso habe ihn die Finanzkrise schlimm getroffen. Und dieser Stress sei ihm anzusehen gewesen. Er habe sich während den letzten Jahren so verändert, und er habe wieder arg zu trinken begonnen, doch sie wolle gar nicht wissen, könne es sich auch nicht vorstellen, wie er jetzt aussehe, so tot. Doch Magga schüttelte den Gedanken ab und fragte mich, wie es denn Großvater gehe, und ich erzählte ihr, dass ich ihm Haifisch mitgebracht habe, worauf er sich eine Weile mit mir unterhalten habe, und –
»Wie schön! Das hast du wunderbar gemacht!«, rief Magga und erklärte mir, dass wir Erinnerungen auch mit dem Geruchssinn verknüpfen und so weiter, ich hörte da nicht mehr wirklich zu, denn ich dachte an Großvater und daran, was er gesagt hatte, versuchte mich ganz genau zu erinnern, denn ich wusste wirklich nicht, ob ich diese Fahrt überleben würde: »Dein Hai ist der beste in ganz Island!« Magga war irgendwie aufgedreht. Eben war sie noch traurig gewesen. Jetzt war sie so gut gelaunt, als hätte sie im Lotto gewonnen. Manchmal kroch sie mit Tempo sechzig, manchmal raste sie mit Tempo hundert, je nachdem, an was sie gerade dachte, es übertrug sich auf ihren rechten Fuß, und darum musste sie mich zweimal fragen, ob ich denn noch welchen bei mir habe.
»Was?«
»Haifisch!«
Ja, hatte ich. Und als sie mich vor meinem Häuschen absetzte, schenkte ich ihr die ganze Plastikdose mit dem restlichen Gammelhai, ich war doch so froh, dass ich die Fahrt überlebt hatte, und Magga war total dankbar, sagte, sie wolle gleich heim und sich ein ordentliches Stück genehmigen, dazu einen Schluck Brennivín, und zufrieden brauste sie davon. Ich bemerkte gerade noch, wie Elínborg ihre Vorhänge aufzog, erst Magga hinterherschaute und dann mich fixierte.
Ich ging ins Haus und legte mich aufs Sofa, war irgendwie völlig erschöpft, knipste den Fernseher an und machte ein Nickerchen.
Nói weckte mich, das heißt, mein Laptop weckte mich, der zu tuten begann, als mich Nói auf Messenger zu erreichen versuchte.
»Mr. N.!«, gähnte ich.
»Vergiss den Dampf‌topf«, sagte Nói und ergriff eine Redbull-Dose, die im Bild stand, hob sie aus dem Bild, trank sie leer, zerknüllte die Dose mit einiger Anstrengung und schmiss sie neben sich in den Papierkorb, der da wohl stand. Es klang so, als lägen da schon weitere Dosen drin.
Ich wusste natürlich längst, dass nicht der Dampf‌topf Róbert umgebracht hatte. So was spürt man einfach, aber ich wollte Nói den Spaß an der Sache nicht verderben.
»Wieso?«, fragte ich und spielte den Unwissenden.
»Er kann es nicht gewesen sein«, sagte Nói.
»Aber wieso?«
»Sein Alibi ist wasserdicht.«
»Alibi?«
»Hundertprozentig! Zuerst glaubte ich auf einer heißen Fährte zu sein. Wusstest du, dass der Typ nicht mehr aufs Meer fahren darf, weil er psychische Probleme hat?«
»Echt?« Das wusste ich nicht.
»Er ist eine kranke Sau. Hat auf seiner letzten Tour fast den Maschinisten zu Tode geprügelt.«
»Ach, die Geschichte«, sagte ich, denn ich kannte die Geschichte, wusste aber nicht, dass Óttar deswegen nicht mehr auf einem Boot arbeiten durf‌te. Und zu Tode geprügelt hatte er den Maschinisten, der sein Schwager gewesen war, auch nicht, nur ein wenig herumgeschubst. Aber dieser Schwager hatte sich dann scheiden lassen und war weggezogen, darum gab es keinen Grund zur Sorge.
»Der Maschinist hat sich wohl über die Suppe beschwert«, sagte Nói und lachte laut, hielt sich den Bauch, und ich stellte mir vor, dass er den Kopf zurückwarf, aber sehen konnte ich das nicht. Dann begann Nói zu husten, und er hustete und hustete, ein trockenes, röhrendes Husten, das mir richtig in den Ohren weh tat, und fast hätte ich sein Gesicht gesehen, denn Nói beugte sich vor, aber dann passierten zwei Sachen, fast zur gleichen Zeit: Im Hintergrund öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer, und die Verbindung brach ab.
