14
Arctica
Ich betrat das Hotel beim Haupteingang. Das Gebäude stammte noch aus den Zeiten des Heringsbooms, und als der Hering weg war, beschloss man, aus dem Gebäude, das bisher Arbeiter beherbergt hatte, ein Hotel für Touristen zu machen. An den Wänden hingen viele Schwarzweißfotografien aus den Zeiten des Heringsbooms. Da waren all die Schiffe zu sehen, die dichtgedrängt im Hafen lagen, Seite an Seite, so dass man über die ganze Bucht hätte spazieren können, ohne nasse Füße zu bekommen. Auch das Hotelgebäude war im Hintergrund einiger Bilder zu erkennen. In der Hotellobby standen noch so ein paar alte Holzfässer, in denen der gesalzene Hering in alle Welt verschifft worden war. Am Tresen der Rezeption war ein Fischernetz gespannt, worin sich Seesterne verfangen hatten. Da und dort waren Bojen zur Dekoration angebracht, und in einige waren sogar Glühbirnen hineingeschraubt, so dass sie leuchteten.
In der Lobby war niemand. Im Restaurant war auch niemand. Keine einzige Menschenseele. Ich blickte durch ein Fenster zum Hafen hinunter. Da standen die Leute noch immer um das mysteriöse Fass herum und unterhielten sich, lachten und schüttelten die Köpfe. Man hatte den Kaffeekrug und die leeren Plastikbecher darauf abgestellt, als wäre es ein Stehtischchen.
»Nadja!«, rief ich, aber niemand gab Antwort. Vielleicht war sie in der Küche, also ging ich in die Küche; Óttar war ja noch immer unten am Hafen. Auch die Küche war menschenleer. Ich ging die Treppe hinunter in den Keller zum Wäscheraum. Ich kannte mich im Hotel recht gut aus, eigentlich wie in den meisten Häusern in Raufarhöfn. So viele sind es ja nicht. Die Türen stehen hier immer offen. Niemand schließt ab, bis auf die alten Fabrikhallen, wo die Kinder von rostigen Treppen stürzen können. Auch die Autos sind nie abgeschlossen. In einigen stecken sogar die Zündschlüssel.
Unten im Keller war niemand. Als ich die Treppe hochkam, vernahm ich das Wummern des Küstenwache-Hubschraubers, das ich inzwischen gut kannte. War er schon wieder zurückgekehrt? Im Hotelrestaurant guckte ich aus dem Fenster und sah, dass unten am Hafen gerade ein Polizeiauto vorfuhr. Birna war also wieder im Dorf und konnte sich nun um das Drogenfass kümmern. Ich war froh, dass sie wieder da war. Ich nahm die Treppe zu den Zimmern. Bestimmt war Nadja mit Putzen beschäftigt.
»Nadja!«, rief ich. Der Lärm war nun ziemlich laut. Der Hubschrauber landete wohl direkt vor dem Hotel. Das ganze Haus begann zu zittern.
»Nadja!« Ich brüllte.
Eine Tür ging auf, und ein Kopf erschien im Korridor, dunkles Haar, schlankes Gesicht, fragender Blick. Ich kannte die Visage. Sie gehörte dem Touristen, der in Húsavík an meinem Tisch gesessen hatte! Ob er mich erkannte, wusste ich hingegen nicht. Schließlich hatte ich jetzt meinen Cowboyhut auf, und auf dem Korridor war es recht dunkel.
»What is happening?«, fragte er, aber ich hatte Wichtigeres zu tun, als ihn über die Lage in Raufarhöfn zu informieren.
»Hast du Nadja gesehen?«
»What?«
»Nadja. Beautiful woman. Wo?« Der Mann war schwer von Begriff. Also versuchte ich es noch mal. Diesmal lauter. »Nadja. Lady! Where, where, where!« Ich vermutete, dass er mich jetzt endlich erkannte, denn er schaute mich irgendwie völlig ungläubig an.
Die Fenster zitterten. Der junge Mann machte seinen Mund wieder zu, drehte sich um und verschwand im Zimmer. Ich hörte, wie er sich mit einer Frau unterhielt. Ich warf einen Blick ins Zimmer, um sicherzugehen, dass sich Nadja nicht bei ihm befand. Sie war aber nicht im Zimmer, nur die Freundin, die ich auch schon in Húsavík gesehen hatte, aber diesmal war sie nur leicht bekleidet, steckte in ihren Outdoor-Hosen und einem roten BH . Sie hatte recht kleine Brüste, etwa wie Äpfel. Ihr Haar war lockig und fiel ihr fast bis auf die Brüste. Ihr Freund hatte sich einen Pullover übergezogen und schob mich zurück auf den Korridor, zog die Tür vor meiner Nase zu, so dass ich seine Freundin nicht mehr sehen konnte.
