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Heimkehr
Es gibt auf der ganzen Welt nichts Schöneres als zu schlafen, ganz besonders dann, wenn man müde ist. Ich glaubte, zehn Jahre geschlafen zu haben oder eine Sekunde, so genau konnte ich das gar nicht sagen, aber als ich wieder zu mir kam, lag ich nicht mehr unter dem Eisbärweibchen, sondern auf einer Trage, und eine ganze Menge Leute blickte auf mich runter. Ich kannte sogar einige, aber eigentlich mag ich sie nicht aufzählen, ich bin mir nämlich gar nicht mehr sicher, wer mir da oben Hilfe leistete. Doch ich hätte schwören können, dass meine Mutter auch da war, und Nói, dessen Gesicht ich noch gar nie gesehen hatte, aber jetzt war er da, mit Gesicht, Pullover und allem. Dagbjört und Sæmundur waren da, Bragi, der mich mit der Pfeife im Mundwinkel und Tränen in den Augen betrachtete. Der Hauswart Halldór war da und blickte ganz vorwurfsvoll. Und Großvater war auch da, jünger, kräftiger, er sagte allen, was zu tun war. Selbst Róbert stand dabei, wenn auch etwas abseits. Er schaute einfach teilnahmslos zu, sein Blick war leer. Er tat mir leid. Vielleicht kannte ich von meinen Rettern gar niemanden, und es waren einfach nur irgendwelche Leute, Menschen, denn wir Menschen sind doch irgendwie alle gleich und gar nicht so verschieden, wie man glaubt. Eigentlich weiß ich nur, was mit mir
passierte, weil man es mir später erzählte, denn ich machte die Augen wieder zu und tauchte ab, denn schlafen ist richtig schön.
Ich wurde mit dem Hubschrauber nach Akureyri ins Krankenhaus geflogen, wo sich meine Mutter nach der Operation persönlich um mich kümmerte. Und als ich dann aus der Narkose aufwachte, war sie an meiner Seite, und sie war glücklich und traurig und stolz und beschämt zugleich, einfach alles zusammen, die ganze Gefühlspalette, wie ein Regenbogen, ich sah es ihr an, ich fühlte es mit ihr, und dann weinte sie so sehr, dass es wirklich peinlich war, denn sie war schließlich eine professionelle Krankenpflegerin, und wie ich da im Bett lag, mit blaugrünem Körper, mit fünf gebrochenen Rippen, die jetzt glücklicherweise nicht mehr in meiner Lunge steckten, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich den bedeutenden Schritt in mein neues Leben gemacht hatte. Und ich lebte noch. Meine Mutter war da und pflegte mich, ich würde wieder gesund werden, und irgendwie fand ich das aufmunternd.
Die Ruhe im Krankenhauszimmer hielt nicht lange an. Meine Mutter sagte mir, dass eine ganze Menge Leute mit mir reden wolle, vor allem Reporter, aber auch Birna wolle sich mit mir unterhalten, und ob ich das auch wolle, obwohl ich bei Birna nicht unbedingt eine Wahl hätte, und ich sagte, dass ich mich mit allen unterhalten würde, solange sie, also meine Mutter, in der Nähe bleibe, was sie mir versprach.
Birna brachte mir eine Packung Dörrfisch. Und sie sah in ihrer Polizeiuniform richtig gut aus. Ihre Lippen waren geschminkt, und ihre Gesichtshaut schimmerte matt. Sie sah jedenfalls sehr gut aus, und ich war verdammt stolz, ihr
Leben gerettet zu haben, auch wenn ich es in dem Moment, als uns der Eisbär gegenüberstand, gar nicht geplant hatte. Ich wollte ja einfach nur, dass niemand gefressen wurde. Aber Birna bestand darauf, dass ich ein Held sei, und sie musste es schließlich wissen, weshalb ich ihr auch glaubte und sehr stolz auf mich selber war. Sie brachte eine Zeitung mit und las mir den Artikel vor, worin alles ziemlich genau beschrieben war. Auch ein Foto des Eisbärenweibchens war zu sehen. Es lag friedlich auf einer Plastikplane auf dem Hubschrauber-Landeplatz in Akureyri, sein Fell blutverschmiert, seine Augen geschlossen. Sechshundertfünfzig Kilogramm schwer. Zweihundertdreißig Zentimeter lang. Ein großes, kräftiges Weibchen. Aber eben tot. Im Hintergrund war der Hubschrauber der Küstenwache zu sehen, und einige uniformierte Leute standen um das Tier herum und grinsten stolz in die Kamera, als hätten sie es selber erlegt.