Zwanzig Minuten später rief Nói wieder an.
»Er hat auf Facebook einige Kommentare abgegeben, etwa zu der Zeit, als der Hotelbesitzer verschwand. Er hat sich da während gut drei Stunden aufgeregt und fünfunddreißig Kommentare in einen Feed gespeist.«
Nói klang ganz anders. Seine Stimme war ziemlich monoton, als schmerzte ihn sein Hals. Seine Zunge lag ihm schwer im Mund, wie betrunken.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Aber sicher«, sagte Nói, und dann eine Weile nichts mehr.
»Worum ging es denn auf Facebook?«
»Da muss man ihm schon recht geben«, lallte Nói und saß bewegungslos da. »Dieser ganze Feministenscheiß ist völlig übertrieben. Der Dampf‌topf hat sich im Forum mit etwa drei Frauen angelegt, die ihn fertigmachen wollten, aber er hat sich meisterlich gewehrt, bis die Frauen schließlich nicht mehr auf ihn reagierten, aber ich meine, es stimmt schon, wir Männer arbeiten länger und härter. Schon seit Jahrhunderten. Und jetzt wollen die Frauen plötzlich genauso viel verdienen wie wir? Jetzt aber mal langsam, Püppchen. Nimm mal einen Hammer in die Hand und bau ein Haus, dann reden wir weiter!«
Ich lachte, schämte mich aber ein wenig und dachte an meine Mutter, die bis zum Umfallen schuftete. Óttar arbeitete nur Teilzeit im Hotelrestaurant, das wusste ich. Darum hatte er auch Zeit, drei Stunden lang Facebook-Kommentare zu schreiben. Zudem hatte er wieder zu trinken begonnen. Gin und Tonic.
»Der Dampf‌topf ist wieder Alkoholiker wie Róbert«, sagte ich. »Er hat sich kürzlich einen Drink gemixt.«
»Das ergibt Sinn«, sagte Nói. »Wie er sich da auf Facebook ausgedrückt hat, deutet darauf hin, dass er betrunken war. Was mich auf eine weitere Spur führt …«
Nói machte eine Pause, eine lange Pause, und ich hielt den Atem an. Er schnauf‌te unregelmäßig. Etwas war nicht in Ordnung mit ihm. Dann brach das Gespräch erneut ab. Zehn Minuten später war er wieder da.
»Who shot the Sherif‌f?«
»Was?«
»Willst du denn nicht wissen, welche Spur ich entdeckt habe?«
»Doch!«, sagte ich und war verwirrt. Nói war ganz der Alte.
»Wieso fragst du denn nicht?«
»Was ist deine Spur?«
»Geld, money, dinero, cash eben. Folge dem Geld!«
»Ok. Aber wohin?«
»Nein!«, sagte Nói.
»Nein?«
»Nein.«
»Also nein.«
»Woher.«
»Woher?«
»Korrektomundo. Woher kommt das ganze Geld.«
»Ich weiß es leider auch nicht«, sagte ich.
