13
Fass
Der nächste Tag war völlig verrückt, und ich überlebte ihn wahrscheinlich nur, weil der davor so ruhig und ereignislos verlaufen war und ich mich gut erholt hatte, denn auf dem Meer kann man den Kopf ausleeren. Die Ereignisse überstürzten sich, und das war man hier in Raufarhöfn wirklich nicht gewohnt. Der Tag war so verrückt, dass er sogar zu einer eiligst einberufenen Dorfversammlung führte.
Ein lauer Südostwind machte dem Schnee zu schaffen, wahrscheinlich hatte es in der Nacht geregnet, rings um Raufarhöfn war alles braun und nass, nur wenige Schneeflächen hielten sich hartnäckig. »Typisch Islandwinter«, hatte meine Mutter früher erklärt. »Am Tag schneit’s, und in der Nacht regnet’s. Völlig geisteskrank.«
Jetzt, wo der Schnee weg war, suchte die Rettungswache noch einmal nach Róbert. Man setzte Drohnen und auch Hunde ein, die kreuz und quer die Gegend um den Arctic Henge und das Dorf abschnupperten, wo Róberts Geruch sowieso überall war, aber man fand nichts außer seiner getönten Multifunktionalbrille, gar nicht weit weg von der Blutlache, und eine Socke. Es war nicht viel, und es war nicht Róbert, aber es waren Hinweise darauf, dass Róbert wahrscheinlich nicht mehr lebte.
Wie Magga ja auch. Tot. An diesen Umstand musste ich mich erst noch gewöhnen, denn jetzt konnte mich Magga nicht mehr nach Húsavík fahren, weil sie an einem Stück Gammelhai erstickt war, das ich ihr gegeben hatte. Ich hatte plötzlich Angst, dass ich Großvaters Sterben verpassen würde. Ich wollte bei ihm sein, wenn er starb, an seiner Seite. Unbedingt.
So fing der Tag also an, und ich hatte gleich ein ungutes Gefühl. Ich dachte viel über Magga nach, und obwohl ich sie nicht auf dem Küchenboden hatte liegen sehen, so hatte ich doch ein ganz deutliches Bild vor meinen Augen.
Von meinem Zimmerfenster aus sah ich, dass Autos vor Maggas Haus standen. Angehörige wahrscheinlich. Gegen zehn Uhr gab es einen Aufruhr unten am Hafen, denn der Hubschrauber der Küstenwache flatterte neben dem Holm nur wenige Meter über dem Wasser. Das sah ich vom Stubenfenster aus. Die Kormorane hatten sich verabschiedet. Ein Mann wurde wie eine Spinne am Faden an einem Seil nach unten gelassen, Siggis Boot nur ein paar Meter davon entfernt. Ich zog mich an, volle Ausrüstung, Cowboyhut, Sherif‌fstern, Mauser und alles, und eilte hinunter an den Hafen.
»Eine Seemine«, vermutete Sigfús, der sich auf seine Skistöcke abstützte und viel über den Zweiten Weltkrieg wusste. Einige Leute hatten sich unten am Hafen versammelt. Óttar war da, Hafenmeister Sæmundur sowieso, der Automechaniker Steinarr, meine Nachbarin Elínborg und ein gutes Dutzend weitere Leute, auch einige von der Rettungswache. Kinder waren keine da, die waren wohl in der Schule, guckten aber bestimmt vom Schulzimmerfenster aus zu. Man grüßte sich, man unterhielt sich, und man gab Sigfús recht. Eine Seemine konnte nicht ausgeschlossen werden. Deshalb der Hubschrauber. Sæmundur hatte einen Feldstecher dabei, den er schließlich weiterreichte. Ich besaß auch einen Feldstecher. Er war in meinem Kutter, also ging ich ihn schnell holen, guckte hindurch und war plötzlich ganz in der Nähe des Hubschraubers. Den Leuten berichtete ich, was ich sah. Óttar fragte mich, ob er den Feldstecher mal ausleihen dürfe, doch ich ignorierte ihn, denn ich musste doch den Leuten sagen, was ich sah. Zudem glaubte ich nicht, dass der Dampf‌topf wusste, wie man den Feldstecher handhabte. Schließlich war er früher auf dem Schiff nur Koch gewesen. Steinarr fand es lustig, dass ich meinen Feldstecher nicht hergeben wollte, und informierte Óttar, dass ich eben der Feldstecher-Experte sei, was ja auch irgendwie stimmte.