Mein Name stand auch in der Zeitung, und jetzt begriff ich auch, weshalb die Reporter, die man vor dem Krankenhauszimmer palavern hörte, mit mir ein Interview führen wollten. Ich erlaubte schließlich, die Tür zu öffnen, nachdem mich meine Mutter gekämmt hatte. Birna positionierte sich auf einem Stuhl direkt neben mir, wir berührten uns fast. Da waren Kameras und ganz helle Lichter, denn für Kameras braucht es helles Licht. Ein Strauß voller Mikrophone wurde mir und Birna vors Gesicht gehalten, und es ist das Einzige, woran ich mich erinnere, denn irgendwie war ich total nervös, und ich hatte Schmerzen, obwohl ich von den Schmerzmitteln völlig zugedröhnt war. Aber ich weiß noch, dass die Reporter manchmal lachten und
irgendwie gut drauf waren, also kein Grund zur Sorge. Aber das Ganze war schon ein bisschen viel für mich, und weil ich wahrscheinlich nicht immer ganz bei der Sache war, beantwortete Birna einige Fragen für mich, sie war jetzt also auf meiner Seite, und darüber war ich total froh.
Nachdem die Reporter wieder gegangen waren, bat Birna, ein paar Worte mit mir sprechen zu können, und zwar unter vier Augen, also ohne meine Mutter.
Ich war erschöpft. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich wollte eigentlich nur noch fernsehen. Aber das Gespräch unter vier Augen musste jetzt einfach sein.
»Kalmann minn«,
sagte Birna und seufzte. Sie wollte etwas sagen, aber sie machte nur den Mund auf und dachte noch eine Weile nach, musterte mich dabei. Dann fand sie die Worte: »Kalmann, wird man Róbert jemals wiederfinden?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung.«
»Kalmann«, sagte Birna nun etwas bestimmter. »Sag bitte nein.«
Und darum sagte ich »nein«, und Birna lächelte erleichtert und sagte, ich solle mich bei ihr melden, wenn ich ein Problem hätte, und ich solle so bleiben, wie ich sei, denn es gebe einen Grund, dass ich so sei, wie ich sei, denn sonst wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Und dann, beim Abschied, beugte sie sich zu mir und hielt mich sanft an meinen Schultern fest.
»Wir behalten die Sache für uns, abgemacht?«
»Abgemacht«, sagte ich, denn Birna hatte es nicht gerne, wenn man nur nickte oder den Kopf schüttelte.
»Róbert hat sich das Leben genommen, und du kannst nichts dafür, verstehst du?«
»Ja.«
»Es ist nicht
deine Schuld.«
»Ich weiß.«
»Es wäre doch ungerecht, wenn wir seinetwegen Probleme bekämen, nicht wahr?«
»O ja.«
Birna lächelte zufrieden und küsste mich auf die Stirn. Ich denke, es gibt nur wenige Menschen auf dieser Welt, die von einer Polizistin, die weiß, dass du eine Leiche entsorgt hast, geküsst worden sind.
Bevor Birna die Zimmertür aufmachte, drehte sie sich noch einmal um.
»Die Mauser musst du bei Gelegenheit auch versenken, in Ordnung? Sie hat ihre Pflicht jetzt erfüllt. Sag, dass du sie verloren hast, wenn jemand fragt. Sag, sie sei dir ins Wasser gefallen.«
Ich nickte, aber Birna lächelte:
»Sag ja, Kalmann.«
Also sagte ich »ja«.
