20
Nebel
An Tagen wie diesem sollte man einfach nur daheimbleiben und Filme gucken, jemanden zur Seite haben, einen Freund oder wenigstens die Mutter, aber am allerliebsten eine Freundin. Ich hatte aber nur einen einzigen Freund, der den Kontakt aus unerklärlichen Gründen abgebrochen hatte: Nói. Vielleicht war er gestorben. War so tot wie Róbert McKenzie. Vielleicht hatte die Polizei seinen Stecker gezogen, weil er sich in die Website der Küstenwache gehackt hatte, um zu sehen, wo sich der Hubschrauber befand. Vielleicht würde er sich bald wieder melden, einfach so, als wäre überhaupt nichts passiert. Ich hoffte es. Schwarzkopf lag zerfetzt auf der Melrakkaslétta, meine Mutter musste arbeiten, und eine Freundin hatte ich noch immer nicht. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie Sex gehabt. Ich hasste mein Leben. Ich hasste mich. Vielleicht setzten mir die Toten zu. Aber manchmal muss man eben durch die Hölle, um in den Himmel zu kommen. Rückblickend ist das so. Ich musste sterben, um auferstehen zu können. Ich musste mein altes Leben abschließen, um ein neues zu beginnen. Und wenn man sich eine Freundin wünscht, hilft es nicht, zu Hause auf der Couch zu liegen, wie ich es über dreißig Jahre lang getan hatte. Das sah ich ein. Machte aber trotzdem nichts. Denn an jenem Tag hätte ich wirklich eine Pause verdient. Mein Körper gab mir nämlich alle möglichen Signale, und ich hatte den schlimmsten Muskelkater meines Lebens. Eigentlich war ich überzeugt, dass auf der Melrakkaslétta eine Gefahr lauerte, und vielleicht hätte ich jemanden darüber informieren sollen, doch ich wollte nicht schon wieder ausgelacht werden. Ich hatte Schmerzen in den Beinen und im Rücken, die mich mit hartem Griff auf die Couch drückten. Selbst wenn der Küstenwachehubschrauber auf meinem Dach gelandet wäre – ich wäre einfach liegen geblieben, denn genau das hatte ich vor. Ich wollte den ganzen Tag Cocoa Puffs essen und Adam-Sandler-Filme gucken. Der Mann ist lustig. Und wenn sich Nói plötzlich gemeldet hätte, hätte ich mich mit ihm unterhalten, den ganzen Tag, selbst wenn ich ihm nur beim Computerspielen zugehört und auf seinen doofen Pullover geguckt hätte. You Shall Not Pass!
Nói. Ich ärgerte mich so. Ich wusste nicht mal, wer sein Vater war. Ich hatte ihn nie danach gefragt. Aber wenn man sich online kennenlernt, sind Namen gar nicht wichtig. Darum konnte ich Nói auch nicht ausfindig machen. Namen sind eben doch wichtig. Ich vermisste ihn. Er war so, wie ich nicht sein durf‌te. Er war wirklich mein genaues Gegenteil, mein Gegenstück, und nun, da er plötzlich of‌fline war, kippte ich um und konnte mich nicht von der Couch rühren. Wenn ich überleben wollte, musste ich mir ein Beispiel an ihm nehmen.
Nach der Trauer kommt die Wut. Ich war plötzlich wütend, wütend auf Nói, wütend auf unsere Mütter, die uns bevormundeten, wütend auf unsere Väter, die einfach nicht im Bild waren. Wütend auf die Behörden, die Polizei und die Litauer. Nadja. Sie hatte mich hinters Licht geführt. Das war gemein.
Ich stand auf, ging in die Küche, nahm einen Teller und zerschmetterte ihn auf meinem Schädel. Die Scherben prasselten auf die Küchenarbeitsplatte und zu Boden. Es tat auch gar nicht weh, aber die Stelle am Kopf wurde warm. Ich tastete meine Haare ab, erwartete Blut an meinen Fingern, aber da war kein Blut. Also nahm ich ein Trinkglas aus dem Schrank und hielt es mir über den Kopf, doch mein Mobiltelefon begann auf dem Salontischchen in der Stube zu dudeln. Mit dem Glas in der Hand verharrte ich einen Augenblick, dann stellte ich es zurück in den Schrank und ging hinüber. Es war Birna. Sie teilte mir mit, dass sie aus Raufarhöfn abgezogen werde, dass sie sich bei mir bedanken und von mir verabschieden wolle, aber sie würde sich so freuen, wenn sie vorher noch meine Lagerhalle sehen könnte, meinen Arbeitsplatz, denn ich hätte ihr so viel über die Haifische erzählt, darum würde sie gerne sehen, wo ich die Haie verarbeite.
