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Sæmundur
Ich wachte ziemlich früh auf, obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war. Dafür gab es zwei Erklärungen. Erstens: Ich hatte so tief geschlafen, dass ich einfach ausgeschlafen war. Zweitens: Ich spürte, dass meine Mutter nicht mehr da war. Jetzt bemerkte ich die Stille. Auch die Wolken hingen reglos, und das Meer lag frohlockend matt da. Also verputzte ich zwei Schalen Cocoa Puffs und ein paar Stücke Gammelhai, packte Dörrfisch, eine Tafel Schokolade und eine Flasche Cola in meinen wasserdichten Seesack, stülpte meine Wollmütze über, schulterte Großvaters Flinte und ging runter an den Hafen. Die Fahrzeuge der Rettungswache standen vor dem Gemeindehaus, einige Motoren brummten zufrieden vor sich hin, auch wenn niemand in den Fahrzeugen saß, drinnen fand vielleicht eine Versammlung oder eine Informationsveranstaltung statt, und bestimmt gab es Kaffee. Es sah fast so aus wie früher, als im Gemeindehaus noch etwas los war, Theatervorführungen oder sogar Kinofilme. Das war, als ich noch ein Kind war. Damals war auch die Polizeistation im Keller des Hauses untergebracht, was sehr praktisch war: Wenn es oben Radau gab, mussten die Betrunkenen nur die Treppe runter.
Unten am Hafen klopfte ich ans Fenster des Bürocontainers. Sæmundur öffnete das Fenster, und ich sagte ihm, dass
ich rausfahren wollte, was er eine gute Idee fand. Er trat zu mir ins Freie, sog die kalte Luft ein und gab mir, nachdem er eine Weile gewittert hatte, so dass ich seine behaarten Nasenlöcher sehen konnte, grünes Licht. Er meinte, das Wetter werde ruhig bleiben, möglicherweise werde es ein paar Schneeflocken geben, aber das sei kein Grund zur Sorge, und er versprach, den Gabelstapler und den Anhänger bereitzuhalten.
»Sæmundur«, fragte ich ihn dann, weil ich mich wieder an unser Gespräch vor ein paar Tagen erinnerte. »Bist du ein Kommi?«
Sæmundur schaute mich überrascht an.
»Wieso fragst du?«
»Einfach so.« Ich wusste eigentlich selber nicht, wieso ich ihn danach gefragt hatte.
»Seh ich etwa aus wie ein Kommunist? Dazu bin ich doch viel zu alt, und dazu fehlt mir ein Schnurrbart!«
Das leuchtete mir ein, obwohl ich nicht gewusst hatte, dass Kommunisten Schnurrbärte trugen.
Ich ging in meine Halle, ließ Sæmundur draußen vor seinem Container stehen und zog meinen schwarz-gelben Floating-Anzug an, der zugleich eine Schwimmweste war. Wenn ich damit ins Wasser fiel, konnte ich nicht untergehen. Und der Anzug hielt mich warm. Ich war aber noch nie ins Wasser gefallen.
Ich fischte die frischen Köderstücke aus der Salzwasser-Cognac-Essig-Marinade und füllte einen ganzen Eimer. Ohne Köder fängt man nichts, denn kein Hai hängt sich freiwillig an einen Haken, aber manchmal gelang es den Haien, oder auch anderen Fischen, die Köderstücke
abzunagen, und darum musste ich immer wieder neue Stücke an die Haken machen.
Draußen hatte es nun tatsächlich wieder zu schneien begonnen, aber nur leicht. Ich schleppte den Eimer zum Pier, wo meine Petra vertäut lag. Sie war jetzt mein Boot. Ich hatte sie von Großvater übernommen. Baujahr 1959, also fast doppelt so alt wie ich, aber noch immer schlank und rank. Acht Meter lang, fünf Tonnen schwer und so stark wie fünfundvierzig Pferde. Das muss man sich einmal vorstellen! Ein 1980er Volvo-Motor. Nach dem Ölwechsel lief er wortwörtlich wie geschmiert. Petra war zufrieden. Ich kontrollierte meine elektronischen Geräte, den Funkpeiler, meinen Satellitenkompass, mein Echolot und mein GPS
, machte die Leinen los und legte ab, tuckerte gemächlich zum Hafen hinaus, winkte Hafenmeister Sæmundur zu, der wieder vor seinen Container getreten war und mir ebenso zuwinkte. Ich musste lachen. Ich mochte Sæmundur. Er war einer der wenigen, die Großvater gemocht hatten.