»Völlig verrückt eigentlich«, sagte Birna gedankenverloren. »Die Mauser, der Arctic Henge, der Bär, ich meine – völlig verrückt.«
Birna verließ kopfschüttelnd das Zimmer, und ich wunderte mich, dass sie gar nicht nachgefragt hatte, wie ich Róbert hatte verschwinden lassen, und darum hatte ich ihr auch nicht erzählen können, dass ich Bragi begegnet war, als ich die Säge und schwarze Plastiksäcke holen ging, es also einen Augenzeugen gab. Aber ich glaube, Birna wollte sich
gar keine großen Gedanken darüber machen, denn wenn sich einer eine Kugel in den Kopf jagt, ist das vor allem sein Problem. Also knipste ich den Fernseher an und schaute die Wiederholung von The Biggest Loser
. Da sind die Leute so dick, dass man sich gleich schlank fühlt, auch wenn man selber ein wenig dick ist. Die dicken Leute müssen dann in einem Camp wohnen, wo es keine Schokolade und Süßgetränke gibt, und sie müssen von früh bis spät Übungen machen, bis sie schwitzen und manchmal auch weinen, weil sie so erschöpft sind oder sich plötzlich daran erinnern, dass jemand aus der Familie, den sie sehr gemocht haben, gestorben ist, weshalb sie auch so dick geworden sind. Und darum müssen Fitnesstrainer auch gut zuhören können wie Dr. Phil. Wenn die Dicken dann nach ein paar Tagen wieder nach Hause dürfen, futtern sie manchmal gleich wieder Schokolade und Pizza, trinken zwei Liter Cola vor laufender Kamera, und wenn sie wieder zurück ins Camp gehen, schimpft der Trainer mit ihnen, weil sie übers Wochenende zugenommen haben, und zur Strafe müssen sie dann bei Regen und Kälte fünfzig Runden rennen.
Als America’s Funniest Home Videos
im Fernsehen lief, wurde ich von einer Besucherin gestört, die ich nun wirklich nicht erwartet hatte: Dagbjört. Und sie kam ganz alleine. Sie brachte Blumen und eine Zeichnung von ihrer jüngsten Tochter, eine Kinderzeichnung also, und darum sah ich auf der Zeichnung auch nicht so aus wie ich, war aber dank des Cowboyhutes gut zu erkennen. Ich hielt eine Pistole in der Hand und richtete sie auf einen Eisbären, der aber wie ein Pferd aussah, also gar nicht furchteinflößend. Ich wusste dann aber nicht, worüber ich mich mit Dagbjört
unterhalten sollte, denn sie war irgendwie traurig, und ich durfte ihr auch gar nicht erzählen, dass sich ihr Vater mit meiner Pistole umgebracht hatte, schließlich hatte ich ihm versprochen, Dagbjört dieses grausige Bild zu ersparen. Aber sie stellte auch gar keine Fragen, wollte überhaupt nichts von mir wissen, und darum schauten wir uns eine Weile America’s Funniest Home Videos
an, und sie lachte sogar ein paarmal, was ich nicht von ihr erwartet hätte. Ich hätte eigentlich gerne mit ihr gelacht, aber das konnte ich nicht, weil ich sonst wegen den Schmerzen in meiner Brust das Bewusstsein verloren hätte. Am lustigsten finde ich die Missgeschicke, wenn ein Vater mit seinem Kind ein Ballspiel macht, Baseball oder Fußball, das spielt eigentlich keine Rolle. Meistens nimmt dann die Mutter das Video auf. Und man weiß auch immer gleich, was passieren wird: Das Kind wird den Ball nämlich ganz überraschend präzise mit dem Baseballschläger oder der Schuhspitze erwischen, und zack!, fadengerade in die Eier! Der Vater fällt dann jaulend hin, und die Mutter lacht sich krumm. »I got this on video!«
Als es Abendessen gab, verabschiedete sich Dagbjört. Dafür setzte sich meine Mutter zu mir aufs Bett, und wir guckten die Abendnachrichten auf beiden Sendern. Ich war überall zu sehen, gleich von Beginn an, »die Top-Story«, wie mir meine Mutter stolz erklärte, und ich sah nun, dass ich die Sache gar nicht schlecht gemacht hatte. Die Reporter lachten, weil ich ihnen erzählte, wie dunkel es unter dem Eisbären gewesen war, und dass ich, währendem der Bär auf mich zugekommen war, gar nicht überlegt hätte, denn mein Kopf habe keine Zeit gehabt zu denken, weshalb ich
einfach gehandelt hätte, denn manchmal sei es besser, nicht zu viel zu denken. Ich erzählte, dass mir der Bär im Nachhinein sehr leidgetan habe, denn er
sei eine Sie
gewesen und wunderschön obendrauf, und Großvater habe mir doch gesagt, dass man nur Tiere schießen dürfe, die man auch essen werde, worauf ein Reporter einwarf, dass Großvater meine Heldentat bestimmt gutgeheißen hätte, da mich das Eisbärenweibchen hatte fressen wollen, was ich einsah, worauf wieder alle lachten. Danach übernahm Birna das Antworten, denn ich war eine Weile nicht mehr da, dachte wohl an Großvater.