Ich sagte einfach zu allem ja, obwohl meine Glieder schon schmerzten nur beim Gedanken daran, das Haus zu verlassen. Aber Birna war wirklich nett, und mir schwindelte, und weil sie schon unterwegs war, wies ich sie auch nicht ab, sagte einfach nur »ja, ja« und nochmals »ja«. Bevor sie das Gespräch abbrach, sagte sie noch, ich solle mich warm anziehen, sie werden in fünf Minuten an meine Tür klopfen.
Ich guckte aus dem Fenster. Draußen war es windstill, aber die Wolken hingen tief. Über dem Meer wartete Nebel. Vielleicht auch Schnee. Das Meer war eigentlich gar nicht mehr da. Ganz nettes Wetter also, um den Kopf zu kühlen. Ich stülpte meinen Cowboyhut über meine Beule, steckte den Sherif‌fstern an meine Wind-und-Wetterjacke und schnallte den Pistolengürtel um meine Hüfte. Ich zog die Mauser aus dem Halfter und dachte dabei an meinen amerikanischen Großvater, der sie einem Koreaner abgenommen hatte. Ob er ihn auch damit abgeknallt hatte? Ich drehte die Pistole in meiner Hand, musterte sie, versuchte zu erkennen, wie viel Tod an ihr haftete, und steckte sie schließlich wieder ins Halfter. Jetzt, wo Birna abgezogen wurde, brauchte mich das Dorf wieder, und zwar in voller Montur. Mauser inklusive.
Ich wartete vor der Tür und schaute Birna zu, wie sie den Weg hochkam. Sie war nicht in Uniform, sondern ganz normal in einen beigen Mantel und einen schwarzen Schal gekleidet. Ihre Begrüßung war eher trocken, sie zeigte auch gleich auf die Fabrikhallen am Hafen und sagte:
»Gehen wir, ich habe noch einen langen Tag vor mir.«
Als wir hinuntergingen, sagte sie kein Wort, wirkte richtig mürrisch, dabei hatte sie am Telefon so nett mit mir geredet. Sie hatte einen zügigen Schritt, war mir immer zwei Meter voraus. Ich konnte ihr Tempo kaum halten, denn meine Beine waren gar nicht glücklich darüber, nicht auf der Couch zu liegen. Aber durch den zügigen Spaziergang hinunter an den Hafen wurden sie schließlich doch warm, und der Muskelkater war dann auch nicht mehr so schlimm.
»Glaubst du, es wird noch einmal schneien?«, fragte mich Birna über die Schulter.
Ich schaute in den grauschweren Himmel hoch.
»Ja«, sagte ich. »Ich rieche Schnee.«
»Na, phantastisch«, sagte Birna, aber sie meinte es nicht so.
Ich stolperte über einen Stein, fiel aber nicht hin, stolperte nur ein wenig, denn Birna ging so verdammt schnell.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, schaute sich aber nicht einmal um.
»Kein Grund zur Sorge«, murrte ich.
Schon waren wir unten am Hafen und gingen den leeren Hallen entlang. Niemand sonst war da. Siggis Boot lag vertäut im Hafen, und Sæmundurs Auto stand nicht vor seinem Container. Ich fragte mich, ob schon wieder Wochenende war. Ich wusste gar nicht, welcher Wochentag es war, und das mag ich eigentlich nicht.
»Diese hier?«, fragte Birna und zeigte auf meine Halle.
»Ja, diese«, sagte ich und war überrascht, dass sie genau wusste, welche Halle meine war.
Erst als sie bei der Tür angekommen war, hielt sie inne und ließ mir den Vortritt. Ich öffnete, ging ins Dunkel und knipste das Licht an. Das dauerte eine kleine Weile, die Neonröhren machten nämlich immer erst Disco, bis sie schließlich gleichmäßig leuchteten. Birna blieb neben mir stehen, stemmte die Hände in die Hüften, guckte nach oben, nach links und nach rechts.