Bald bog ich um das Kap Höfði, an den Vogelfelsen und am Holm vorbei, wo die Eissturmvögel segelten und sich die Kormorane in Pose warfen, als machten sie ein Fotoshooting. Ich ließ die Häuserreihe von Raufarhöfn hinter mir und zielte mitten auf das graue, endlose Meer, das heute ganz sanft dalag und nur leicht wogte. Meine Haifischleine war zwölf Seemeilen nordöstlich vom Hafen entfernt. Die Fahrt dahin dauerte also etwa eineinhalb Stunden. Früher war ich mit Großvater nur ein paar Minuten unterwegs zur Langleine, sie war hier ganz in der Nähe des Kaps. Man konnte die Bojen vom Leuchtturm aus sehen, und manchmal, bei ruhigem Wetter, konnte man sogar erkennen, wenn
ein Hai dranhing. Damals machten das auch noch andere: Jón, der nach Grindavík gezogen war, Ingvar, den es nicht mehr gab, und Hafenmeister Sæmundur höchstpersönlich, der eigentlich pensioniert sein sollte. Warum es keine Haie mehr in der Bucht gab, war allen ein Rätsel, und ich glaube, das weiß selbst heute noch niemand. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass wir die Bucht leergefischt hatten, denn ganz früher, also vor etwa zwei- oder dreihundert Jahren, wurden hier noch viel mehr Haie gejagt, als es noch keinen Strom gab. Früher brauchte man nur die Leber vom Hai, und den ganzen Rest schmiss man wieder ins Meer. Aus der Leber wurde Tran gewonnen, und der Lebertran wurde nach Europa verschifft, wo man die Straßen der Städte beleuchtete. Diesen Gedanken fand ich verrückt. Ich meine, ein Grönlandhai, der hier oben im Norden in mehreren hundert Metern Tiefe lebt, in totaler Dunkelheit, dann aus dem Meer gezogen wird und Licht in die Straßen europäischer Großstädte bringt!
Ich wurde bald hungrig und verdrückte die ganze Tafel Schokolade. Weil ich so in Gedanken war, war ich etwas vom Kurs abgekommen und korrigierte ihn. Mit Großvater hatte ich manchmal die Schule geschwänzt, um aufs Meer zu fahren, ich war überzeugt, dass ich viel eher aufs Meer gehörte als ins Schulzimmer. Ich denke, Großvater glaubte das auch. Ich bin ein geborener Jäger wie er. Auch Soldaten sind in gewissem Sinne Jäger, wie mein amerikanischer Vater einer war. Und darum ist es völlig logisch, dass ich das Jagen im Blut hatte.
Als ich zehn Jahre alt war, feuerte ich zum ersten Mal in meinem Leben einem Hai eine ganze Ladung Schrot in
den Kopf. Großvater hatte mich zwar vor dem Rückschlag gewarnt, aber ich landete dann doch auf dem Hintern, aber der Hai war betäubt, und das war die Hauptsache. Früher fuhren wir manchmal mit drei Haien im Schlepptau zurück in den Hafen, da gab es ordentlich zu tun, und natürlich war immer ein gewisser Konkurrenzkampf zwischen uns Haifischfängern, und wer leer zurückkam, musste Bemerkungen über sich ergehen lassen. Aber Ingvar erwischte uns einmal ganz schön, als er sein Boot nur ganz langsam durchs Wasser pflügen ließ, so dass wir glaubten, er schleppe einen großartigen Fang in den Hafen. Und als wir alle ganz gespannt auf dem Pier auf ihn warteten, fragte er uns, warum wir denn so guckten, und da standen wir schön blöd da, und darum erzählte er noch lange von den Gesichtern, die wir angeblich gemacht hatten, vor allem »der da!«, und dabei pflegte er auf mich zu zeigen. »Der guckte so!« Und dann sperrte er Augen und Mund auf, bis ihm der Speichel aus dem Mund tropfte, obwohl ich gar nicht so behindert gucke, aber lustig war es trotzdem, und ich lachte meistens am lautesten.