»Wir müssen dem Geldstrom folgen. Der Alkohol in der Bar. Der Dampf‌topf arbeitet wenig und ist Alkoholiker. Das kostet. Das geht gar nicht. Wer bezahlt?«
»Róbert«, vermutete ich, denn Róbert war der einzige reiche Mann in Raufarhöfn. »Die beiden sind gute Freunde, schon seit immer.«
»Na also! Róbert bezahlt. Sein Jugendfreund. Sein Arbeitgeber. Der Hotelbesitzer bezahlt. Er hat also Geld. Aber woher? Ganz bestimmt nicht vom Hotelbusiness. Es kommen doch kaum Gäste zu euch hoch – obwohl ich euch eine ganze Menge wünschen würde, denn wir haben zu viele hier unten.«
»Nein danke«, sagte ich. »Ich mag Touristen überhaupt nicht. Die sitzen dann plötzlich an meinem Tisch.«
»Eben. Das kenne ich nur zu gut.«
»Die sollen sich verpissen!«
»Kalmann, bleib am Ball! Der Hotelbesitzer hat doch diesen Arctic-Henge-Steinhaufen gebaut.«
»Aber nur zur Hälfte.«
»Ihm ist also das Geld ausgegangen.«
»Das stimmt.«
»Aber!« Nói hob den Zeigefinger. »Woher kommt das Geld?«
»Die Leute haben gespendet. Und sein Vermögen hat er mit Fischfarmen in Brasilien gemacht.«
»Ach, der ist das?«
»Und er hat auch eine Fangquote.«
»Interessant. Hochinteressant. Ergibt alles Sinn. Die Quotenkönige sind die reichsten Banditen im Lande. Aber wieso hat er den Arctic Henge nicht fertigbauen können? Ist ihm wirklich das Geld ausgegangen?«
»Gute Frage.«
»Oder besser, wieso ist es ihm ausgegangen? Es gibt einige Möglichkeiten. Erstens. Der Arctic Henge machte ihn pleite. Zweitens. Das Hotel machte ihn pleite. Aber vielleicht war es so gewollt; ein Schuldenprojekt, um weniger Steuern bezahlen zu müssen. Drittens. Frauen. Viertens. Alkohol …«
»Frauen?« Mir schwindelte.
»Korrektomundo. Aber jetzt frage ich dich …« Nói machte wieder eine Pause, beugte sich vor und sagte: »Was war zuerst. Das Geld oder der Alkohol.«
»Was?«
»Das Huhn oder das Ei?«
»Das Huhn«, vermutete ich, denn ein Ei kann sich nicht selber legen.
»Es wäre doch möglich, dass der Hotelbesitzer Alkohol brennt. Oder der Dampf‌topf! Oder die litauische Drogenmafia! Und der Hotelbesitzer hat es bemerkt, wollte sie verpfeifen und musste daran glauben.«
»Die Litauer«, sagte ich, ohne zu überlegen, »sind total nett. Besonders Nadja.«
»Wer ist Nadja?«
»Sie arbeitet im Hotel und ist totaaal heiß!«
Nói richtete sich etwas auf und bearbeitete seine Tastatur.
»Kennst du ihren Nachnamen?«
»Nein.«
»Nadja …«, Nói klickte ein paar Mal mit der Maus »… Nadja Staiva! Warte … wow. Die ist total heiß! Ai Caramba!« Nói wackelte auf dem Stuhl. »Und die Braut ist nett, sagst du? Wieso hast du mir das nicht schon früher gesagt!«
Ein paar Mausklicke später hatte ich Bilder von ihr auf meinem Bildschirm, die Nói auf Facebook gefunden hatte. Selfies mit Sonnenbrille oder Freunden, die Lippen zum Kuss geformt, beim Gullfoss, beim Geysir, beim Leuchtturm, beim Party machen und in einer Stadt, aber sicher nicht Reykjavík, wahrscheinlich in Litauen. Ich hatte sie noch nie so geschminkt gesehen, und sie war noch viel schöner auf den Bildern. Aber jetzt realisierte ich, dass sie nicht auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Nói wurde sauer.
»Und du hast mir immer vorgejammert, es gäbe in Raufarhöfn keine Katzen!«
»Was ich damit meinte«, verteidigte ich mich, »es gibt hier keine Frauen für mich, ich meine, bei denen ich eine Chance hätte. Entweder sind sie zu alt oder, wie Nadja, zu heiß. Und zudem vergeben.«
»Fuck me!«, sagte Nói. »That sucks balls, bro!«
Ich nickte. Nói öffnete eine Redbull-Büchse, während ich ihm von den Litauern erzählte:
»Es gibt noch eine Litauerin, aber auch die hat ihren Freund dabei. Sie sind alle Freunde.«
»Die treiben es bestimmt miteinander!«, vermutete Nói und trank.