»Ziemlich große Halle für einen einzigen Haifischfänger«, sagte sie. Ihr Stimme verhallte.
»Ich benutze nicht die ganze Halle, nur den Teil da hinten«, sagte ich. »Da tropft es nicht durchs Dach.«
Ich führte sie zu meiner Arbeitsecke, wo mein Tisch war, meine Messer, mein Kühlschrank, mein Radio, das nicht mehr funktionierte, mein USA -Kalender von 2007, meine Fässer mit den Ködern und meine Holzkisten, in denen ich das Haifischfleisch fermentierte. Ich begann meine Führung bei den Holzkisten, denn das interessierte die Leute immer am meisten, aber Birna war gar nicht interessiert. Sie ging schnurstracks auf den Kühlschrank zu und öffnete ihn. Sie schaute sich die Cola-Dosen, das Toastbrot und die Leberpastete an und machte den Kühlschrank wieder zu. Dann schaute sie sich die Messer auf dem Tisch an, nahm sie auch in die Hand.
»Gut geschärft«, stellte sie fest.
»Auf dem Tisch schneide ich das Fleisch in Stücke, hier im Fischtrog wasche ich das Fleisch mit Salzwasser, in diesen Holzkisten staple ich es, aber erst am Ende des Sommers, damit es vergammelt.«
»Wie lange bleibt es da?«, fragte Birna, die sich nun doch für die Holzkisten zu interessieren schien.
»Mindestens fünfundzwanzig Tage.«
»Wird das Fleisch nicht vergraben?«
»Jetzt nicht mehr. Früher schon. Da haben wir es unten am Strand im Sand vergraben, damit die Fliegen nicht rangekommen sind.«
»Und wieso machst du das nicht mehr?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»So wird es nicht dreckig«, sagte ich. »Und die Fliegen kommen in der Holzkiste auch nicht ran.«
Birna lachte kalt und sagte:
»Als ob das das größte Problem wäre!«
Ich verstand nicht, was sie damit meinte, aber ich wagte auch nicht zu fragen, denn etwas in ihrer Art, in ihrer Stimme, in ihrem Auf‌treten war anders, oder das Gegenteil von freundlich. Sie war ungeduldig. Sie war wütend.
»Und wo hängst du die Stücke auf?«
»Hinten, in der Trocknungshütte.«
»Wo ist hinten?«
»Da.« Ich zeigte in die Richtung. »Hinterm Dorf. Ganz in der Nähe von Katas Pferdestallungen.«
»Wie lange hängt das Fleisch da draußen?«
»Sechs bis acht Wochen. Aber nur im Winter.«
»Wegen der Fliegen?«
»Ja, aber sobald die Stücke eine braune Kruste bekommen, kommen die Fliegen auch nicht mehr ans Fleisch.«
»Soso. Und dann ist es …«, Birna zögerte, »… genießbar?« Sie lachte wieder kalt.
»Ja. Dann kann man es essen. Dann ist es nicht mehr giftig. Dann wird man auch nicht mehr krank davon.«
»Was du nicht sagst! Und an diesen Haken hängst du das Fleisch auf?«
Sie zeigte an die Wand, wo die Haken von unseren früheren Leinen an einem Nagel aufgehängt waren.
»Keine Chance«, sagte ich. »Das sind die Fischerhaken. Die Fleischstücke hängen an Schnüren in der Hütte. Nicht an Haken. Ich machte Löcher ins Fleisch und hänge es so an Schnüren auf.«
»Das sind die Fischerhaken?« Birna schien wirklich überrascht. Ich nickte. »Damit ziehst du doch einen Killerwal aus dem Wasser!« Sie schaute sich die Haken genauer an, nahm einen vom Nagel und drehte ihn in den Fingern. Ich wollte ihr widersprechen, aber sie bombardierte mich schon mit einer neuen Frage: »Wieso hast du so viele Haken?«
»Früher hatten wir ein paar Langleinen«, erklärte ich.
