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Jagd
Nachdem ich mich verarztet hatte, legte ich mich schlafen. Eigentlich kam es nur selten vor, dass ich vor dem Zubettgehen nicht fernguckte. Aber ich war kein Kind mehr, und Erwachsene können auch mal nicht fernsehen. Darum war ich am nächsten Morgen ziemlich gut ausgeschlafen, aber ich beschloss trotzdem, den Tag so zu verbringen, dass ich nicht ständig Leuten begegnete. Ich wollte meine Ruhe haben. Das Wetter war hervorragend, fast ein wenig frühlingshaft, nur wenige Wolken hingen am Himmel. Schäfchen in Reih und Glied. Der Nebel, der bei Tagesanbruch in der Bucht gelegen hatte, verflüchtigte sich nun. Feucht und matt lag das Gras zwischen den Steinen, ganz schattige Stellen ausgenommen, war der Schnee weg. Die Blutlache beim Arctic Henge war wohl im Boden versickert. Also packte ich Schokolade und Dörrfisch in meinen Rucksack, setzte meinen Cowboyhut auf und legte meinen Pistolengürtel um. Hinter dem Gemeindehaus kletterte ich den Hang hoch, drehte mich noch einmal um, überblickte Raufarhöfn, das nach dem Trubel erstaunlich ruhig dalag. Nichts war dem Dorf anzusehen, denn Hubschrauber und Spezialeinheitler hinterlassen keine Spuren. Ich zog los, querfeldein Richtung Nordwesten, kletterte über die Fundamente der alten Britenanlage, bog bei den
Sendemasten Richtung Norden ab, marschierte in gutem Abstand am Arctic Henge vorbei und weiter über die Tundra der Melrakkaslétta, ziellos irgendwie, aber ich folgte meinem Instinkt, meinem Bauch, und ich war überzeugt, dass mich mein innerer Kompass zu Schwarzkopf führen würde. Ganz bestimmt würde ich Schneehühner sehen, denn während dieser Jahreszeit waren die Männchen noch immer im weißen Wintergefieder und ganz einfach auf der braunen Ebene zu erkennen. Die Weibchen hatten schon braune Flecken im Gefieder, damit sie besser vor den Falken getarnt waren. Die Männchen opferten sich also für die Weibchen, damit wenigstens der Nachwuchs gesichert war. Es ist das Gleichgewicht der Natur. Da kann man nicht daran rütteln. Das ist einfach so. Frauen und Kinder zuerst. Das Lieblingsgericht der Falken ist Schneehuhn, und wenn es nur wenige Schneehühner gibt, gibt es wenige Falken, weil sie dann nichts zu futtern haben. Und wenn es wenige Falken gibt, gibt es mehr Schneehühner. Und wenn es mehr Schneehühner gibt, gibt es mehr Falken. Und dieses Beispiel könnte man bestimmt auf uns Menschen übertragen, aber mir fällt grad nicht ein, wie.
Tatsächlich flatterte schon bald ein Schneehuhnpaar aufgeregt davon, und ich wunderte mich einmal mehr über die beschränkten Flugkünste und ihr rülpsendes Gurren, das sie über weite Distanzen verriet. Die Natur macht es den Falken und den Polarfüchsen sehr einfach. Falken sah ich aber keine, und auch Schwarzkopf ließ sich nicht sofort blicken, aber Kurzschnabelgänse und Singschwäne, die wahrscheinlich eben erst in Island eingetroffen waren, gab es doch schon einige.
Ich ging zu den Seen hoch, die vor kurzem noch zugefroren und mit einer Schneeschicht bedeckt gewesen waren. Jetzt glitt auf einem ein Singschwanpärchen – es sind immer dieselben Pärchen, jedes Jahr. Darum sind Schwäne so romantische Tiere. Sie bleiben sich und ihrem Seelein treu. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Schwan.