Nach meinem Interview erklärte ein Tierexperte, dass das Eisbärenweibchen mit großer Wahrscheinlichkeit erst tags zuvor an Land gestiegen war, man also fast ausschließen konnte, dass Róbert McKenzie von dem Tier gefressen worden war. Die Suchmannschaften hätten sich nie in Gefahr befunden, obwohl man die Gefahr durchaus hätte ernstnehmen sollen, da im März 1965 ganz in der Nähe von Raufarhöfn sogar zwei Eisbären gesichtet worden waren, es also nie auszuschließen sei.
Dann wurde erneut über den Vermisstenfall gesprochen, und Birna war sogar live im Fernsehstudio zu Gast, sie muss also gleich nach dem Besuch mit dem Flugzeug nach Reykjavík geflogen sein. Und sie klärte die Nation darüber auf, dass sie momentan keine weiteren Auskünfte geben könne, denn es handle sich um eine verstrickte, tragische Angelegenheit, und derjenige, der die Sache am besten erklären könnte, sei wohl leider Róbert. Die Fernsehsprecherin fragte noch, ob organisierte Drogenringe, womöglich aus Osteuropa, Drogen nach Island schafften. Und Birna
wiegte den Kopf ein wenig hin und her, sagte, dass sie auch darüber nicht viele Informationen preisgeben könne, die Ermittlungen dauerten an und seien in enger Zusammenarbeit mit Interpol, doch eine Verbindung bestehe durchaus, das Problem sei real, aber längst nicht einseitig.
Dann zögerte Birna und presste die Lippen zusammen. Und sie schaute ganz kurz in die Kamera, obwohl man das eigentlich gar nicht darf. Dann sagte sie, dass die Drogen in dem Fass, das man in Raufarhöfn gefunden habe, in Island hergestellt worden und darum möglicherweise für den Export bestimmt gewesen waren. Ich glaube, das hätte sie offiziell nicht sagen sollen, denn in den nächsten Tagen wurde sehr viel darüber auf allen Kanälen gesprochen, und es gab auch Razzien in Gewächshäusern und auf Dachböden. Ich glaube, man war etwas verwirrt darüber, dass Isländer Drogen herstellten, und zugleich war man auch ein bisschen stolz, denn die Ware war von sehr guter Qualität.
Plötzlich erinnerte ich mich, wo ich so ein Drogenfass schon mal gesehen hatte: Als ich den Litauern draußen auf dem Meer begegnet war! Nadja und ihrem Freund Darius und allen! Und ich hatte geglaubt, dass die Litauer nur zum Spaß aufs Meer fuhren. Ich vermute, dass sie das Fass mit dem Boot nach draußen fuhren, da an einer verankerten Boje befestigten, damit es Róberts Trawler abholen und ins Ausland bringen konnte. Fast hätte ich etwas gesagt, aber meine Mutter fand, dass es nun reichte, und darum stellte sie den Sender um, und wir schauten eine Quizshow, in der Akranes gegen Kópavogur antrat, aber keine Chance hatte, denn Kópavogur war schon oft Islandmeister geworden. Ich mag isländische Quizshows. Ich versuche immer,
die Fragen zu beantworten, und ich bin ziemlich gut darin, denn in Erdkunde bin ich stark und weiß einiges über wilde Tiere, und darum bin ich manchmal sogar besser als meine Mutter, aber nie besser als Kópavogur.
Etwa zwei Wochen nach der Begegnung mit dem Eisbärenweibchen wurde ich aus dem Spital entlassen. Ich hatte also Róberts Beerdigung verpasst, worüber ich eigentlich froh war. Der Arzt lobte mich. Ich heile schnell, sagte er, ich sei ein kräftiger Bursche und er sei überzeugt, dass mir der Verzehr von Gammelhai Superkräfte beschere. Das sagte er wirklich. Ein Arzt! Er muss es schließlich wissen.