»Also mehrere Leinen mit Haken?«
»Ja, jeweils eine Langleine zwischen den Bojen.«
»Und heute?«
»Heute habe ich nur noch eine Langleine mit zehn Haken. Das reicht.«
Birna nickte. Sie drückte die Spitze des Hakens ein wenig in ihre Handfläche.
»Die Köderstücke sind also ziemlich groß.«
Ich nickte.
»Etwa so groß wie deine Hand«, sagte ich.
Birna schaute mich entsetzt an.
»Was verwendest du als Köder?« Ihre Stimme war nun nicht mehr so forsch, sondern plötzlich zurückhaltend. Ich zögerte, aber sie wich meinem Blick nicht aus.
»Das ist ein Familiengeheimnis«, sagte ich.
»Ich werde es nicht weitersagen«, sagte sie.
»Jeder hat seine Vorlieben.«
»Jeder Haifischfänger?«
»Ja.«
»Und welche Köder haben sich am besten bewährt?«
Ich stöhnte genervt. Birna machte mich noch fertig!
»Geräuchertes Pferdefleisch«, sagte ich. »Aber ich verrate dir nicht, wie ich das Fleisch mariniere!«
»Wie bitte? Pferdefleisch, mariniert?«
»Die Haie müssen das Fleisch riechen können, weil sie da unten nichts sehen.«
»Ach so«, sagte Birna und machte gespielt große Augen. »Ich frage mich ja, wie wir jemals auf die Idee gekommen sind, Haie zu fangen, vergammeln zu lassen und dann zu essen.« Ich wollte es ihr erklären, aber offenbar hatte sie die Frage gar nicht an mich gestellt, denn sie gab sich gleich selber eine Antwort. »Uns muss es wirklich dreckig gegangen sein. Und die Köder sind in diesem Fass?« Sie zeigte mit dem Haken auf das blaue Plastikfass mit dem schwarzen Deckel.
Ich nickte. Jetzt bereute ich, sie in meine Halle geführt zu haben.
»Darf ich?«
»Nein.«
Sie schaute mich an.
»Kalmann, ich würde jetzt gerne in dieses Fass gucken.« Sie zeigte auf das Fass.
»Keine Chance«, sagte ich. In meinem Kopf pochte der Puls. Birna starrte mich an, als würde sie mich mit Gedankenübertragung dazu bringen wollen, den Deckel des Fasses zu öffnen. Darum wich ich ihrem Blick aus und begann, die Messer auf dem Tisch zu sortieren und auf ihre Schärfe zu überprüfen. »Familiengeheimnis. Du darfst nicht«, sagte ich und erschrak selber ein wenig über meine Stimme. Ich klang nämlich gar nicht so wie ich. Birna machte einen Schritt rückwärts und schaute zum Ausgang.
»Ist gut, Kalmann«, sagte sie und hob beschwichtigend die Hände. »Du musst mir deine Köder nicht zeigen, in Ordnung?«
»Du darfst sie nicht sehen!«, sagte ich bestimmt.
»Kein Problem.« Birna seufzte und schaute mir eine Weile zu. Dann sagte sie: »Komm, zeig mir deine Trocknungshütte, ja? Und dann lass ich dich in Ruhe.«
Ich überlegte, nickte schließlich, legte das Messer auf den Tisch und ging vor, Birna zehn Meter hinter mir, Licht aus, Tür zu. Draußen hatte sich der Nebel vom Meer aufs Land geschlichen, und man sah nicht viel weiter als bis zum nächsten Haus. Das machte aber nichts, denn ich hatte mein ganzes Leben hier verbracht, und darum hätte ich mich mit verbundenen Augen zurechtfinden können.