Ich setzte mich auf einen Stein, die warme Sonne im Gesicht, aß Schokolade und dachte nach. Ich hätte mich gerne ins Gras gelegt, doch der Boden war noch immer feucht und kalt. Von hier aus konnte ich Raufarhöfn nicht mehr sehen. Nur noch Moos, braunes Gras und Steine, geschmückt mit Flechten, so weit das Auge reichte. Wenn ich nicht den Arctic Henge in weiter Ferne gesehen hätte, hätte ich genauso gut auf einem anderen Planeten sein können. Alleine in dieser Landschaft zu sitzen war wie auf dem Meer sein, aber ganz anders. Die Melrakkaslétta hob und senkte sich, wogte wie flache Wellen, obwohl sie natürlich ganz starr war. Einer der grünen Seen lag zu meinen Füßen. In diesen Seen gab es Fische. Früher ging ich oft mit Großvater angeln, wir standen in unseren Hüftstiefeln im Wasser, das in der Mitternachtssonne goldig schimmerte, stundenlang, ohne zu reden, einfach nur dastehen und angeln, und manchmal kamen wir spät nach Mitternacht mit einem halben Dutzend Seesaiblingen zurück. Das ist Glückseligkeit.
Ich hatte Nói einmal den Vorschlag gemacht, mich im Sommer in Raufarhöfn zu besuchen, dann würde ich ihn zum Angeln mitnehmen, was er aber abgelehnt hatte, denn angeln sei langweilig. Dabei hätte es ihm ganz bestimmt gefallen, schließlich hatte er mir einmal seinen Traum
verraten, irgendwo in Kanada oder Alaska in einer Hütte zu leben und nur von der Natur zu leben, völlig unabhängig von seiner Mutter. Aber mit Internetanschluss und modernen Schusswaffen und viel Whiskey.
Als ich so dasaß und aufs Wasser schaute, bemerkte ich plötzlich eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seeseite. Ich hielt den Atem an. Es war Schwarzkopf, der sich da geduckt herumtrieb. Tatsächlich. Er musste mich schon lange bemerkt haben, denn er schaute recht misstrauisch zu mir, ging ein paar Meter am Seeufer entlang, blieb stehen, schaut wieder zu mir rüber und wiederholte das Ganze. Ich bewegte mich nicht, blieb völlig reglos, und schließlich blieb auch Schwarzkopf stehen, den Kopf gesenkt, die Beine stramm und etwas gespreizt, bereit zur Flucht, als erwartete er von mir, dass ich etwas machte. Also machte ich etwas.
Die Distanz über den See war knappe fünfzig Meter, mit der Schrotflinte hätte ich ihn vielleicht erwischt, wenn auch nicht töten können, weil die Schrotkügelchen zu gestreut gewesen wären. Aber ich hatte die Flinte sowieso nicht dabei, darum griff ich ganz langsam an mein Pistolenhalfter, wie in Superzeitlupe, so dass der Fuchs unmöglich eine bedrohliche Bewegung ausmachen konnte. Tatsächlich wandte er sich ein wenig von mir ab und schnupperte am Krähenbeerengestrüpp, trottete dann wieder am Seeufer entlang, völlig entspannt, als glaubte er nicht mehr, dass ich etwas machen würde, hielt dann aber trotzdem wieder inne und guckte zu mir rüber, als traue er mir doch nicht ganz. Inzwischen hatte ich die Mauser in meiner Hand, sie war entsichert. Mein rechter Zeigefinger am Abzug, den
Arm gestreckt, visierte ich ihn übers Korn an, ein Auge zu, atmete flach, atmete ein, atmete aus. Schwarzkopf guckte mich völlig nichtsahnend an. Er hatte keine Angst vor mir. Er schaute mich an, als dulde er mich hier oben, als wüsste er ganz genau, wer ich war. Und darum fiel es mir so schwer, ihn zu töten. Nein, abdrücken wäre falsch gewesen. Mein Bauchgefühl sagte mir das.