Meine Mutter hatte den Tag freigenommen. Erst besuchten wir Großvater, und ich erzählte ihm von der Begegnung mit dem Eisbärenweibchen, doch er war schlecht gelaunt und regte sich auf. Dann fuhren wir weiter nach Raufarhöfn, wo wir am späten Nachmittag eintrafen. Ich freute mich schon auf einen gemütlichen Abend in meinem Häuschen, wurde aber ganz schön überrascht. Meine Mutter fuhr nämlich direkt zum Gemeindehaus. Sie sagte, ich solle ihr in den Saal folgen, und weil sie so schelmisch lächelte, hatte ich eine Vorahnung, und darum war ich nicht ganz so überrascht, als ich im Saal die gesamte Bewohnerschaft von Raufarhöfn vorfand – minus Magga und Róbert natürlich. Als ich den Saal betrat, ging das Gejubel los, und Schafbauer Magnús spielte auch gleich sein Akkordeon, und ich musste dann prustend lachen, was wegen meiner Verletzung sehr schmerzhaft war, aber ich konnte trotzdem nicht aufhören, bis mir die Tränen kamen und ich nur noch jaulte, und ich sah einige unter den Leuten, die auch Tränen
in den Augen hatten, obwohl ihre Rippen gar nicht gebrochen waren.
So ist es, wenn man ein Held ist: Man muss allen die Hand schütteln. Allen! Manchen Kindern sogar zweimal! Bis einem die Finger abfallen! Ich hatte gar keine Zeit, den Dörrfisch, das Roggenbrot, das geräucherte Lammfleisch, den Kuchen oder den Kaffee zu genießen. Hafdís hielt eine Rede, stand oben auf der Bühne, und ich musste dann neben ihr stehen, guckte wahrscheinlich wie der hinterletzte Dorftrottel, weil ich so verlegen war. Hafdís drückte mich an sich – was höllisch weh tat – und knutsche mich vor allen auf die Wange. Tosender Applaus und Gepfeife! Wie peinlich. Hafdís kürte mich kurzerhand zum Ehrenbürger von Raufarhöfn. Ja wirklich! Ich bekam sogar ein Zertifikat, es steht also schwarz auf weiß. Bragi machte mit seinem alten Fotoapparat ein paar Bilder von uns, sagte: »Jetzt lach mal, Kalmann!«, dabei grinste ich doch schon, so gut es eben ging, denn lachen konnte ich fast nicht, aber Bragi lachte auch, und tags darauf konnte man mich in der Zeitung mit schmerzverzerrtem Gesicht lachen sehen, wenn auch nicht auf der Titelseite, aber gleich auf der nächsten.
Berühmtsein macht müde. Letztendlich war ich froh, mich verabschieden zu können. Meine Mutter, die es plötzlich auch eilig hatte wegzukommen, machte mir den Weg frei. Die Schmerzen in meiner Brust erinnerten mich daran, dass ich längst nicht geheilt war.
Wir blieben aber nicht in Raufarhöfn, sondern fuhren wieder nach Akureyri, wir saßen also fast den ganzen Tag im Auto, und wir unterhielten uns auch gar nicht, sondern fuhren einfach, und weil meine Mutter am Steuer saß, war
ich einfach ganz glücklich. Das Zertifikat in den Händen, schaute ich aus dem Fenster und genoss es, Ehrenbürger zu sein, und ich merkte auch gar nicht, dass ich einschlief, denn meine Mutter weckte mich erst, als wir schon in Akureyri waren. Zur Feier des Tages aßen wir in einem richtigen Restaurant einen Hamburger und gingen dann ins Kino, obwohl es schon später Abend war. Wir schafften ganz knapp die Zehn-Uhr-Vorstellung, doch kaum hatte der Film begonnen, begann meine Mutter im Sitz neben mir zu schnarchen, weshalb ich versuchte, sie zu wecken, damit sie den Film nicht verpasste, doch sie ließ sich nicht wecken, aber sie bettete ihren Kopf an meine Schulter, und darum musste ich dann den ganzen Film lang stillsitzen, damit sie nicht vom Stuhl fiel. Ich weckte sie dann erst wieder, als der Film zu Ende war.
