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Leiche
Ich wunderte mich, woher das seltsame Licht an meiner Zimmerdecke kam. Ich war gerade aufgewacht, und da weiß man immer gar nicht, wo man ist, wer man ist oder was passiert. Man starrt an die Decke und betrachtet das seltsame, tanzende Licht, als wäre über Nacht der Meeresspiegel angestiegen und hätte das Haus vom Fundament gehoben. Als treibe man auf offener See. Es ist das Sonnenlicht, das auf den Wellen reflektiert wird und durchs Fenster flackert. Man hat dann so dumme Gedanken. Klimawandel. Gletscherschmelze. Ich musste an Großvater denken, der manchmal gesagt hatte, Island schwimme auf dem Meer, es habe nur noch niemand bemerkt. Es gibt diesen Film, in dem alle Gletscher geschmolzen sind und das Wasser so hoch steht, dass es kein Land mehr gibt. Nur noch Meer. Der Held ist halb Mensch, halb Fisch. Er kann unter Wasser atmen, sieht aber noch immer gut aus, nicht wie ein Fisch. Das nennt man Evolution. Und wer nicht an Evolution glaubt, ist behindert. Das hatte auch Nói gesagt. Man muss ja nur den Fernseher einschalten, um sich dann zu fragen, ob man überhaupt noch Kinder in diese Welt setzen soll. Dabei möchte ich doch Kinder. Und früher wusste ich auch, wer die Mutter für meine Kinder sein würde: Dagbjört. Aber das Leben richtet sich
nicht immer nach unseren Wünschen. Das sagt auch meine Mutter.
In diesen Halbsekunden, wenn man wach wird, aber noch immer schläft, denkt man manchmal auch an Sex. Obwohl ich jetzt nicht mehr in Dagbjört verliebt war, hätte ich nicht nein gesagt, wenn sie zu mir ins Bett gestiegen wäre, um Kinder zu machen. Das ist die Glut der Liebe. Die brennt ein Leben lang. Auch wenn das Feuer schon längst aus ist, glimmt tief drin in der Asche die Glut. Das hatte Magga gesagt.
Und in diesen Gedanken war ich irgendwie gefangen, als das Blaulicht an meiner Decke tanzte, ich mit knüppelhartem Glied im Bett lag und mir nur langsam klarwurde, dass vor meinem Häuschen ein Polizeiauto stand. Das Pochen an der Tür warf mich geradezu aus dem Bett, ich stolperte nur in meiner Unterhose die steile Treppe runter und riss die Tür auf. Erst dann wurde ich richtig wach.
Polizeikommissarin Birna schaute mich von oben bis unten an, sagte: »Zieh dich an!«, und ich machte die Tür zu, und im selben Moment fiel mir ein, dass ich die Tür hätte offen lassen sollen, als Birna erneut an die Tür pochte. Ich machte also sofort wieder auf und eilte nach oben, wo ich mich anzog. Dann kam ich so schnell ich konnte die Treppe runter, Birna sollte merken, dass es mir ernst war, aber ich wusste gar nicht, was sie von mir wollte, und fragte mich, ob ich die Tür gar nicht hätte aufmachen, sondern so tun sollen, als wäre ich nicht zu Hause. Birna war inzwischen eingetreten und schaute sich um. Heute war sie uniformiert und ausgerüstet, hatte sogar Pfefferspray und einen Schlagstock am Gürtel. An ihrer Schulter hing ein kleines
Polizeifunkgerät. Birna machte ein mürrisches Gesicht, sah müde aus. Älter.
»Setz dich!«, sagte sie und zeigte auf einen Stuhl am Tisch.
Ich setzte mich und bereute nun wirklich, die Tür aufgemacht zu haben. Mein Kopf wurde heiß und darum sicher rot. Birna baute sich vor mir auf, die Hände auf dem Schlagstockgürtel ruhend. Musterte mich lange.
»Wieso lächelst du?«, fragte sie mich, und ich zuckte mit den Schultern, versuchte, nicht mehr zu lächeln, was mir aber nicht gelang. »Ist das nur ein Spiel für dich? Polizeiautos, Blaulicht, endlich läuft mal was in Raufarhöfn? Endlich was los, was?«
Ich zuckte wieder mit den Schultern. Birna seufzte, schaute zu Boden, atmete gepresst aus und schüttelte den Kopf.
»Ich brauche Kaffee«, sagte sie, aber nicht so, als verlangte sie von mir einen Kaffee. Sie führte nur ein Selbstgespräch.