Großvater hatte mich gelehrt, wie man auf sein Bauchgefühl hört und auch darauf vertraut. Er meinte sogar, mein Bauch wisse meistens, was Recht und was Unrecht sei. Ich müsse einfach meine Bauchgefühle verstehen lernen. Dann wollte er von mir wissen, wo ich in meinem Körper Trauer empfand. Ich solle einfach mit dem Finger auf die Stelle zeigen. Gar nicht so einfach, wie man denkt! Zuerst zeigte ich auf meinen Kopf, weil ich dumm war und glaubte, dass sich alles im Kopf abspielt. Man würde ja denken, dass dort, wo das Gehirn ist, alles passiert! Denn der Kopf ist das Steuerhäuschen, da sitzt der Fahrer und steuert. Wenn niemand den Motor anspringen lässt, dann passiert rein gar nichts. Da nützt dir der stärkste Motor nichts. Und darum kann man ohne den Kopf zum Beispiel keinen Schnee schaufeln oder traurig sein. Das versuchte ich Großvater zu erklären, er war aber nicht zufrieden mit meiner Erklärung, sagte, ein Fahrer könne nichts machen, wenn der Motor einen Schaden habe. Dann nütze es auch nichts, wenn man einfach den Fahrer auswechsle. Ich sollte nicht da hinzeigen, wo ich glaubte, dass sich das Gefühl für Trauer befinde, sondern dahin, wo ich es fühlte, und wir würden es gleich noch einmal versuchen, was mich etwas nervös machte, aber Großvater sagte, ich brauchte nicht nervös
zu sein und ich solle jetzt meine Augen zumachen. Und er wartete, bis ich die Augen fast wieder aufmachte, weil ich wissen wollte, ob er überhaupt noch da war. Zugleich versuchte ich herauszufinden, wo die verflixte Trauer steckte, wenn nicht in meinem Gehirn. Aber ich fand sie nicht, und ich wurde darum noch nervöser und wollte eigentlich nicht mehr mitmachen, doch Großvater beharrte darauf, dass ich die Augen auf keinen Fall öffnete, und dann erinnerte er mich daran, dass bald Weihnachten sei, und darum vergaß ich völlig, dass ich die Trauer hätte suchen sollen, aber Großvater fragte mich, ob ich mich auf Weihnachten freute – dumme Frage! Ich solle ihm nun zeigen, wo sich das Gefühl befand, und ich zeigte, ohne zu überlegen, auf meinen Bauch, denn da kribbelte es mich, und Großvater lachte und klatschte in die Hände.
»Da ist die Vorfreude, das Glück!«, bestätigte er.
Ich war so erleichtert! Ein Stein fiel mir vom Herzen. Und nun war ich bereit, weitere Gefühle aufzuspüren. Die Trauer, wie sich herausstellte, steckte in meiner Brust, die Liebe war auch in meinem Bauch und die Wut in meinen Armen. Die Sehnsucht fand ich nicht, weil ich nicht genau wusste, was Sehnsucht war, aber Großvater war nun zufrieden mit den Resultaten und erklärte mir, dass eben nicht alles oben im Kopf sei, dass nicht alles so einfach sei, wie man glaube. Der Grönlandhai, erklärte er mir, habe praktisch kein Gehirn, bloß Verbindungen von den Augen zur Wirbelsäule, aber das bedeute überhaupt nicht, dass der Grönlandhai dumm sei oder keine Gefühle empfinde.
Ich fand das ungeheuer. Ein Grönlandhai sollte auch
Gefühle haben? Ist er traurig da unten auf dem Meeresboden in der Dunkelheit? Ist er einsam? Oder ist er glücklich? Hat er Freunde? Kann er verliebt sein? Hat er Angst, wenn er von uns an die Wasseroberfläche gezogen wird?
»Haben Fische Angst?«, fragte ich meinen Großvater, und er dachte eine Weile nach, sagte, dass er noch nie von einem Fisch gehört habe, der freiwillig in den Rachen eines Grönlandhais oder in ein Fischernetz geschwommen sei, und er denke, dass es auch nie einen geben werde. Und ich muss ihn etwas verwirrt angeguckt haben, denn er sagte, er wisse es eigentlich auch nicht, aber er glaube es. Sein Bauch sage es ihm, nicht sein Kopf, und es sei wichtig, auf den Bauch zu hören, denn der Kopf habe sehr wenig mit Gefühlen zu tun, und Gefühle seien überlebenswichtig, sonst würden wir unseren Kopf aus reiner Neugier in den Rachen eines Löwen stecken. Und das ergab Sinn.