Der Mann am Seil machte eine ganze Weile nichts, baumelte nur knapp über dem Wasser, Siggi wahrte mit seinem Kutter einen Sicherheitsabstand, trieb nur an der Stelle. Er hielt sich den Arm schützend vors Gesicht, denn der Hubschrauber stäubte das Wasser ganz schön auf. Siggi hatte also irgendetwas mit der ganzen Sache zu tun, und Sæmundur konnte bestätigen, dass Siggi vom Lumpfischfang zurückgekehrt sei und etwas im Wasser gefunden habe, auch eine ganze Weile an der Stelle verharrt habe. Zuerst habe er geglaubt, Siggi habe einen Motorschaden, aber das war nicht der Fall gewesen, denn Siggi habe ihm über Funk mitgeteilt, dass er einen schwarzen Behälter im Wasser bemerkt habe, worauf er ihm geraten habe, dem Behälter bloß nicht zu nahe zu kommen, denn es könnte sich um eine Seemine handeln. Sigfús nickte heftig, machte ein paar ganz kleine Schritte, klickte mit den Skistöcken auf dem Asphalt und befand, Sæmundur habe richtig reagiert.
Aber nicht alle waren einverstanden. Elínborg zweifelte an der Vermutung, denn man erkenne eine Seemine, wenn man eine sehe, wie sie sagte, worauf sie gefragt wurde, ob sie denn schon einmal eine Seemine im Wasser habe schwimmen sehen, was sie beleidigt verneinte, und darum bestand die Möglichkeit einer Seemine weiterhin.
»Recht wahrscheinlich eine Seemine«, wiederholte Sigfús nun schon zum zehnten Mal, hob sogar einen seiner Skistöcke und zeigte damit aufs Meer. Und dann erinnerte er uns daran, dass vor ein paar Jahren in der Hólsvík, also da, wo Róbert seinen Golfplatz hatte, eine Seemine aus dem Zweiten Weltkrieg angespült worden war.
»Zweihundertfünfundzwanzig Kilo TNT in einem rundlichen Behälter. Mit Noppen.« Sigfús zeichnete mit dem Skistock die Größe der Mine in die Luft. Magnús’ Schwägerin Ragna habe die Bombe auf einem Spaziergang entdeckt, erzählte er uns weiter, obwohl wir alle die Geschichte gut kannten, es hatte dann ja auch in der Zeitung gestanden. Die Mine sei wohl ein Überbleibsel der Briten, die während des Krieges im Nordosten Islands einen Teppich aus Seeminen gelegt hätten, der ihnen dann selber zum Verhängnis geworden war. »Ein englisch-amerikanischer Kriegsschiff-Konvoi war da Richtung Westen unterwegs«, erzählte Sigfús, und alle hörten zu, denn die Geschichte war wirklich gut. Ich kannte sie auch schon. »Neunzehn Schiffe, bei schlechtem Wetter, schlechter Sicht, Nebelregen und steifem Nordostwind.« Wir scharten uns ganz dicht um Sigfús, denn der Hubschrauber machte einen Höllenlärm. »Ein Missverständnis, eine falsche Position, ein Eisberg, der für eine Landspitze gehalten wurde, und Bumm! Es regnete Metall, Feuer und Wasser. Das erste Schiff wurde fast entzweigerissen, legte sich auf die Seite, von brennendem Öl umgeben, sank aber schnell, und mit ihm die halbe Besatzung. Bumm! Eine zweite Explosion. Ein zweites Kriegsschiff drohte zu sinken, die Besatzung rettete sich auf ein Rettungsboot, und Bumm! Feuer und Rauch und Nebel, vorne und hinten und zu allen Seiten.«
»Selber schuld«, sagte Elínborg.
»Tja, so ist Krieg nun mal«, erklärte Sigfús und ereiferte sich: »Der Konvoi wusste nichts von den Seeminen, glaubte, von deutschen U-Booten angegriffen zu werden, man schoss also mit schwerem Geschütz auf Schatten im Nebel, streute Wasserbomben, Wassersäulen schnellten in die Höhe, Blitze im Nebel, brennendes Wasser. Wenn eine Seemine explodiert, explodieren durch den Druck weitere Seeminen in der Nähe.«
»Kettenreaktion«, sagte einer von der Rettungswache. »Wie Dominosteine.«
»Wie viele sind da eigentlich ums Leben gekommen?«, fragte ein anderer, der nicht von hier war.