Ich fragte mich, was Birna im Sinn hatte. Hatte sie gemerkt, dass ich etwas in meinem Fass versteckt hielt? Würde sie einen Durchsuchungsbefehl beantragen oder meine Mutter verständigen? Wie auch immer, ich war enttäuscht. Ich war traurig. Ich war müde. Es war, als wären in meinem Köderfass all mein Trübsinn, alle meine Ängste und all mein Ärger verstaut, und jetzt wollte Birna das Fass öffnen. Keine gute Idee von ihr. Ich hatte Grund zur Sorge. Ich realisierte, dass mein Leben hier in Raufarhöfn, wie ich es kannte, ein Ende nahm, dass der Vermisstenfall Róbert McKenzie heute abgeschlossen und danach alles nicht mehr dasselbe sein würde. Ich wünschte, ich wäre auf meiner Couch liegen geblieben, damit sich die Welt um mich herum nicht verändert hätte. Veränderungen mochte ich sowieso nicht. Mir ging es dann nicht gut, wie damals, als meine Mutter nach Akureyri umgezogen war. Oder als Großvater ins Pflegeheim gesteckt worden war. Gönnte mir Birna diesen letzten Spaziergang zur Trocknungshütte noch, bevor sie die Spezialeinheit aus Reykjavík anforderte? Oder wollte sie mich vom Fass weglocken, Zeit gewinnen, um Verstärkung anzufordern? Ich wusste es nicht, und eigentlich konnte es mir egal sein. Aber ich wollte nicht, dass mein Leben hier ein Ende nahm. Ich hatte sowieso nichts mit der ganzen Sache zu tun haben wollen. Von Beginn an. Wieso ließ man mich nicht in Ruhe! Ich wünschte, ich hätte die Zeit um zwei Wochen zurückdrehen können, zurück zu dem Tag, als ich Róbert im Schnee gefunden hatte. Ich wäre dann gar nicht auf Fuchsjagd gegangen, hätte mich an jenem Morgen gar nicht von der Couch gewälzt, und dann wäre ich Róbert auch nicht begegnet.
Also beschloss ich, mit Birna einen Umweg zu machen. Wir wären längst bei der Hütte angekommen, die nur ein paar hundert Meter hinter der Lagerhalle etwas erhöht am Hang stand, aber ich führte Birna in einem guten Abstand daran vorbei, so dass sie sie im Nebel nicht bemerkte. Aber Birna war von der Polizei. Sie hatte also einen Polizeisinn, den normale Menschen gar nicht haben. Denn nachdem wir einen halben Kilometer gegangen waren, blieb sie plötzlich stehen. Die Häuser waren im Nebel verschwunden. Wir waren knapp oberhalb der Siedlung, hätten aber auch in Grönland oder auf einem anderen Planeten sein können, denn zu sehen gab es wirklich nichts.
»Kalmann, bleib mal stehen! Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
Ich drehte mich um und schaute sie an. So sah es also aus, wenn ein Lebensabschnitt zu Ende ging; eine verwirrte Polizistin im Nebel.
»Ich will dir etwas zeigen«, sagte ich. »Es wird dich interessieren.«
»Ja, die Hütte, nicht wahr? Ist sie denn so weit weg?«
»Es ist nicht mehr weit, wir sind gleich da«, sagte ich und war schon weit voraus.
Birna blieb nichts anderes übrig, als mir zu folgen. Nach einer Weile blieb sie wieder stehen.
»Kalmann!«, rief sie. »Wo bringst du mich hin?«
Ich blieb ihr eine Antwort schuldig und ging einfach weiter. Wir waren inzwischen in der Nähe des Arctic Henge, eigentlich schon oben auf der Ebene. Aber hier war der Nebel noch dicker.
»Kalmann!« Birnas Stimme überschlug sich. »Wo geht es zurück zum Dorf?«
»Es ist nicht mehr weit!«, versicherte ich ihr. Ich wollte ihr doch die Felsspalte zeigen, die Kleidungsstücke und den Revolver, das hätte sie sicher interessiert, aber Birna war stur.
»Bleib stehen, Kalmann!«, rief sie. »Ich will zurück ins Dorf! Sofort!« Sie rannte nun wütend hinter mir her, versuchte mich aufzuhalten. Ich ging etwas schneller, denn Birna holte auf. Sie hatte mich fast eingeholt, als die dunklen Silhouetten des Arctic Henge wie Riesen im Nebel auf‌tauchten. Jetzt merkte auch Birna, wo wir uns befanden. Nach Atem ringend blieb sie neben mir stehen und schaute auf die Steine.
»Kalmann«, sagte sie. »Mach mir keine Angst!«
»Es ist nicht mehr weit«, sagte ich.
»Nein, stopp!«, sagte sie bestimmt. »Keine Spielchen mehr. Schluss damit. Schluss mit dem ganzen Quatsch! Was willst du mir zeigen, Kalmann?«
Hier oben im Schutz des Nebels fühlte ich mich geborgen. Es gab nur Birna und mich. Sie schaute mich an, und ich schaute sie an. Und vielleicht war es diese Zweisamkeit, die ich gesucht hatte. Vielleicht würde ich ihr jetzt erzählen können, was ich hier oben wirklich gefunden hatte.