Mit der Zeit verschoben wir die Leinen weiter nach draußen, und Ingvar, der einen ganzen Sommer lang kein einziges Tier gefangen hatte, gab auf und fand eine Anstellung bei Róbert McKenzie auf dem Trawler. Sæmundur, der sowieso schon alt war und keine Kinder hatte, hörte dann auch auf. Er sagte, die kümmerlichen Haifischfänge haben möglicherweise mit der Klimaerwärmung zu tun. Das Meer werde wärmer, das könne man messen, das sei einfach so, und das gefalle dem Grönlandhai überhaupt nicht. Darum müssten wir immer weiter raus in kühlere Gewässer, und er
wäre nicht überrascht, wenn auch ich bald keinen einzigen Hai mehr aus dem Meer ziehen würde. Aber daran wollte ich gar nicht denken, denn das war mein Beruf, etwas anderes zu machen, konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Petra schnitt zügig durchs glatte Wasser und machte kleine Wellen. Nun begann es richtig zu schneien, die Flocken fielen leise aufs Wasser und lösten sich da sofort auf, wurden selber Wasser und dadurch Teil des Meeres. Hier draußen ist die Natur so vollkommen wie sonst nirgendwo. Der Schneefall wurde ganz dicht, ich war plötzlich in einer völlig anderen Welt, denn alles um mich herum war in Bewegung, ich sah aber keine fünf Meter weit. Es gab nur noch mich und Petra. Ich stellte mir vor, dass die Schneeflocken Planeten waren und ich auf Petra mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall flog. Auf dem GPS
sah ich genau, wo ich mich befand, obwohl bald alles um mich herum genau gleich aussah. Weiß gibt es in ganz vielen Farben. Aber plötzlich nahm der Schneefall ab. Ich fuhr durch den letzten Schleier wie durch einen Vorhang, stand jäh auf der beleuchteten Bühne, aber ohne Publikum und ohne Lampenfieber. Die Welt war jetzt ganz still und ausgeschlafen, ausgeschneit, wie frisch erschaffen. Großvater hatte dieses Wetter geliebt. Ich konnte es ihm jeweils ansehen, auch wenn er es nicht zugab. Bei solchem Wetter sagte er dann meistens kein Wort, stopfte sich eine Pfeife und starrte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck aufs Wasser, obwohl er noch überhaupt nicht wusste, ob die Haie angebissen hatten oder nicht. Manchmal stellte er den Motor ab, wenn wir bei den Leinen waren, vor allem, wenn er eine Schnapsflasche dabeihatte, obwohl er manchmal Mühe hatte, den
Motor wieder anspringen zu lassen. Und dann, wenn der Motor tatsächlich nicht mehr anspringen wollte und nur Furzlaute von sich gab, lachte Großvater, so dass ich nie Angst auf dem Meer hatte, selbst als wir einmal stundenlang Richtung Nordpol abdrifteten und von Ingvar zurück in den Hafen geschleppt werden mussten. Großvater liebte diese Stille, und manchmal sagte er, es sei ihm unerklärlich, wie es die Leute in einer Stadt aushielten, wo es nie still war. Man könne nur dann sein Herz hören, wenn es so still sei wie hier draußen. Manchmal machte er ein Nickerchen, und dann schnarchte er so laut, dass es nicht mehr still war.
Wenn meine Petra sinken würde, würde ich einfach nur auf dem Wasser dümpeln, an Ort und Stelle warten, bis Rettung käme. Schließlich wusste ich, wie man ein Notsignal sendete. Es gab keinen Grund zur Sorge. Hier draußen war ich sowieso ganz alleine. Niemand konnte mich hören, niemand konnte mich beobachten. Aber einsam war ich nie, und Angst hatte ich auch keine. Meine Mutter war früher sehr dagegen, als ich anfing, alleine rauszufahren, nachdem Großvater zu schwach für Bootsfahrten geworden war. Aber Mütter haben immer Angst um ihre Söhne. Das ist normal. Und deshalb brauchte ich mich auch nicht darum zu kümmern. Auf dem Meer fühlte ich mich viel sicherer als bei einer Tanzveranstaltung oder in Maggas Auto. Hier musste ich mich nicht anstrengen, durfte sein, wer ich war und wie ich war. Und irgendwie war ich dadurch anders, als wenn ich bei einer Tanzveranstaltung oder in Maggas Auto war.