»Viele«, sagte Sigfús dunkel.
»Wenigstens hatten die Haie etwas zu futtern!«, sagte Elínborg, worauf einige die Köpfe schüttelten und sich von ihr abwandten. »Was denn!«, sagte sie. »Stimmt doch, nicht wahr, Kalmann?«
Ich musste lachen, denn es stimmte. Haie fraßen so ziemlich alles.
Aber es war dann doch keine Seemine bei uns in der Bucht, denn der Mann am Seil wurde hochgezogen, und Siggi fischte den schwarzen Behälter mit großer Mühe aus dem Meer und tuckerte sodann in den Hafen. Der Hubschrauber machte sich davon, verschwand bald am Horizont, und darum wurde es wieder ruhiger in Raufarhöfn. Ich musste an Nói denken, der mir wahrscheinlich genau hätte sagen können, wohin der Hubschrauber flog.
Wir warteten ungeduldig, bis Siggi endlich im Hafen eingetroffen war. Sæmundur holte einen Krug Kaffee und frittierte Kleinur, und darum war die Stimmung recht gut. Ein paar weitere Leute kamen, der Dichter Bragi zum Beispiel.
»Genossen!«, sagte er zur Begrüßung.
»Achtung, jetzt wird’s gleich poetisch!«, warnte Steinarr, aber Bragi sagte nichts.
Auch Nadja und ihr Freund Darius tauchten am Hafen auf, aber sie blieben etwas abseits stehen, als gehörten sie nicht dazu. Nadja bemerkte mich und winkte mich herüber, aber weil ich stehen blieb, kam sie schließlich zu mir und bat, meinen Feldstecher ausleihen zu dürfen. Ich zeigte ihr, wie man ihn den Augen anpasste und das Bild scharf machte. Leider blieb sie dann nicht bei mir stehen, sondern ging mit meinem Feldstecher zurück zu ihrem Freund, der ihn dann auch benutzte, obwohl er dazu überhaupt keine Erlaubnis von mir bekommen hatte. Er guckte eine ganze Weile und besprach sich dabei mit Nadja, aber ich konnte weder hören, was sie sagten, noch hätte ich es verstanden. Schließlich kam Nadja wieder zu mir rüber, wahrscheinlich um mir den Feldstecher zurückzugeben. Sie lächelte mich schon von weitem an, und Óttar sagte, meine Herzallerliebste komme, worauf ich rot wurde, was mich ziemlich ärgerte.
»Kalli, du bist ja ganz rot im Gesicht!«, sagte er neckisch. Wieso hatte er es auf mich abgesehen? Normalerweise war er immer ganz nett mit mir, vor allem dann, wenn ich im Hotel zu Abend aß. »Geht’s dir nicht gut?«
»Lass ihn in Frieden«, sagte Bragi, der plötzlich neben mir stand.
Fast wünschte ich mir, dass Nadja nicht zu mir gekommen wäre, weil ich mich jetzt so schämte, denn alle schauten mich grinsend an, aber wegschicken wollte ich sie auch nicht, schließlich hielt sie meinen Feldstecher in ihren Händen, die immer ganz gepflegt waren trotz der vielen Arbeit im Hotel. Fast hätte ich mir gewünscht, ihn ihr nicht ausgeliehen zu haben. Frauen können einem richtige Probleme machen!
Die Leute um mich herum lauschten amüsiert.
»Danke, Kalmann«, sagte Nadja und überreichte mir den Feldstecher. »Ich muss gehen. Viel zu tun in Hotel. So viel!« Sie schaute mich entschuldigend an, als wäre sie gerne noch eine Weile bei mir stehen geblieben, um sich mit mir zu unterhalten, was mich irgendwie stolz machte. Jetzt war Óttar bestimmt eifersüchtig, doch ich vermutete, dass Nadjas Freund Darius noch eifersüchtiger wurde, und tatsächlich rief er nun Nadjas Namen, weshalb ich ihm einen Blick zuwarf, doch er hatte sich schon umgedreht und machte sich Richtung Hotel davon.
»Aber willst du denn nicht wissen, was im Behälter ist?«, fragte ich Nadja.
Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nahe, ihre Lippen berührten schließlich fast mein linkes Ohr.
»Du musst mir erzählen, was drin ist«, flüsterte sie, so, dass es niemand sonst hören konnte. Ich nickte ihr verschwörerisch zu. »Versprochen?« Sie lächelte mich noch einmal an, traurig irgendwie, wie man jemanden anschaut, den man nie wiedersehen wird, weshalb ich nicht wusste, was ich jetzt sagen sollte. Ich starrte sie wohl nur ziemlich bescheuert an. Dann drehte sie sich um und lief ihrem Freund hinterher, der schon einen ganzen Steinwurf von uns entfernt war und nicht einmal auf seine Freundin wartete.
Wenn Nadja meine Freundin gewesen wäre, hätte ich immer auf sie gewartet. Selbst bei Sturm und Regen oder wenn ich hungrig gewesen wäre. Denn das würde sich dann lohnen. Ich schaute ihr nach, bis sie im Hotel verschwunden war. Vielleicht hatte ich trotz allem Chancen bei ihr. Ich war ganz aufgeregt, und damit Óttar keine weiteren Bemerkungen machen konnte, drehte ich ihm den Rücken zu. Ich freute mich, dass ich Nadja wiedertreffen würde, sogar einen richtigen Grund hatte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was sich in dem mysteriösen Behälter befand. Aber ich malte mir schon jetzt aus, wie das Gespräch verlaufen würde: Ich würde zu ihr ins Hotel gehen, und sie würde irgendetwas arbeiten und mir vorschlagen, ihr nach draußen zu folgen, denn sie wollte eine rauchen, und ich würde ihr folgen, und sie würde sich draußen eine Zigarette anzünden, und ich würde sagen: »Du wirst nicht glauben, was in dem Behälter ist!«, und ich würde einen Moment abwarten, und Nadja würde sagen, »Was denn? Sag schon!« – »Nichts!«, würde ich sagen, weil ich zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht wusste, was sich in dem Behälter befand, und überhaupt wäre es sehr lustig gewesen, wenn wirklich nichts in dem Behälter gewesen wäre und man den Hubschrauber unnötigerweise nach Raufarhöfn bestellt hätte und die ganzen Leute unten am Hafen vergebens auf ein Großereignis gewartet hätten. Nadja würde lachen und Rauch in den Himmel blasen und auch mir eine Zigarette anbieten, und ich würde meinen Cowboyhut etwas in den Nacken schieben und mit ihr eine rauchen, und unsere freien Hände würden sich zufälligerweise berühren, aber sie würde die Hand nicht wegziehen, sondern mit ihrem kleinen Finger meinen kleinen Finger ganz sanft festhalten, und dann würden sich alle unsere Finger gegenseitig berühren, sich so verstricken, und Nadja würde mich angucken, mit so Augen, und ich würde mich zu ihr beugen, und wir würden uns küssen, und sie würde ihre Hand in meine Hose stecken und »wow« sagen, und ich wäre etwas verlegen, aber sie würde mich auf‌fordern: »Du darfst mich ruhig anfassen«, und ich würde ihre Brüste berühren, und –
»Kalmann!«
Fast ließ ich meinen Feldstecher fallen. Schafbauer Magnús Magnússon schaute mich komisch an. Er musste wohl eben erst zu uns gestoßen sein, denn vorher war er noch nicht da gewesen. Er war eigentlich nicht zu übersehen, er war groß und massig und trug immer denselben gestrickten Pullover. Magnús fragte mich, ob ich Köderfleisch brauche, denn er habe einen alten Gaul, den er abtun müsse. Aber ich brauchte kein Köderfleisch, hatte momentan genug, fing sowieso nichts, und darum schüttelte ich den Kopf, und weil es noch ein paar Minuten dauerte, bis Siggi mit seinem Kutter endlich eintraf, versuchten wir uns zu unterhalten, aber es klappte irgendwie nicht, weil ich noch ganz heiß war und in Gedanken schon auf dem Weg zu Nadja, weshalb wir schließlich nur schweigend nebeneinander standen und Siggi zuschauten, wie er langsam in den Hafen tuckerte.