Wenn Großvater jetzt hier oben bei mir gewesen wäre, hätte er nichts gesagt. Er hätte einfach nur reglos neben mir gesessen und hätte Schwarzkopf mit zusammengekniffenen Augen zugeschaut. Er hätte mir nicht gesagt, dass ich mich beeilen oder schießen müsste. Keine Chance. Er hätte mich machen lassen, denn er hätte gewusst, dass ich es schon richtig machte, auch wenn ich nicht so gescheit war wie er. Gute Bauchgefühle hatten wir beide.
Vielleicht schaute mich der Fuchs so seelenruhig an, weil auch er spürte, dass ich ihm nichts Böses wollte. Vielleicht erkannte er mich wirklich. Vielleicht hatte er mir auch einen Namen gegeben wie ich ihm. Schließlich hatte er mich bestimmt schon einige Male über die Melrakkaslétta wandern sehen und hatte mich singen hören. Wir schauten uns
also nur an, bestimmt ein paar Sekunden oder auch mehr, ich zielte mit meiner Mauser auf ihn, ich dachte an Großvater und sagte:
»Peng.«
Auf dem Nachhauseweg kam ich an Bragis Haus vorbei. Und weil ich zu seinem Stubenfenster guckte, in der Vermutung, den Dichter am Fenster stehen zu sehen, bemerkte ich gar nicht, dass er draußen neben dem Eingang stand und eine Pfeife rauchte.
»Kalmann!«
Ich erschrak und blieb natürlich stehen, schaute mich nach Bragi um. Der schmunzelte, zog an seiner Pfeife, paffte zufrieden, als hätte er mich wirklich erschrecken wollen. Seine Lippen waren rot geschminkt.
»Hallo«, sagte ich und dachte an meinen Großvater, der früher auch Pfeife geraucht, sich aber nie die Lippen geschminkt hatte. Vielleicht werde ich auch Pfeife rauchen, wenn ich so alt wie Bragi sein werde, aber die Lippen werde ich mir nie schminken.
Bragi zeigte mit der Pfeife auf mich. Seine Fingernägel waren heute schwarz lackiert, und er war in Plauderstimmung.
»Nichts geschossen heute?«
»Nein.«
»Das nennt man einen bewaffneten Spaziergang.«
»Ich glaube schon.«
»Nur ein harmloser Spaziergang. Gut so«, sagte Bragi. »Heute ist kein Tag für … so was …« Er hielt mitten im Satz inne, runzelte die Stirn, als suchte er nach Worten,
doch dann steckte er sich lediglich die Pfeife wieder zwischen die Zähne.
Er war ganz elegant gekleidet, total altmodisch, ein gestreiftes Hemd, eine braune Weste, rote Hosenträger, schöne dunkelgrüne Hosen. Fehlte nur noch ein Hut. Der hätte nämlich seine zerzauste Frisur verstecken können.
Auch Bragi betrachtete mich.
»Das war ein verrückter Tag gestern, nicht wahr? Filmreif.«
»Ja«, sagte ich und spürte den Spezialeinheitler auf mir knien.
»Du hast das Mädchen gemocht, nicht wahr? Nadja?«
Ich zuckte mit den Schultern und schaute zu Boden.
»Komm rein. Ich mach dir einen Kaffee«, sagte Bragi, drehte sich um und ging ins Haus.