»Schwarzkopf«, sagte ich. »Weißt du noch? Ich machte Jagd auf ihn.«
»Der Polarfuchs«, sagte Birna ungeduldig. »Ich weiß.«
»Er hat sich ziemlich nahe am Dorf rumgetrieben. Und Hafdís hat mich gebeten, ihm eine Lektion zu erteilen. Aber töten wollte ich ihn eigentlich nicht.«
»Wen, den Fuchs?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es hat geschneit, ich habe nicht viel mehr gesehen, als wir jetzt sehen, und da, wo ich ihn vermutet hätte, habe ich ihn nicht entdeckt. Aber ich bin in einem großen Bogen über die Melrakkaslétta gelaufen und schließlich hier vorbeigekommen. Und hier in der Nähe habe ich Róbert gefunden.«
»Du meinst, seine Blutlache?«
»Da.« Ich zeigte in den Nebel. »Da vorne.«
Wir blickten eine Weile in den Nebel und sagten nichts. Birna brach das Schweigen.
»War Róbert am Leben, als du ihn gefunden hast?«
In meinen Gedanken begegnete ich Róbert erneut. Ich konnte mich an jedes Detail erinnern. Das hatte mit dem Schauplatz zu tun. Wenn man an den Schauplatz zurückkehrt, kann man sich besser an die Geschehnisse erinnern. Das ist einfach so, weil alles genau gleich aussieht und auch so riecht, die Luft und alles.
Ich sah Róbert, wie er schief im Schnee stand. Er hatte einen roten Kopf und war betrunken, war ohne Winterjacke und ohne Mütze. Seine Multifunktionalbrille hatte er nicht auf. Wahrscheinlich hatte er sie auf dem Weg hierher verloren. Er muss nämlich ein paar Mal hingefallen sein, denn sein schicker Anzug hatte einen Riss im Ärmel, seine Hosen waren schmutzig, sein Hosenschlitz offen, seine Krawatte hing schräg und lose um seinen Hals. In der rechten Hand hielt er einen silbrigen Revolver. Er lachte ausgelassen, als er mich bemerkte, sagte, dass ihm das gerade noch gefehlt habe.
»Der Dorf‌trottel!«, grölte er und schlug sich die freie Hand an die Stirn. »Ich bitte um einen Engel, und dann schickt man mir den Dorf‌trottel!« Er bekam fast keine Luft mehr, so lustig fand er meinen Anblick.
Ich war völlig überrascht, Róbert hier oben zu begegnen – in diesem Zustand! Zwar fuchtelte er mit seinem Revolver in der Luft herum, aber ich spürte, dass keine Gefahr von ihm ausging. Er strömte Hass und Verachtung aus. Er war ein Fremdkörper in dieser stillen Idylle. Ich blieb einfach stehen, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, und weil ich so verlegen war, ließ ich ihn reden und lachen.
»Weißt du was, Kalmann? Manchmal wünschte ich mir, ich wäre so ein Pinsel wie du. Ganz ehrlich! So wie du. So einfach, so simpel. Alles so einfach. Ein einfaches Leben. Alles schwarz und weiß. Alles grad oder krumm. Ein Horizont, der nur knapp über die Melrakkaslétta reicht. Glücklich sein in Raufarhöfn. Ha! Zufrieden mit den Haien, und darum beneide ich dich. Das Rezept für Glück ist nämlich Genügsamkeit. Völlig evident! Verstehst du, was ich meine?«
Ich reagierte nicht. Schaute ihn nur an. Und ich wusste nicht, was er meinte. Róbert merkte es:
»Genügsamkeit ist, wenn man mit wenig zufrieden ist und darum genug von allem hat. Oder gibt es etwas, das du dir wünschst?«
Mir fielen gleich einige Sachen ein, die ich mir wünschte, auch wenn ich sie nicht zugeben wollte. Darum sagte ich nichts.