»Magga ist tot«, sagte sie unverhofft. Jetzt machte ich große Augen. Magga war tot? Die
Magga? Die mich vor wenigen Stunden vor meinem Haus abgesetzt hatte? Birna betrachtete mich wieder und beugte sich zu mir. »Tot. In der Küche. Am Boden. Blaues Gesicht. Tot.«
Vielleicht war der Zeitpunkt meiner Frage nicht gut gewählt, aber ich hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich war ich eben erst aufgewacht, und die Polizeikommissarin blickte direkt in meinen Kopf, was unangenehm war, aber schon hörte ich mich sagen:
»Wer fährt mich denn jetzt nach Húsavík? Magga fährt
mich nämlich jeden Samstag …« Ich hielt die Klappe. Aber Birnas Gesichtsausdruck wurde weicher.
»Magst du Magga?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Meistens. Nicht immer. Sie ist nett zu mir. Aber sie redet so viel, dass einem fast die Ohren abfallen!«
»Über was habt ihr euch denn unterhalten?«
Ich schaute Birna entsetzt an. Die Fahrt von Raufarhöfn nach Húsavík dauert zwei Stunden. Also vier Stunden hin und zurück. Und Magga hatte fast ununterbrochen geredet. Hätte ich die vier Stunden Gespräch zusammenfassen sollen? Ich hatte doch meistens gar nicht zugehört!
»Lass dir Zeit«, sagte Birna. Sie war nun nicht mehr so barsch, setzte sich sogar mir gegenüber an den Tisch. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln und vergaß dabei völlig, mich an gestern zu erinnern. »Habt ihr euch übers Wetter unterhalten?«
»Nein … Doch! Vielleicht.«
»Habt ihr euch über deinen Großvater unterhalten?«
Ich war echt dankbar für ihre Vorschläge. Denn nun wusste ich wieder, über was wir uns unterhalten hatten.
»Ja!«, sagte ich erleichtert. »Über Großvater und über die ganze Sache mit Róbert.«
»Geht doch«, sagte Birna und lächelte müde. »Über was denn genau?« Ich zuckte mit den Schultern. Mein Kopf war einfach noch nicht ganz wach. »War Magga traurig über Róberts Verschwinden?«
»Ein bisschen«, sagte ich. »Vielleicht ein wenig. Sie sagte, dass Róbert früher ein ganz hübscher und netter Mann
gewesen sei. Ein Frauenschwarm. Also vielleicht war sie schon auch traurig.«
»Aber jetzt mochte sie ihn nicht mehr?«
»Magga beschwert sich immer über alle und jeden«, sagte ich. Und da fiel mir noch etwas ein: »Magga hat sich eine neue Frisur machen lassen! Und sie hat sich über meinen Haifisch gefreut.«
Birna runzelte die Stirn. »Du hast ihr Gammelhai gegeben?«
Ich nickte. »Ich nehme immer Gammelhai mit, wenn ich Großvater besuche.«
»Das riecht man«, sagte Birna. »Ihre Wohnung riecht wie deine.« Birna rümpfte die Nase und hing einem Gedanken nach. »Wieso hat sie Róbert nicht mehr gemocht?«
»Róbert? Ich glaube, sie mochte ihn. Sie war bloß traurig. Aber sie mag seine Arbeiter nicht, die Litauer.«
Birna seufzte und murmelte:
»Nix verstehen.«
»Das hat sie auch gesagt. Sie mag die Litauer nicht und die Rumänen auch nicht und die Schwarzen auch nicht und die Jungen auch nicht und die Politiker auch nicht und die Touristen auch nicht und das Wetter auch nicht und den Verkehr auch nicht.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich eine gute Hilfe war.
»Was hat sie zu dir gesagt, als sie dich hier abgesetzt hat, gestern Abend?«
»Sie hat gesagt, danke für den Hai. Sie mag meinen Hai. Ich mache wahrscheinlich den zweitbesten Hákarl in ganz Island.«
»Das glaube ich dir«, sagte Birna. Ihr Funk, der auf ihrer
Schulter befestigt war, machte plötzlich Töne, und dann fragte eine rauschende Stimme nach ihr. Birna drehte ihren Kopf zum Funk, drückte auf einen Knopf und sagte, sie sei hier fertig und komme gleich rüber. Dann schaute sie mich wieder an, ziemlich lange sogar. Und ich erwiderte ihren Blick, denn ich glaubte, sie würde gleich etwas sagen, aber sie sagte einfach nichts, schaute mich nur an. Sie war müde, das sah ich ihr an, und irgendwie schaute sie durch mich hindurch. Dann seufzte sie, klatschte ihre Handfläche auf die Tischplatte, erhob sich und ging einfach, ohne auf Wiedersehen zu sagen, als wäre ich gar nicht mehr da. Sie warf die Tür hinter sich zu, schmiss den Motor an, und bald war das Blaulicht an der Decke weg. Und ich saß am Küchentisch, und erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass es Magga nicht mehr gab. Und die Frage stellte sich mir erneut, wer mich denn nun nach Húsavík zu Großvater fahren würde. Also rief ich meine Mutter an.