Jetzt konnte ich also gar nicht mehr nein sagen, und einfach weggehen wäre unhöflich gewesen, also zog ich beim Eingang meine Schuhe aus und folgte ihm ins Haus. Ich war nicht zum ersten Mal in meinem Leben in seinem Haus, denn früher begleitete ich meine Mutter, wenn sie in Bragis Bibliothek Bücher auslieh. Die beiden unterhielten sich immer, aber damals begriff ich noch nicht, worüber gesprochen wurde. Aber jetzt war ich schon seit Jahren nicht mehr in seiner Bibliothek gewesen, und darum war es irgendwie wieder wie zum ersten Mal, weil ich mich verändert hatte und nicht mehr derselbe Mensch war. Sein Haus ist in den 60er Jahren gebaut worden, ganz flach, eingeschossig, große Fenster und Teppichböden. Aber viel freien Platz gab es auf dem Teppich nicht. Auf dem Boden stapelten sich Kartons voller Bücher, die Wände waren mit
Bücherregalen verbaut, und auf den meisten Stühlen und Sesseln lagen Bücher, aber nicht nur Bücher, sondern auch Zeitungen und Videokassetten, Lampen und Küchengeräte. Auf den Fensterbänken und zwischen den Stühlen standen Pflanzen. Sehr viele Pflanzen. Es war auch richtig warm im Haus. Und feucht. Die Fenster waren an den Rändern beschlagen, und zwischen den Fensterscheiben schimmerte es an einigen Stellen grün. Neben der Stubentür stand ein Schreibtisch, der schwer beladen mit einem alten Computer und weiteren Büchern war.
Bragi war in der Küche verschwunden, aber auch da lag viel Kram rum. Ich konnte einen Blick in sein Schlafzimmer werfen, denn die Tür stand weit offen, und es war das unordentlichste Zimmer, das ich je in meinem Leben gesehen habe.
»Ich muss wieder gehen«, sagte ich. »Bless!«
»Du bleibst jetzt schön da!«, rief Bragi, kam in die Stube, räumte ein paar Bücher von einem Sessel und sagte: »Setz dich! Ruh dich aus!«
Ich setzte mich, aber an Ausruhen war nicht zu denken. Bragi blieb stehen und schaute auf mich runter, als überlegte er sich, was er mit mir machen sollte. Dann ging er wieder in die Küche, ließ mich einfach sitzen. Nach einer Weile kam er mit einem Stück Kuchen auf einem Teller zurück, gab mir den Teller und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er nahm ein Buch vom Stapel, drehte es in den Händen und beugte sich nahe an den Computerbildschirm.
»All diese Schachteln«, seufzte er. »Sie wurden mir einfach so zugeschickt, als hätte ich Verwendung für diesen Kram, dabei habe ich gar nicht darum gebeten. Oder willst
du dieses Buch lesen?« Er schaute sich wieder die Titelseite an »Kan du høre mosset visker?
Eine Schnulze, und erst noch auf Dänisch. Kannst du Dänisch?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht, for helvede!«, donnerte Bragi. Fluchen auf Dänisch konnte er offenbar. »Jetzt muss ich den ganzen Quatsch im System aufnehmen, die Bücher mit Nummern versehen und einplasten. Wir haben ja nichts Besseres zu tun hier oben, nicht wahr?«
Ich war froh, nicht in einer Bibliothek arbeiten zu müssen. Es klang nämlich ganz schön anstrengend.
Bragi zeigte mit seinem schwarzen Zeigefingernagel aufs Büchergestell neben mir.
»Siehst du die ganze Reihe Bücher hier? Die Saga vom Eisfolk
. Diese Bände werden noch immer gelesen. Sie würden eigentlich für eine Dorfbibliothek genügen.«
Ich hatte noch nie ein Buch gelesen, aber ich wollte nicht, dass Bragi es merkte, weshalb ich gar nichts sagte, sondern nur in den Kuchen biss. Es war ein steintrockener Schokoladenkuchen. Bragi wandte sich wieder seinem Computer zu. Ich horchte auf, denn ich vernahm das Fauchen der Espressokanne aus der Küche, doch Bragi war so in seine Arbeit vertieft, dass er es wohl gar nicht hörte, und darum sagte ich:
»Der Kaffee ist fertig.«
»For helvede!«,
sagte Bragi erneut und schlurfte in die Küche.
Ich atmete gepresst aus, fragte mich, wie ich aus dem Haus flüchten konnte. Denn mein Bauchgefühl gab mir Signale.
»Ich habe dich gesehen, Kalmann!«, rief mir Bragi aus der Küche zu. »An jenem Tag. Im Schnee. War ganz schön anstrengend, die Sache!«
Ich hielt die Luft an, wartete darauf, dass er fortfuhr, aber Bragi machte eine Pause, darum biss ich wieder in den Kuchen, denn je eher ich ihn gegessen hatte, desto schneller war ich hier wieder weg.