Nicht alle Menschen sind gerne alleine. Ingvar zum Beispiel war nie gerne alleine. Er nahm immer seinen Hund
mit aufs Meer, und als sein Hund gestorben war, nahm er die Katze mit, bis er wieder einen neuen Hund hatte, denn die Katze mochte das Meer eigentlich nicht, auch wenn sie die Möwen beobachten und anfauchen konnte. Wegen diesen Möwen war man nie richtig alleine hier draußen. Mit denen konnte man sich sogar unterhalten, auch wenn sie keine Antwort gaben und dich nur anguckten. Aber sie hörten einem doch manchmal zu, das sagte zumindest Großvater, der sich immer gerne mit den Möwen unterhielt, ja, eigentlich mit allen Tieren, die ihm begegneten; Möwen und Papageitaucher, Hunde und Katzen, Schafe und Pferde, sogar Hummeln, für die er immer aufmunternde Worte hatte.
Bald sah ich meine Boje, deren Standort ich auf meiner Seekarte mit den entsprechenden GPS
-Koordinaten vermerkt hatte. Ich bin noch nie weiter hinausgefahren als bis zu meiner Langleine. Wieso sollte ich auch? Ich bin ein Haifischfänger, kein Seefahrer. Und weiter draußen ist auch nur Wasser, das sieht man auf der Karte. Und das hatte ich so mit Mutter abgemacht. Das war unser Deal.
Ich ließ mein Boot bei der Boje zum Stillstand kommen, den Motor ließ ich aber im Leerlauf tuckern, damit mir nicht dasselbe passierte wie damals, als ich mit Großvater zum Nordpol abtrieb. Ich zog die Boje mit dem Gaff aus dem Wasser und legte das triefende Seil auf die Motorwinde, setzte diese in Gang und rollte es neben mir auf, damit es später keine Verwicklungen gab. Bis das eine Ende der Langleine endlich oben war, verging fast eine halbe Stunde. Vielleicht würde ich die Leine auf zweihundertfünfzig Meter Tiefe runterlassen müssen, wenn ich
hier keine Haie mehr fing. Die Heilbutt-Schleppnetze der Trawler gingen am tiefsten, und sie hatten am häufigsten Haifische im Beifang.
Endlich kam der erste Haken hoch, der Köder war noch genauso dran, wie ich ihn vor ein paar Tagen angesteckt hatte. Ich zog ihn vom Haken und schmiss ihn ins Meer. Die Möwen stürzten sich darauf, hackten ihre Schnäbel ins Fleisch, und vorbei war’s mit dem Frieden. Jetzt musste man sich auch nicht mehr mit ihnen unterhalten wollen, denn sie hatten nur noch Augen für meine marinierten Köder. Aber die Möwen störten mich nicht. Es war trotzdem stiller als in einer Stadt. Und ich konnte mein Herz hören. Es knurrte mich an. Und dann merkte ich, dass es mein Magen war, der mich da anknurrte, nicht mein Herz. Der nächste Haken kam hoch, der nächste Köder, wenn auch von den Fischen angeknabbert, und der nächste Haken, und der nächste, zehn Haken insgesamt, aber kein Haifisch. Es war nicht weiter schlimm. Geduld ist die wichtigste Tugend des Jägers. Ich nahm das nicht persönlich. Ich fuhr oft ohne Fang zurück in den Hafen, das war inzwischen ganz normal, und daran gewöhnte man sich. Letztes Jahr fing ich insgesamt fünf Haie. Und das war kein schlechtes Jahr. Ich hatte noch immer etwa fünfzehn Kilo vom letztjährigen Fang. Ich steckte fortlaufend neue Köderstücke an die Haken und ließ sie an der Leine in die Tiefe gleiten, sagte den Möwen auf Wiedersehen und tuckerte mit kommender Flut die eineinhalb Stunden zurück nach Raufarhöfn, und damit mir nicht langweilig wurde, sang ich, und zwar so laut, dass ich sogar den Motor übertönte. Das machte ich manchmal, selbst wenn ich keinen Hai im Schlepptau hatte.