»What the fuck is going on?«, fragte er, diesmal ziemlich unfreundlich.
Touristen können einem schon auf den Geist gehen. Aber vielleicht konnte er mir bei der Suche behilf‌lich sein.
»Komm mit!«, sagte ich darum und gab ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass er mir folgen sollte. Er folgte mir tatsächlich. Wir gingen die Treppe runter, der junge Tourist schräg hinter mir.
»Halloooooooo!«, brüllte ich, so laut ich konnte. Der Lärm des Hubschraubers war ohrenbetäubend. Das Haus hob fast ab. Nadja war nun vielleicht in der Lobby, weil sie den Hubschrauberlärm auch bemerkt haben musste, also bedeutete ich dem Touristen, mir zu folgen. Wir eilten schräg durch die Lobby und stießen die Tür beim Haupteingang auf. Keine gute Idee. Der Wind, den die Rotorblätter verursachten, fegte uns fast von den Füßen. Zu spät versuchte ich, meinen Cowboyhut auf dem Kopf festzuhalten. Schon hatte er sich verabschiedet und trudelte zurück in die Lobby. Staub wirbelte mir ins Gesicht und brannte in meinen Augen, ich konnte gar nicht anders, als sie zuzumachen, aber ich hatte eben noch bemerkt, dass vor dem Hoteleingang schwarzgekleidete Männer standen. Das fand ich seltsam. Ich hielt die Hand schützend vor meine Augen und blinzelte in den Staub. Die Männer waren vermummt und trugen Waffen, die man sonst nur in Filmen zu sehen bekommt, weil die eigentlich niemand hat. Die nennt man halbautomatische Schnellfeuerwaffen.
Klar. Im Nachhinein weiß man immer alles besser. Diese Männer waren von der staatspolizeilichen Spezialeinheit und darum eigentlich die Guten. Aber ich erschrak so sehr, dass ich einfach instinktiv reagierte und zurück ins Hotel flüchtete, meinem Cowboyhut hinterher, dabei aber den Touristen so arg anrempelte, dass er mit mir in der Lobby zu Boden fiel.
»Mach die Tür zu!«, brüllte ich, aber der nutzlose Junge machte nichts dergleichen, blieb einfach auf dem Boden liegen und hatte die Hände am Hinterkopf, bereit, festgenommen zu werden. Vielleicht hatte er mich gar nicht gehört. Wind und Staub schlugen uns noch immer entgegen, und darum war es schwierig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein paar der eingerahmten Schwarzweißfotografien fielen zu Boden, die aufgehängten Bojen schaukelten. Ich rappelte mich auf, um die Tür zuzumachen. Meine Hüfte schmerzte, weil ich wohl seitlich auf meine Mauser gefallen war. Der Gurt war etwas verrutscht, und ich befürchtete, dass ich durch den Sturz die Pistole beschädigt hatte. Darum zog ich sie aus dem Halfter und lehnte mich dabei schräg gegen den Wind. Ich hatte ja gar nicht bemerkt, dass einige der vermummten Polizisten mit den Schusswaffen im Anschlag in die Lobby gestürmt waren.
»Fallen lassen! Fallen lassen!«, brüllten sie, und ich wünschte, ich hätte meine Pistole gleich fallen gelassen, aber ich war so überrascht, denn aus dem Augenwinkel bemerkte ich weitere vermummte Gestalten, die durch die Hintertür ins Hotel eingedrungen waren und nun durch das Restaurant kamen, mit den Waffen im Anschlag, wie im Film irgendwie, und so waren ich und der Tourist völlig umzingelt. Chancenlos. Ich war so perplex, dass ich versteinerte und nicht tun konnte, was die Vermummten von mir verlangt hatten. Der Tourist aber streckte seine Glieder von sich, und zuerst glaubte ich, sie hätten ihn abgeknallt, und darum wurde mir wirklich angst und bange. Die Sache war ernst.