Das halbe Dorf wartete nun wie ein Empfangskomitee auf dem Pier und blickte ins offene Boot. Siggi hatte wieder zwei ganze Schüttgutcontainer voll Lumpfische gefangen, und dafür wurde er auch gelobt, aber wirklich interessant war das schwarze Fass, das da auf den Planken stand. Steinarr sagte ganz enttäuscht, das sei aber keine Seemine, worauf alle lachten, aber Sigfús warf ein, dass man nie sicher sein könne, wir sollten trotzdem vorsichtig sein, denn wenn Sprengstoff im Fass sei, flöge plötzlich halb Raufarhöfn in die Luft, und auch das fanden die Leute lustig, ich fand das sogar so lustig, dass ich fast ins Wasser fiel, doch Schafbauer Magnús Magnússon bekam mich gerade noch am Ärmel zu fassen und sagte: »Aufgepasst, Junge!« Er roch nach Schaf. Die meisten Leute hatten mein Missgeschick nicht bemerkt, denn die Aufmerksamkeit galt nur dem Fass. Sæmundur scherzte, dass es ein Glück für Island wäre, wenn halb Raufarhöfn in die Luft flöge. Die Latteschlürfer in Reykjavík wären bestimmt erleichtert! Und auch das fanden die Leute lustig, selbst Bragi lächelte, aber es wurde nicht mehr ganz so laut gelacht, denn nun galt es, das leicht verbeulte Fass zu inspizieren. Aber erst wurde es auf den Pier gehievt, dann wurde darüber diskutiert, ob man es öffnen oder damit warten solle, bis die Polizei eintreffe, Birna sei nämlich schon informiert worden und aus Kópasker unterwegs. Ein paar weitere Leute von der Rettungswache, die die Sucherei nach Róbert offenbar aufgegeben hatten, gesellten sich zu uns. Ich kannte ihre Gesichter, aber nicht ihre Namen. Einer sagte, wir müssten davon ausgehen, Róbert in dem Fass vorzufinden, aber nicht unbedingt an einem Stück, und die Reaktionen waren eine Mischung aus Entsetzen und Gelächter, was ganz komisch war, doch nun war die Stimmung eine völlig andere, sie war bedrückt, und plötzlich war man gar nicht mehr so erpicht darauf, das Fass zu öffnen. Birna treffe bestimmt jeden Moment ein, versicherte Sæmundur, aber Siggi brummte ungeduldig, verkündete, dass er das Fass jetzt einfach öffnen werde, schließlich habe er es gefunden, und was man aus dem Meer fische, gehöre einem, und überhaupt, das sei das Gesetz, und wenn die Sache mit Róbert nicht passiert wäre, würde man nicht so ein Drama veranstalten, dann würde es keinen Schwanz interessieren, was im Fass zu finden sei, immerhin treibe alles Mögliche da draußen rum, und er bereue es jetzt auch, das Fass nicht schon auf dem Boot aufgemacht zu haben, denn wenn er gewusst hätte, dass die Bewohner von Raufarhöfn ein Haufen Dramaqueens seien, die wegen Treibgut gleich die Polizei verständigten, hätte er gar nicht erst davon erzählt! Und er habe sowieso keine Zeit, schließlich habe er zwei ganze Schüttgutcontainer voll Lumpfische gefangen, und das gäbe zu tun.
Niemand erhob Einspruch. Er erhielt sogar Zustimmung, und man fand es nur logisch, dass der Finder seinen Fund selber inspizierte, also machte sich Siggi daran, den Verschluss des Fasses zu lockern, was ganz einfach war, denn das Fass schien gar nicht so lange im Meer verbracht zu haben, war fast wie neu, nur leicht verbeult eben.