Es hörte mich ja keiner. Es wusste niemand, dass ich singen konnte. Nicht einmal Nói wusste es, obwohl ich von ihm wusste, dass er elektronische Musik machte und auch dazu sang. Er hatte ein paar Lieder auf Youtube, aber nicht sehr viele Views. Damit es immer wieder neue Views gab, klickte ich seine Songs gelegentlich an.
Es fing nun wieder an zu schneien. Je näher ich dem Land kam, desto schlechter wurde die Sicht. Plötzlich war alles nur noch weiß um mich herum, die Flocken waren dick und schwer, und ich musste den Schnee von den Scheiben mit der Hand wegmachen, bis meine wollenen Handschuhe ganz klumpig waren, denn die Scheibenwischer funktionierten seit letztem Herbst nicht mehr. Fast hätte ich den Holm mit den Kormoranen übersehen, ich hatte wegen der Scheibenputzerei einfach nicht richtig aufgepasst. Ich musste den Kurs schleunigst korrigieren, und als ich schnittig in den Hafen einkam, war ich noch immer viel zu schnell unterwegs, weil ich irgendwie nicht ganz bei der Sache war, so dass ich schließlich um ein Haar den Pier rammte. Sæmundur, der am Hafen auf dem Gabelstapler saß, obwohl er sich doch denken konnte, dass ich viel zu früh wieder zurück war und demnach keinen Hai im Schlepptau hatte, sprang herunter, riss die Mütze vom Kopf und fuchtelte mit den Armen. Aber ich rammte den Pier nicht, stupste nur die Autoreifen am Rand, die den Aufprall abfingen. Wenn ich mich nicht festgehalten hätte, wäre ich aber hingefallen.
»Hey, hey, hey, nur langsam, junger Mann!«, rief Sæmundur und kam auf mich zugelaufen. Ich tat, als wäre nichts passiert, warf ihm die Leine zu, damit Sæmundur
meine Petra vertäuen konnte. Er grinste. Ich glaube, er vermisste die guten alten Zeiten, als hier unten am Hafen noch allerhand los war.
»Ich habe nichts gefangen«, sagte ich und reichte ihm den leeren Eimer.
»Nein?«, sagte Sæmundur, obwohl er natürlich wusste, dass ich nichts gefangen hatte. »Wenigstens hast du dich da draußen nicht verirrt«, sagte er. Auch hier habe es geschneit, aber der Schnee werde bestimmt nicht lange liegenbleiben, denn bald drehe der Wind auf Südost und bringe Regen mit sich, dann sei der Schnee im Nu wieder weg, und vielleicht finde man dann Róbert.
Ich bin vergesslich. Und das ist eine meiner Schwächen. Ich kann wichtige Sachen einfach so vergessen. Vor allem, wenn ich aufs Meer fahre. Als würde das Meer alle Erinnerungen schlucken, oder als würde sich das Gehirn wegen seiner Größe ausweiten, und die Erinnerungen sind dann tief drin verborgen wie eine Flaschenpost im Ozean. Darum erinnerte ich mich erst wieder im Hafen, dass nach Róbert gesucht wurde.
»Vielleicht kann man dann den Eisbären besser sehen, wenn der Schnee weg ist. Aus der Luft«, sagte ich.
»Du und deine Eisbären!« Sæmundur lachte. »Glaubst du noch immer, dass ihn ein Eisbär gefressen hat?«
»Nein!«, rief ich. »Ich habe dich nur auf den Arm genommen!«
Wir lachten, und Sæmundur schüttelte den Kopf. Dann schaute er gedankenverloren aufs Meer, fragte, was bloß aus Raufarhöfn geworden sei, doch ich wusste es nicht, aber ob er überhaupt eine Antwort von mir erwartete, wusste ich
auch nicht, darum packte ich meinen Kram zusammen und kletterte an Land.