»Hast du mich denn nicht gesehen?« Bragi kam mit zwei Tassen Kaffee zurück in die Stube. »Du musst mich doch bemerkt haben, nicht wahr? Du bist ja direkt an mir vorbeigerannt.«
Damit ich den Kaffee entgegennehmen konnte, stellte ich den Kuchen auf einen Bücherstapel. Bragi grinste:
»Wenigstens dazu sind diese Bücher noch zu gebrauchen.« Er setzte sich wieder an seinen Computer. »Wir sind uns sehr ähnlich, Kalmann, auch wenn man das auf den ersten Blick gar nicht sieht.« Es war, als unterhielte sich Bragi mit dem Computer. »Du bist jung. Ich werde alt. Du bist kräftig, ein Jäger. Ich bin das nicht. Aber wir beide sind anders, du und ich. Zwei, die nicht hierhergehören, den Touristen Angst einjagen. Zwei, die nicht in sein
Bild gepasst haben. So ein Schwachsinn. Dabei sind wir Schutzgeister, du und ich, weißt du, was das ist?« Bragi schaute mich unverhofft direkt an.
Mir wurde heiß. Hier drinnen war es heiß. Und ich wollte gehen.
»Geister sind tote Menschen«, sagte ich.
»Nicht unbedingt. Manchmal schon. Schutzgeister können auch Drachen oder Riesen sein, aber eben manchmal in menschlicher Form, getarnt, verstehst du?«
Ich nickte, denn ich wollte keine weiteren Erklärungen von ihm aufgetischt bekommen.
»Keine Sorge. Du musst dir darüber nicht den Kopf zerbrechen«, murmelte Bragi und nahm das nächste Buch zur Hand. »Frihedens kirsebær.
Na, das ist mal ein gutes Buch.«
Ich schlürfte den Kaffee, obwohl mir Bragi weder Milch noch Zucker angeboten hatte.
»Ich will jetzt gehen«, sagte ich.
Bragi lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte mich.
»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Wir sind Komplizen. Wir stecken unter einer Decke, verstehst du?«
»Ich fürchte mich nicht vor dir«, sagte ich.
Bragi schmunzelte.
»Nein, du bist eben ein Schutzgeist. Du bist der Sheriff. Und du hast vor niemandem Angst. Dank dir können die Leute unbesorgt in ihren Bettchen schlummern oder die Eisfolk-Schnulzen lesen. Dank dir braucht sich niemand vor den Eisbären und den Frostriesen zu fürchten.«
Ich stellte die Kaffeetasse neben den Kuchen und sagte:
»Ich gehe jetzt.« Und dann ging ich, zog meine Schuhe an und stolperte ins Freie.
»Keine Sorge, Kalmann!«, rief mir Bragi hinterher. »Wenn du nichts sagst, werde ich auch nichts sagen. Versprochen!«
Ich eilte nach Hause, war plötzlich so erschöpft wie an jenem Tag, als ich Hafdís von der Blutlache erzählt hatte, als der ganze Stress seinen Anfang genommen hatte. Ich ließ mich mit einem Seufzer auf die Couch fallen, schaltete den Fernseher an und war erleichtert, als Dr. Phil den
Zuschauern Ehetipps gab, die ich aber gleich wieder vergaß, was nicht so schlimm war, weil ich nicht verheiratet bin.
Ich versuchte Nói anzurufen, und ich hätte mich auch gar nicht mit ihm über Bragi oder Róbert McKenzie unterhalten wollen. Hätte ihm einfach nur beim Computerspielen zuschauen wollen. Aber Nói war offline. Das kam manchmal vor. Kein Grund zur Sorge. Also versuchte ich ihn auf Facebook zu erreichen. Sein Account war aber gelöscht. Oder gesperrt. Jedenfalls gab es ihn auch da nicht mehr. Und das fand ich dann doch etwas seltsam, aber ich machte mir nicht viel mehr Gedanken darüber. Noch nicht.