Ich nickte traurig und dachte an Nadja. Als sie damals nach Raufarhöfn kam, hatte sie mich ignoriert. Das war jetzt schon zwei oder drei Jahre her. Aber seit ich den Litauern auf einer Bootsfahrt begegnet war, war Nadja immer total nett zu mir gewesen. Sie bat auch ab und an um Rat. Sie wollte wissen, wo im Internet die Wetterprognosen für Seeleute zu finden waren. Ebbe und Flut, Windkarten, Meeresströmungen und so. Ich erzählte ihr auch von einer Website, auf der man genau sehen konnte, wo sich alle Schiffe der Welt befanden, was sie sehr interessierte und glücklich machte. Ich wusste gar nicht, dass Litauer so gerne Bootsfahrten unternehmen. Aber es gab so vieles, das ich nicht über sie wusste. Zum Beispiel, dass alle Litauer Russisch können. Das fand ich krass. Wenn man die Weltkarte anguckt, sieht man, wie groß Russland ist. Und Nadja konnte sich mit allen da unterhalten! Aber auf der Weltkarte sieht man auch, dass Litauen an der Ostsee liegt, was die Vorliebe für Bootsfahrten erklärte. Und ich lernte, dass Litauer gerne Suppe kochen. Das merkte man der Speisekarte im Hotel an. Neuerdings gab es auch Kartoffelpuffer. Ich fand das ganz lecker, obwohl ich Fritten mit Cocktailsauce lieber mochte.
»Ihr Freund heißt Darius«, stellte Nói fest. »Darius … Ziol… Ziol… Ziolkowski. Schrecklicher Name. Der Typ gefällt mir gar nicht. Der sieht ja schon verdächtig aus! Ein army guy.« Nói war noch immer mit Facebook beschäftigt. Er schickte mir ein Bild, worauf Darius in einen Tarnanzug gekleidet auf einem Panzer saß, das Gewehr auf den Oberschenkeln liegen hatte und mit den Fingern das Siegeszeichen machte. »Ein Profikiller«, sagte Nói.
Mir schauderte. Diese ganzen Informationen waren überwältigend. Es war unangenehm zu wissen, dass im Hotel ein professioneller Killer arbeitete und eine Frau hatte, die wahrscheinlich viel zu lieb für ihn war und meine Traumfrau hätte sein können. Dieser Darius hatte noch nie Hallo zu mir gesagt. Das war doch verdächtig. Nói gab mir recht.
»Was weißt du über die anderen beiden?«, fragte er mich, und ich musste zugeben, dass ich nichts über sie wusste. Ich hatte zwar ihre Namen schon gehört, aber ich konnte sie mir nicht merken, weil sie nicht isländisch waren, aber Nói wollte versuchen, der Sache mit Hilfe des Internets auf den Grund zu gehen. Wenigstens konnte ich das Aussehen der Litauer beschreiben. Nadjas Freundin war etwas breiter, hatte aber geile Lippen und so einen Punkt auf der Wange, einen Fleck. Dazu braunes, langes Haar …
»Geil!«, stöhnte Nói. Er hatte sie gefunden.
Deren Freund hatte kurze schwarze Haare, einen breiten Kopf, breite Schultern und ein Tattoo am Oberarm, das man bis zur Hälfte sah, da er meistens im T-Shirt rumlief, obwohl es kalt war. Ich wusste, dass sie alle rauchten, dass sie im Hotel alle Arbeiten verrichteten, putzten, Wäsche wuschen, Geschirr spülten, bedienten, servierten, malten, flickten, Glühbirnen auswechselten und den Müll rausbrachten. Sie machten einfach alles. Ich wusste, dass sie einmal pro Woche in ihren rostigen Subaru kletterten und nach Húsavík zum Einkaufen fuhren. Ich wusste, dass sie Geld in die Heimat schickten – Nadja hatte es mir einmal erzählt. Ich wusste, dass Nadja Geld sparte und damit ein Haus in Litauen kaufen wollte.
Das alles erzählte ich Nói, was ihn in seiner Theorie bestätigte, dass mit den Litauern etwas faul war, dass sie Geld brauchten, dass sie nicht gedachten, in Island zu bleiben, und dass sie wussten, wie man jemanden umbrachte. Nói gab mir den Auf‌trag, aufmerksam zu bleiben und zu beobachten, wie sich die Litauer jetzt verhielten. Waren sie erschüttert? Waren sie gut gelaunt? Bekümmert? Erleichtert? Was sagte Nadja zu der ganzen Sache? Nói beauf‌tragte mich, sie in ein Gespräch zu verwickeln, was mich total nervös machte, denn es war normalerweise immer Nadja, die mich zuerst ansprach. Und darum konnte ich an jenem Abend eine ganze Weile gar nicht gut einschlafen. Lange lag ich wach im Bett, guckte auf die Uhr, bis es eins war, halb zwei, zwei. Dann halb drei. Ich war innerlich so aufgeregt, dabei wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass Magga tot in ihrer Küche lag und wie ich an die Decke starrte.