»Fallen lassen! Fallen lassen!«, brüllten sie noch immer, und Peng!, explodierte vor mir eine Handgranate, so dachte ich zumindest, aber es war natürlich keine Handgranate, sondern eine Rauchpetarde, die mir aber irgendwie die Sinne raubte. Der Rauch hüllte uns ein, biss im ganzen Gesicht, und weil die Petarde neben dem Touristen explodiert war, begann er nun haltlos zu schreien, und zwar auf Ausländisch, weshalb ihn niemand verstehen konnte, was in dieser Situation auch niemandem weiterhalf, und plötzlich rammte mich ein kräftiger Mann der Spezialeinheit von hinten und wuchtete mich ziemlich geübt auf den Boden. So was hatte der wahrscheinlich schon mal gemacht. Und da lag ich, hustend und mit tränenden Augen, die Mauser hatte ich nicht mehr in der Hand, aber ich sah sie noch über den Boden unter eine Kommode schlittern, auf welcher immer Kaffee und Tee bereitstanden. Auch heute. Der Spezialeinheitler drehte meine Arme auf den Rücken und stützte sich mit dem Knie auf mir ab. Das tat ziemlich weh, und wenn ich versuchte, mich zu bewegen, schmerzte es noch mehr, und darum begann nun auch ich zu schreien. Ich lag neben dem Touristen, wir schauten uns an und brüllten gleichzeitig aus voller Kehle. Aber nicht sehr lange, denn bald bekamen wir wegen dem blöden Rauch fast keine Luft mehr, und so ging unser Gebrüll in Husten über.
Aber es war dann alles gar nicht so schlimm. Die Rauchpetarde wurde nach draußen geworfen, und jemand schaltetet den Feueralarm wieder aus, den ich bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte. Es wurden Fenster geöffnet, und der Rauch verflog dank dem Wind, den der Hubschrauber verursachte. Der Spezialeinheitler lockerte den Griff und setzt mich auf meinen Hintern, denn Birna war plötzlich da und sagte den Männern, dass sie die Falschen verhaftet hätten. Aber ganz so einfach ließen sie uns nicht gehen, mich und den Touristen, schließlich hatten wir Widerstand geleistet, aber auch da gelang es Birna, ein Wort für mich einzulegen, und sie erklärte, wer ich war, wie ich war und dass keine Gefahr von mir oder meiner Spielzeugpistole ausging. Ich glaube, die Leute von der Spezialeinheit merkten dann selber, dass sie es ein wenig übertrieben hatten. Auch dem Touristen gelang es zu beweisen, dass er wirklich nur ein Tourist war. Er wurde zu seinem Zimmer eskortiert, und ich habe weder ihn noch seine Freundin jemals wiedergesehen. Diejenigen, die man hatte verhaften wollen, nämlich die Litauer, also Nadja, Darius und alle, hatten sich längst davongemacht, weshalb die Vermummten eiligst in den Hubschrauber kletterten und sich laut knatternd vom Acker machten. Birna und ein paar Polizisten aus Akureyri und Húsavík blieben zurück. Das alles dauerte nur wenige Minuten, aber ich war so geschlaucht, als hätte ich den ganzen Tag Köderstücke zersägt. Ich war völlig fertig.
Es wurde ruhiger in der Lobby. Birna setzte mich an einen Tisch im Restaurant, nahe am Fenster, servierte mir eine Flasche Cola und setzte sich mir gegenüber. Erst als ich die Flasche in den Händen hielt, merkte ich, wie sehr ich zitterte und wie ich schwitzte, dabei war mir eiskalt. Meine Augen brannten, und meine Hüfte schmerzte. Was sollte der Scheiß? Unten am Hafen waren die meisten Dorfbewohner verschwunden, denn die Polizei war aufmarschiert; vier Beamte in zwei Polizeiautos. Sie sperrten den Hafen mit gelbem Plastikband ab und schickten nun auch Sigfús weg. Nur Sæmundur und Siggi blieben in der Nähe.
»Es tut mir sehr leid, dass du zwischen die Fronten geraten bist, Kalmann«, sagte Birna. »Immer zur falschen Zeit am falschen Ort! Wie machst du das nur?« Sie versuchte zu lächeln, doch sie war nicht sehr überzeugend. »Was machst du überhaupt hier im Hotel?«
Ich wusste, dass ich ihr nicht hätte antworten müssen, denn meine Mutter war nicht da, und ohne meinen Vormund musste ich überhaupt nichts sagen, das war das Gesetz.
»Ich habe Nadja gesucht«, sagte ich.
»Warum?«
»Ich habe ihr versprochen zu sagen, was wir im Fass gefunden haben.«
»Wieso hast du ihr das versprochen?«
»Sie konnte nicht so lange warten, bis das Fass geöffnet wurde. Sie musste arbeiten gehen. Sie hat immer viel zu tun.«
Birna nickte, als würde sie mir glauben.