»Wusstest du, dass Róbert seine Quote nach Dalvík verkaufen wollte?«, fragte Sæmundur und schaute mich an. »Als hätten die Dalvíkinger nicht schon reichlich Fangquoten gehamstert. Als genügte es nicht, dass wir hier alles verloren haben! Weißt du, wie es hier zugegangen ist? Ach Quatsch, dazu bist du viel zu jung. Damals hat es dich noch gar nicht gegeben. An manchen Tagen haben wir den Fisch vierundzwanzig Stunden am Tag gelandet, Haie waren nur Beifang. Guck mal, da drüben, gleich unterhalb der alten Schmelze, war ein Bootssteg, auf den wir so viel Salz für die Heringsfässer häuften, bis er zusammenkrachte und das ganze Salz ins Meer fiel. Zuerst fluchten wir, dann lachten wir, denn jetzt wussten wir endlich, warum das Meer so salzig ist! Und heute? Schau dich um! Du bist neben Siggi, Einar und Jú-Jú bald der letzte Mohikaner, der hier noch ein Boot hat und es auch benutzt.«
»Was ist ein Mohikaner?«, wollte ich von Sæmundur wissen.
»Das ist ein Indianer. Die Amerikaner haben sie alle umgebracht.«
»Es gibt aber noch immer Indianer.«
»Aber keine Mohikaner mehr. Und uns gibt es bald auch nicht mehr. Eine himmeltraurige Sache ist das. Und dann geben sie uns in Reykjavík einen Stempel als gefährdete Gemeinde, große Worte auf weißem Papier, aber nur weil du einen Patienten an eine Maschine anschließt, wird er längst nicht gesund. Er stirbt dann einfach nicht. Und dieser Schafsbock von McKenzie will auch noch die Quote
verramschen, damit er sein idiotisches Touristenprojekt vollenden kann. Hat er es denn noch nicht eingesehen? Wir sind ganz einfach zu weit weg! So ist das. Und auch wenn es ihm gelingt, mit diesem arktischen Steinhaufen ein paar Touristen anzulocken, so wäre er noch immer der Einzige, der davon profitiert. Arbeitsplätze für die Anwohner schafft er damit auch nicht, wenn nur Polen und Rumänen hier oben leben wollen.«
»Und Litauer«, sagte ich.
»Und Litauer«, knirschte Sæmundur. »Wenigstens jemandem gefällt es hier noch.«
Am Abend rief mich meine Mutter an.
»Kalli minn«,
sagte sie. »Erschrick nicht!« Weshalb ich natürlich erschrak. Mein erster Gedanke war: Großvater ist gestorben. Doch bevor ich meine Mutter fragen konnte, sagte sie mir, dass Birna, die Polizeikommissarin, ihr eben mitgeteilt habe, dass Magga erstickt sei, und zwar – ich dürfe mich aber wirklich nicht erschrecken – an einem Stück Gammelhai.
Meine Mutter sagte noch ein paar Sachen, aber ich hörte gar nicht mehr zu. Ich wusste nämlich nicht recht, was ich denken sollte oder wie ich mich zu fühlen hatte; eigentlich war es mir ziemlich gleichgültig, was mit Magga passiert war. Denn wenn jemand tot ist, ist es doch auch egal, wie derjenige gestorben ist, denn es gibt ihn dann ja nicht mehr. Ich war in erster Linie froh darüber, dass Großvater nicht gestorben war. Aber ich verstand schon, dass die Sache nun irgendwie mit mir zu tun hatte, da ich Magga den Gammelhai geschenkt hatte, sie ihn sich aber selber in den Mund
gestopft hatte, was nun wirklich nicht meine Schuld war, und das sagte ich auch meiner Mutter, und sie bestätigte das, doch ich hörte, dass sie den Tränen nahe war, was ich völlig übertrieben fand. Frauen sind immer so übertrieben! Und darum hatte ich nun wirklich keine Lust mehr, die Sache noch länger zu besprechen, sagte schließlich »Bless« und beendete den Anruf. Und kaum war meine Mutter weg, kam ich ins Grübeln, denn so was könnte ja eigentlich auch mir passieren, ich meine, an einem Stück Gammelhai zu ersticken. Und meistens war ich ganz alleine zu Hause, niemand würde mir helfen können, und ich würde einfach so ersticken wie Magga, völlig lautlos, denn wenn einem etwas im Hals stecken bleibt, kann man es auch niemandem sagen. Erst würde es still werden, und dann dunkel. Aber wer würde mich denn finden?