Niemand sagte ein Wort. Drei Dutzend Leute und kein Pieps. Das muss man einmal gehört haben! Fast musste ich laut lachen, so aufgeregt war ich. Ich trat ganz nah ans Fass heran, musste dazu auch ein paar Leute wegschieben, denn so eine seltene Überraschung wollte ich mir nicht entgehen lassen. Es passierte ja sonst nicht viel in Raufarhöfn! Siggi nahm den Deckel ab, legte ihn sachte zu Boden und schaute dann ins Fass hinein. Ich sah durchsichtiges Plastik, und etwas war in das Plastik eingewickelt, das seltsam roch. Und jetzt gaben die Leute komische Laute von sich, einige machten ein paar Schritte rückwärts, andere vorwärts, es kam Bewegung in die Versammlung. Ich wurde sogar ein wenig herumgeschubst. Siggi zückte ein Fischermesser und schnitt das Plastik kurzerhand auf. Meine erste Vermutung war: Brokkoli. Gemüse für Yrsas Laden. Aber meine Vermutung war falsch, denn Bragi, der offenbar so etwas schon einmal gesehen hatte, stellte fest:
»Marihuana! Sweet Mary Jane! Ein ganzes Fass voll!«
»Ich habe mit dem Dreck nichts zu tun!«, rief Siggi, verwarf die Hände, kletterte zurück auf seinen Kutter und machte Arbeiten, die er sowieso machen musste. Aber der Trubel auf dem Pier ging nun so richtig los, alle redeten kreuz und quer, alle drängten sich um das Fass, aber Sæmundur schloss den Deckel wieder und sagte:
»Jetzt macht mal Platz!«
Einer von der Rettungswache schlug vor, dass man vielleicht ein Foto machen solle, damit die Polizei wusste, dass man nichts angefasst oder entwendet habe, den Ist-Zustand dokumentieren, und darum nahm Sæmundur den Deckel wieder ab, und einige zückten ihre Mobiltelefone und machten eifrig Fotos, teilten sie auch gleich mit ihren Freunden auf dem Internet. Und darum waren viele in Island über diesen Fund informiert, bevor Birna in Raufarhöfn eingetroffen war.
Sæmundur machte den Deckel wieder zu und sagte, dass keiner das Fass anfassen solle, denn sonst würde die Polizei alle möglichen Fingerabdrücke finden, und Óttar sagte, dass Siggis Fingerabdrücke auf dem ganzen Fass verteilt waren, worauf Siggi von seinem Kutter zu uns auf den Pier hochrief, dass er das Fass nur zufälligerweise gefunden habe, Sæmundur könne das bestätigen, schließlich habe er ihn sofort verständigt, und überhaupt habe es wie eine Seemine ausgesehen, weil es verkehrt herum im Wasser getrieben sei. Aber jemand sagte, Siggi solle sich nicht aufregen, ihm gehörten jetzt fünfzig Kilogramm Marihuana, er solle sich einfach einen Joint drehen und relaxen! Und damit war die Stimmung wieder gut hier am Hafen, es wurde gelacht, und Späße wurden gemacht, der Schrecken war plötzlich verflogen. Vielleicht war man einfach froh darüber, Róbert nicht zerstückelt im Fass vorgefunden zu haben. Aber die Schätzung, dass fünfzig Kilogramm Marihuana im Fass seien, wurde sogleich angezweifelt, denn es sei ein Sechzig-Liter-Fass, wie Óttar wusste. Auch Sæmundur sagte, dass das Fass keine vierzig Kilo schwer sein könne, schließlich hätten sie das Fass zu zweit auf den Pier hochhieven können. Also fassten Sæmundur und Óttar an und stellten das Fass auf die Waage vor Sæmundurs Container, wo normalerweise der Fischfang gewogen und registriert wurde. Sie ignorierten irgendwie, dass sie das Fass eigentlich nicht hätten anfassen sollen, wegen der Fingerabdrücke. Aber ich hielt mich da raus und guckte einfach zu, denn ich wollte mich wirklich nicht ein drittes Mal verdächtig machen.
Wie sich herausstellte, war das Bruttogewicht vierunddreißig Kilo, was die Leute veranlasste, das Gewicht des Fasses zu schätzen, bis Siggi die Leute daran erinnerte, dass das Taragewicht in den Fassboden gestanzt war, aber Sæmundur ging jetzt dazwischen und sagte, wir sollten das verdammte Fass endlich in Ruhe lassen, und mehr hörte ich nicht, denn ich hatte so ein Fass schon einmal gesehen, und zwar ganz genau so ein Fass, aber ich wusste überhaupt nicht mehr, wo. Dann fiel mir ein, dass ich Nadja mitzuteilen hatte, was sich in dem Fass befand, und darum ließ ich die Hälfte der Bewohner von Raufarhöfn zurück und eilte rüber zum Hotel, hatte schon ein Kribbeln im Bauch. Es war die Vorfreude. Nadja würde große Augen machen. Ich beeilte mich, und Bragi rief mir noch hinterher: »Wohin denn so eilig, junger Mann?« Aber ich hatte keine Zeit für Erklärungen. Ich musste mein Versprechen halten. Aber damit war der verrückte Tag noch längst nicht zu Ende.