»Und? Hast du Nadja gefunden?«
»Nein!«, sagte ich, und nun war ich fast den Tränen nahe, denn irgendwie ging heute alles schief. »Sie war wie vom Erdboden verschluckt, sie war weder in der Küche noch im Waschraum. Ich habe überall gesucht! Weißt du, wo sie ist?«
Birna schüttelte müde den Kopf.
»Sie kann nicht sehr weit sein, nicht wahr? Wir werden sie bestimmt bald finden. Hat sie dir denn nicht gesagt, wohin sie will?«
Ich dachte angestrengt nach. Ich wollte Birna wirklich helfen, konnte aber nicht.
»Zurück ins Hotel«, sagte ich schließlich, aber allmählich wurde mir klar, dass sie mich angelogen hatte.
Birna nickte, musterte mich eine Weile, sagte, ich solle sitzen bleiben, sie komme gleich wieder, sie müsse einen Anruf machen, und ging.
Die Polizisten am Hafen schauten sich nun das Fass genauer an, machten Fotos und luden es dann in einen Lieferwagen. Birna setzte sich wieder zu mir und steckte ihr Mobiltelefon weg.
»Hör mal, Kalmann, du kannst nicht einfach bewaffnet durch die Straßen spazieren und den Leuten Angst machen.«
»Ich mache niemandem Angst«, wehrte ich mich.
»Das hätte böse enden können heute, verstehst du? Wenn ich nicht da gewesen wäre …«
Ich dachte an meine Mutter.
»Ist doch mir egal«, sagte ich.
Birna schaute mich mit einem schiefen Lächeln an.
»Da draußen sind Leute vom Fernsehen. Ich schlage vor, du machst keine Interviews mehr, einverstanden?«
Ich nickte, aber damit wollte sich Birna nicht zufriedengeben.
»Nimm den Hinterausgang, ja?«
»Kein Grund zur Sorge«, sagte ich.
»Gut. Geh nach Hause, und ruf deine Mutter an. Sie macht sich bestimmt Sorgen.«
Ich nickte zwar, aber ich gab Birna zu verstehen, dass ich noch einen Moment sitzen bleiben wollte, schließlich zitterten meine Hände noch immer. Birna ließ mich, und als ich endlich alleine im Hotel war, legte ich mich vor der Kommode flach auf den Boden und fischte meine Mauser darunter hervor. Sie war zum Glück noch heil. Natürlich war sie noch heil. Sie hatte immerhin ein paar Kriege überstanden. Ich stellte mir vor, wie ich die Spezialeinheitler in eine wilde Schießerei verwickelt hätte, duckte mich hinter einem Heringsfass, zielte auf die Tür und sagte Peng! Peng! Peng! Aber dann ging die Tür plötzlich auf, weil die Reporter ins Hotel drängten, ob sie nun die Erlaubnis von der Polizei bekommen hatten, oder nicht. Also eilte ich geduckt durch die Lobby und fand im Restaurant hinter dem Büffetttisch Deckung. Es waren aber nur zwei Reporter, und ich erkannte sie auch sofort: der Glatzkopf mit Fliege und der hochgewachsene Kameramann. Sie hatten mich nicht bemerkt. Ich blinzelte unter dem Tisch hervor und nahm erst den Reporter, dann den Kameramann ins Visier. Peng, peng! Ich hätte sie einen nach dem anderen abknallen können.
»Kalmann?«, rief der Reporter vom Staatsfernsehen. Ertappt kroch ich unter dem Tisch hervor und rannte so schnell ich konnte davon, flüchtete durch die Küche und den Vorratsraum zum Hinterausgang und stürzte ins Freie. Draußen schlich ich mich ums Hotel, so würde ich sie abhängen.
Die Flucht gelang. Sie erwischten mich nicht, schauten mir nur kopfschüttelnd hinterher. Mann, war das aufregend! Ich jauchzte lauthals, rannte durchs Dorf und fühlte mich richtig gut, wie ein richtiger Filmheld. »Yeah, bitches!« Aber plötzlich wurde mir schwindlig. Meine Glieder wurden mit jedem Schritt schwerer, ich war plötzlich total müde. Meine Beine trugen mich fast nicht mehr. Als ich beim Häuschen angekommen war, wurde mir schlecht, und ich kotzte neben den Eingang. Kurz und heftig. Dann rettete ich mich mit letzter Kraft hinein. Ich glaube, auch Filmhelden würden blöd dastehen, wenn sie von der Spezialeinheit überrumpelt und zu Boden gedrückt worden wären, entsicherte halbautomatische Schnellfeuerwaffen im Nacken und alles. Die in Hollywood wissen aber gar nicht, wie das richtige Leben ist. Nämlich genau so: zum Kotzen.