Plötzlich wusste ich, was ich tun würde, wenn ein Stück Gammelhai in meiner Luftröhre steckte. Ich würde Nói auf Messenger anrufen! Und der würde mit ein paar Mausklicks Hilfe organisieren. Er könnte sich wahrscheinlich in die Küstenwache hacken und den Hubschrauber persönlich aufbieten. Und darum klickte ich Nói auf Messenger an. Er war natürlich in ein Multiplayer-Spiel verwickelt, aber er unterhielt sich trotzdem mit mir, und es gelang ihm tatsächlich, mich zu beruhigen, denn er fand die ganze Sache mit Magga sogar lustig, und er erinnerte mich daran, dass ich ihm einmal gesagt habe, ich würde Magga überhaupt nicht mögen, und darum könne ich nur froh sein, dass sie gestorben sei.
»Win-win«, sagte er, und das verstand ich nun überhaupt nicht, aber Nói heiterte mich trotzdem auf. Er sagte,
ich habe den perfekten Mord begangen. Ein Mord, der so perfekt sei, dass selbst der Mörder nicht wisse, dass er der Mörder sei.
Nói konnte manchmal ganz schön heftig sein. Aber vielleicht war er so, weil er wegen seiner Krankheit den ganzen Tag in seinem Zimmer hocken musste, nicht nach draußen gehen konnte, keine richtige Arbeit hatte und darum nur seine Eltern zu Gesicht bekam.
Ich erzählte ihm dann, wie ich mir ausgemalt hatte, selber an einem Bissen Gammelhai zu ersticken, was ja möglich sein könnte, und Nói strickte den Gedanken weiter, meinte, es müsse ja nicht unbedingt Gammelhai sein, es könnte auch ein Stück Pizza sein. »Oder Popcorn«, ergänzte ich, aber Nói sagte, dass man an Popcorn nicht ersticken könne, das sei wissenschaftlich ganz unmöglich. Aber er fand meine Idee, ihn anzurufen, gut, er würde dann Hilfe anfordern. Er fand tatsächlich einen internen Internetlink der Küstenwache, wo er genau sehen konnte, wo sich der Hubschrauber gerade befand, und er guckte auch gleich, denn es interessierte ihn einfach: Der Hubschrauber war nördlich von Grímsey, also etwa dreißig Minuten von Raufarhöfn entfernt – er würde zu spät kommen. Ich wäre längst mausetot. Das sah auch Nói ein, weshalb er ein wenig googelte und mir dann ein paar Tipps gab, wie ich so was überleben konnte. Sich auf eine Stuhllehne fallen lassen, sagte er. Oder auf allen Vieren auf dem Boden kauern und sich auf den Bauch plumpsen lassen, Arme nach vorne gestreckt. Er war aber nicht ganz zufrieden mit dem Suchresultat, darum scrollte er weiter.
»Nach draußen laufen, einfach dahin, wo Leute sind«,
sagte er schließlich. »Dich auf keinen Fall in einen Raum zurückziehen, wo dich niemand bemerkt.« Das wäre ja auch sinnvoll, sagte er, wunderte sich aber, dass offenbar viele Leute, die plötzlich nicht mehr atmen können, sich beschämt in einem WC
einschließen, wo sie dann ganz alleine sterben. »Jeder stirbt einsam«, schloss er daraus, und er hatte recht, wie man in den letzten Tagen hatte sehen können. Magga starb ganz einsam in ihrer Küche, und Róbert hatte man noch nicht einmal gefunden. Ihre Einsamkeit war fast ansteckend.
»Bitch, motherfucker!«, brüllte Nói plötzlich und bearbeitete seinen Controller. »Ich kill dich, du asshole!« Aber sein Wutausbruch nützte nichts. Er war in seinem Multiplayer-Spiel abgeknallt worden, hinterrücks, da konnte er jetzt nichts mehr machen, und darum verwarf er nur die Hände, sagte noch »see you later, dude!«, und brach das Messenger-Gespräch ab.
So was kam manchmal vor. Jetzt musste man Nói auch gar nicht weiter belästigen wollen. Jetzt brauchte er einfach seine Ruhe. Und die gönnte ich ihm, denn ich war sein bester Freund.