Ich übernachtete in der kleinen Wohnung meiner Mutter. Sie hatte ihr Zimmer hergerichtet und ihr Gestell mit den Eulenskulpturen geräumt, denn ich sollte nun bei ihr leben, wenn auch nur vorübergehend. Meine Mutter machte es sich auf der Schlafcouch in der kleinen Wohnstube gemütlich, so gut es eben ging.
Aber es gefiel mir gar nicht gut bei ihr, denn ein fast vierunddreißigjähriger Sohn sollte nicht bei seiner Mutter leben. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Das ist in uns drin. Das ist Erwachsensein.
Die folgenden Tage waren stinklangweilig. Meinen vierunddreißigsten Geburtstag in der Wohnung meiner Mutter zu feiern war irgendwie auch nicht so toll. Wegen meiner Verletzung musste ich meistens stillsitzen. Und ich vermisste mein kleines Häuschen. Meine Mutter konnte
mich schließlich überreden, vorübergehend in eine Wohngemeinschaft in Akureyri zu ziehen, und da gefiel es mir erstaunlicherweise auf Anhieb, denn auch meine Mitbewohner schauten gerne Quizshows, aßen gerne Pizza und waren nicht ganz so ordentlich wie meine Mutter. Also kein Grund zur Sorge.
Tja. Da bin ich jetzt. Mitten in meinem neuen Leben. Und da, in unserer Wohngemeinschaft, gibt es eine junge Frau, die Perla heißt. Zuerst gefiel sie mir gar nicht, denn ich finde, eine Frau sollte nicht schwerer sein als ihr Mann. Ich glaube nämlich nicht, dass ich stark genug wäre, sie auf meinen Armen zu tragen, und das muss man können, wenn man heiraten will. Aber Perla ist wirklich nett, gut gelaunt und lustig. Sie hat sehr schöne Haare und eine Lernbehinderung. Sie sagt, ich sei ein Griesgram und sie werde mir das Lachen schon noch beibringen. Dabei bin ich gar kein Griesgram, und ich lache eigentlich oft, aber ich bin eben scheu, vor allem, wenn ich jemanden noch nicht so gut kenne, und dann blicke ich eben ernst, aber irgendwie gefällt mir die Rolle des Griesgrams, schließlich habe ich einiges erlebt, und vielleicht hat sie auch recht. Vielleicht habe ich mich verändert. Ich korrigiere sie manchmal trotzdem: »Ich bin nachdenklich«, sage ich. »Ich habe einiges erlebt, weißt du?«
Perla ist wirklich nett zu mir, und sie schminkt sich wegen mir. Sie hat mir jetzt schon zwei Mal Kekse gebacken, sie in einem schönen Säcklein verpackt und mich damit überrascht. Und sie hat mich auf Facebook befreundet und postet jeden Tag einen lustigen Spruch auf meine Wand. Das finde ich nett, denn es steckt auch Weisheit in den
Sprüchen drin, und so ist auch Perla. Einmal stand da: Dein Gesicht wurde dir geschenkt. Lächeln musst du selber!
Und ein andermal: Deine Liebe steht dir manchmal näher, als du denkst.
Das gibt einem zu denken, nicht wahr? Manchmal unterhalten wir uns auf Messenger, obwohl unsere Zimmer nebeneinander sind und wir uns fast durch die Wand hören. Das ist lustig, und darum vermisse ich Nói überhaupt nicht. Er hat sich noch immer nicht gemeldet, weil er vielleicht gestorben ist.
Ich bin nur während fünf Tagen und vier Nächten in Akureyri. Drei Nächte verbringe ich in Raufarhöfn, meistens von Dienstag bis Freitag. Cowboyhut und Sheriffstern habe ich da im Schrank verstaut. Es sind nur Utensilien, die ich nicht mehr brauche. Wenn mich mein Vater eines Tages besuchen wird, werde ich ihm die Sachen zurückgeben. Denn sie gehören zu meinem alten Leben. Aber ich bin noch immer Haifischfänger. So was legt man nicht einfach ab. Jemand muss schließlich den zweitbesten Gammelhai in ganz Island machen! Ich werde darum von verschiedenen Leuten nach Raufarhöfn gefahren, und weil ich so berühmt bin, lässt sich immer jemand finden. Man hat auf Facebook eine Gruppe gemacht. Sie heißt: Fahrt Kalmann zu seinen Haien!