»Na, was wünschst du dir, Kalmann, das würde mich wirklich interessieren, und wenn es das letzte Geheimnis ist, das ich in meinem Leben erfahre. Sag mir, was du dir wünschst! Vielleicht kann ich dir den Wunsch erfüllen. Einen letzten Wunsch! Ha!« Er grölte und spuckte in den Schnee, fummelte mit der freien Hand eine kleine Whiskyflasche aus der Jackentasche, öffnete sie und gönnte sich einen kräftigen Schluck. Den Deckel ließ er fallen.
Ich schaute ihm zu. Dachte schon nicht mehr an all die Sachen, die ich mir wünschte. Er hätte mir meine Wünsche sowieso nicht erfüllen können.
»Komm schon, Junge. Streng deine Hirnzellen an! Etwas wird dir doch einfallen!«
»Eine Frau«, murmelte ich.
»Was?«
»Eine Frau!«, sagte ich lauter und fühlte Bitterkeit in mir aufsteigen.
Róbert war tatsächlich einen Moment still, verharrte mit der Whiskyflasche auf halber Höhe, musste sich meinen Wunsch wohl erst durch den Kopf gehen lassen, überlegte sich vielleicht, wie er mir eine Frau beschaffen könnte, aber dann winkte er mit dem Revolver ab und lachte verächtlich.
»Frauen!«, grölte er. »Glaub mir, Frauen sind nur Probleme. Nur Probleme. Es geht dir besser ohne Frauen. Und den Frauen auch!« Er lachte, machte die Flasche leer und warf sie achtlos in den Schnee. Das darf man nicht: Abfall in der Natur entsorgen. Aber ich sagte nichts, weil ich befürchtete, dass mich Róbert nur ausgelacht hätte.
Es schneite noch immer stark. Auf Róberts Kopf hatte sich eine Schneeschicht gebildet, sicher lag auch auf meinem Cowboyhut Schnee. Eine Weile blieben wir wortlos vor einander stehen, eigentlich fast wie in einem Western. Aber meine Mauser steckte noch im Halfter.
Róbert machte sich viele Gedanken, die sich auf seinem Gesicht abzeichneten. Manchmal verzog er den Mund, als hätte er Schmerzen, dann lächelte er wieder, schaute zufrieden in den Himmel, so dass die Schneeflocken auf sein erhitztes Gesicht fielen und dahinschmolzen. Er lachte, er schüttelte den Kopf, er jammerte.
»Du musst mir etwas versprechen. Kannst du das, Kalmann? Weißt du, was ein Versprechen ist?«
Ich nickte. Was ein Versprechen ist, weiß jeder. Aber bevor man etwas versprechen kann, muss man wissen, was man versprechen soll.
»Lass mich verschwinden«, sagte Róbert. Er war plötzlich ganz ernst, ganz nüchtern. Er schaute mich so intensiv an, dass ich seine Kälte spürte. »Kalmann, hörst du mich?«, sagte er und machte ein paar Schritte auf mich zu. »Du musst es mir versprechen! Dagbjört darf mich so nicht sehen. Niemals. Sie darf mich nicht finden. Das will ich ihr nicht antun, verstehst du? Und du willst ihr das sicherlich auch nicht antun, nicht wahr? Du magst sie doch! Lass mich verschwinden. Mach Fischfutter aus mir! Verfüttere mich den Haien.« Er trat ganz nahe an mich heran und fasste mich mit seiner freien Hand am Oberarm, drückte fest zu.
Ich schaute zu Boden, versuchte, ihm den Arm zu entziehen, aber Róbert hatte einen eisernen Griff. Und er roch nach Alkohol. Er hob die Hand, die den Revolver umklammerte, und tippte mit dem Lauf an meinen Sherif‌fstern.
»Sherif‌f, ich sag dir was. Ich glaube nicht, dass sich unsere Wege hier oben ganz zufällig gekreuzt haben. Niemand außer dir weiß, wie man Haifischfutter aus jemandem macht, verstehst du?«
Ich sagte nichts. Sein Blick war irr. Seine Augen glasig, seine Zunge schwer und träge, seine Augenlider halb geschlossen. Aber sein Anliegen war unmissverständlich:
»Du musst es mir versprechen! Du musst es mir einfach versprechen, hörst du? Dagbjört darf mich hier nicht finden, und wenn es so aussieht, als hätten mich die Litauer umgebracht … noch besser. Darum bin ich ja hier.« Jetzt zeichneten sich in seinem Gesicht wieder Schmerz und Verzweif‌lung ab. Er ließ mich los, verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts in den Schnee. Da blieb er erschöpft und mit hängendem Kopf sitzen. Die Hand, die seinen Revolver umklammert hielt, stützte er auf seinen Knien ab. Schnee klebte an seinen blauen Fingern.