Und da kann ich schreiben, wann ich fahre, und dann kommentieren diejenigen, die dann nach Húsavík oder Raufarhöfn fahren, und bis jetzt hat sich noch immer jemand finden lassen, zum Beispiel Sæmundur oder seine Frau Sigga. Bragi hat mich einmal gefahren, obwohl er gar nicht nach Akureyri musste. Perla hat mich gefragt, ob ich sie bald nach Raufarhöfn mitnehmen werde, und ich habe auch gleich ja gesagt, aber jetzt müssen wir erst noch ihren
Vormund um Erlaubnis bitten. Ich stelle mir vor, wie es sein wird. Ich könnte auf der Couch schlafen und Perla oben in meinem Bett. Oder vielleicht würden wir beide auf der Couch vor dem Fernseher einschlafen, nebeneinander. Körper an Körper. Und vielleicht haben wir dann richtigen Sex!
Als ich zum ersten Mal seit dem Vorfall wieder aufs Meer hinausfuhr, noch bevor ich Perla kennenlernte, war es windig, aber ziemlich warm, fast sommerlich, doch der Wind war gegen mich, weshalb ich fast drei Stunden unterwegs war, bis ich draußen bei meiner Leine war.
Ich hatte Pech. An einem der Haken hing zwar ein Hai, der aber längst tot und schon ziemlich verwest war. Die Fische hatten ihn auch schon angeknabbert, an einer Stelle sogar bis auf die Knochen. Er war selber zum Köder geworden. Also machte ich ihn vom Haken und ließ ihn zurück ins Meer gleiten. Nach fünfhundertzwölf Jahren futtern war nun er an der Reihe. Ich kurbelte den Rest der Leine hoch und warf die wenigen abgenagten Köderstücke, die noch an den Haken waren, den Möwen zu. Dann steckte ich meine neuen Köderstücke an die Haken, zwei, drei Stücke aufs Mal, und ließ sie in die Tiefe gleiten. Es war ein seltsamer Anblick, Róberts linke Hand im Dunkel des Meeres verschwinden zu sehen, als winkte er mir ein letztes Mal zu. Bless, Róbert McKenzie! Ich war erleichtert. Das letzte Stück Róbert war nun im Meer versenkt. Meine Mauser schmiss ich ihm gleich hinterher. Da musste ich gar nicht lange überlegen. Ich hielt also alle meine Versprechen. Auf mich war Verlass. Róbert war Fischfutter, und Birna
brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass man den König von Raufarhöfn jemals finden würde. Es gab also keinen Grund zur Sorge. Ich war glücklich und zuversichtlich, dass ich nächste Woche einen Hai am Haken haben würde, denn die Grönlandhaie schienen Róbert zu mögen.
Die ganze Arbeit dauerte ein wenig länger, weil ich keine schnellen Bewegungen machen konnte, und der Wind trieb mich auch immer wieder ab, und so war ich erst am Nachmittag wieder zurück im Hafen. Sæmundur wartete schon mit dem Gabelstapler, ging davon aus, dass ich etwas gefangen hatte, weil ich so lange draußen gewesen war. Dabei hatte ich ja auch etwas gefangen! Ich erzählte ihm von dem vergammelten Hai am Haken, und wir lachten, denn ich hätte ihn gleich so als Gammelhai verkaufen können, wie Sæmundur meinte. Das Lachen tat weh, und vielleicht hatte ich mich zu früh aufs Meer gewagt, denn die Schmerzen in meiner Brust brachten mich fast um, weshalb mir Sæmundur half, zurück auf den Pier zu klettern. Und irgendwie glitt ich auf den feuchten Planken ein wenig aus und wäre fast zurück ins Boot gefallen, aber Sæmundur kriegte mich zu fassen, hielt mich fest und zog mich auf den Pier, so dass ich in seinen Armen landete. Aber Sæmundur ließ mich gar nicht mehr los, schlang seine Arme um mich, drückte mich fest an sich und lachte.