»Ich habe ein ganzes Fass verloren, verdammte Kacke!« Er wedelte mit dem Revolver etwa in die Richtung, wo sich das Meer befand. »Die Verankerung oder das Seil müssen sich gelöst haben, und jetzt treibt es da draußen rum. Dabei ist dieses verdammte Fass nur ein Teil meiner Probleme. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es ist, das Gewicht dieses ganzen Jammerkaffs auf den Schultern zu tragen? Als wäre es meine Schuld, dass Raufarhöfn stirbt. Dabei habe ich alle möglichen Wiederbelebungsversuche unternommen, und jetzt ist es nun mal Zeit für den Todesstoß. Jemand muss es tun. Jemand muss es einfach machen. Jemand muss mich abtun, Róbert McKenzie, diesen Versager.«
Ich war verwirrt. Raufarhöfn starb? Ein Dorf konnte doch gar nicht sterben! Ich muss Róbert fragend angeguckt haben, denn er sagte:
»Ja, Kalli minn, wir machen den Laden dicht. Die Quote geht an die Dalvíkinger. Die Schule macht zu. Und wenn ein Dorf keine Schule hat, ist es kein Dorf, verstehst du? Und ich allein bin der Sündenbock. Wie immer. Dabei will ich doch nur ein gutes Leben leben, ist das denn zu viel verlangt? Anscheinend schon! Aber meine Tochter darf mich so nicht sehen. Das müssen wir ihr ersparen. Du und ich. Wir sitzen jetzt im selben Boot. Du musst mich verschwinden lassen. Du musst!« Róbert seufzte, irgendwie erleichtert, als wäre er froh, es mir gesagt zu haben. Aber ich war nicht froh. Ich hatte es nicht hören wollen, denn es waren ganz schreckliche Neuigkeiten. In meinem Kopf jagten sich die Gedanken. Dabei hatte ich nur die Hälfte von dem verstanden, was er mir erzählte, denn was das für ein Fass war, das er angeblich verloren hatte, erfuhr ich ja erst viel später. Dass Dagbjört ihre Anstellung an der Schule verlieren würde, fand ich aber nicht in Ordnung. Ein Dorf ohne Kinder. Das ist doch gar kein Dorf! Und jetzt verstand ich auch, dass ein Dorf ohne Kinder nicht überleben würde.
»Die Schule muss bleiben«, sagte ich, aber Róbert lachte mich nur aus.
»Es ist zu spät, Junge, es ist vollbracht! Auch du kannst deinen Laden dichtmachen. Dann haben wenigstens die Haie wieder ihre Ruhe.«
Ich wurde wütend.
»Die Schule muss bleiben!«, wiederholte ich.
»Meinetwegen. Die Schule kann bleiben, aber eine Schule ohne Kinder geht nicht!«
»Die Kinder müssen bleiben!«
»Na gut, na gut!«, sagte Róbert und hob beschwichtigend die Hände, lachte dabei ein kränkliches Lachen. »Die Kinder bleiben. Ich verspreche es. Ehrenwort. Aber versprichst du mir, Haifischfutter aus mir zu machen? Machen wir einen Deal?«
Ich sagte nichts, ich nickte nicht, ich schüttelte nicht den Kopf, ich schaute ihn nur an, blinzelte nicht mal, denn ich war wütend, und ich fragte mich, wie ich Raufarhöfn retten könnte.
»Versprichst du es, ja?«
Ich nickte dann doch. Was blieb mir denn anderes übrig, und Róbert schaute mich nachdenklich an, betrachtete mich fast liebevoll, dann lächelte er sogar, als wäre er plötzlich ganz zufrieden mit mir, mit sich und allem. Er sagte, er sei froh, dass ich ihn hier draußen gefunden habe, hielt sich den Revolver an die Stirn, sagte »Bless« und drückte ab.