23
Wal
Am nächsten Tag fuhr mich Hafdís nach Húsavík. Ich war noch nie so lange mit ihr alleine gewesen, aber sie war ganz nett, erzählte mir einiges über sich und Raufarhöfn. Ich saß viel lieber mit ihr im Auto als mit Magga. Hafdís konnte nämlich auch mal nichts sagen.
In Húsavík besuchte ich natürlich sofort Großvater. Ich hatte einige Stunden totzuschlagen, denn meine Mutter würde auch kommen und mich dann zurück nach Akureyri fahren.
In Húsavík war es nicht so windig, aber ziemlich sonnig. Vor dem Pflegeheim stand Lísa und wartete auf den Bus, der nicht kommen würde, winkte mir kurz zu, hielt sich aber sogleich wieder an ihrer Handtasche fest. Ich fragte mich, ob sie wirklich einsteigen würde, wenn plötzlich ein Bus angefahren käme.
Ich fand Großvater auf seinem kleinen Balkon. Er saß auf einem Stuhl und war dick eingepackt, obwohl es doch recht warm war. Der Sommer konnte eigentlich nicht mehr weit weg sein, aber die Angestellten sind da vorsichtig. Die wissen, dass eine Erkältung alte Menschen leicht zur Strecke bringen kann. Großvaters Wollmütze saß etwas schief auf seinem Kopf. Sie war ihm irgendwie runtergerutscht, so dass sein rechtes Auge fast verdeckt war. Er sah aus wie ein alter Pirat, aber er schien es nicht bemerkt zu haben. Er hob sein Kinn und blinzelte unter der Mütze hervor.
Ich setzte mich zu ihm und sagte Hallo. Großvater schaute mich nur kurz an und fuhr auch gleich fort, als hätten wir uns schon eine Weile unterhalten.
»Siehst du? Jetzt haben sie ihn gefunden«, sagte er und zeigte mit krummem Finger auf das grünblaue Meer hinaus.
Ich schaute an seinem Finger entlang und bemerkte zwei Walbeobachtungsboote auf dem Wasser, etwa fünf Seemeilen entfernt.
»Was meinst du?«, fragte ich ihn.
»Weil sie jetzt stillstehen. Schon seit einer Weile. Sie haben ihn gefunden.«
»Wen?«
Großvater schaute mich an, als sei ich begriffsstutzig.
»Den Großen!«, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin gestern draußen bei der Leine gewesen, einer hat angebissen, aber er ist schon verfault gewesen.«
»Eben«, sagte Großvater und nickte, als hätte er es schon vermutet, runzelte dann aber die Stirn und schaute mich nochmals zweifelnd an. Dann wandte er sich wieder »dem Großen« zu, saß stumm und reglos in seinem Rollstuhl und starrte aufs Meer. Er hatte wohl schon wieder vergessen, wer ich war oder was sich kürzlich in Raufarhöfn zugetragen hatte. Ich hätte es ihm also erzählen können, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Großvater im Bilde war, auch wenn er es nicht wusste. Früher hatte er immer auf alles eine gute Antwort parat. Und ich denke, es kommt der Moment im Leben, wo man nichts Neues mehr wissen muss, weil man einfach alles schon mal gehört hat. Man hat begriffen, wie das Leben funktioniert, und darum hat man einfach genug gehört. Ich glaube, Großvater war an diesem Punkt angekommen.
Darum saß ich still neben ihm, Großvater, der zwar keine Ahnung hatte, wer ich war und was ich erlebt hatte, aber alles wusste. Vielleicht wusste er es nicht in seinem Kopf, aber sein Körper war bestens informiert. Familie, die sitzt nämlich überall, in den Haaren, in den Fingern, in der Nasenspitze, in den Zehen und im Herzen. Dann fühlt man sich einfach wohl. Großvater wusste ganz genau, wer ich war, auch wenn er es vergessen hatte. Ich war sein Junge, sein Blut, aus demselben Holz geschnitzt. Und darum brauchte ich auch nichts zu sagen.
Eine Pflegefrau fragte uns, ob wir es hier draußen gemütlich hätten und ob uns nicht zu kalt wäre. Ich schüttelte den Kopf, und Großvater gab keine Antwort, aber er hob ganz langsam seinen Arm und zeigte mit krummem Finger aufs Meer hinaus.
»Sie haben ihn gefunden«, sagte er. »Den Großen.«
»Wie schön!«, sagte die Pflegefrau, rückte Großvater die Wollmütze gerade und zwinkerte mir zu. Ich glaube, sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
Erst als sie wieder gegangen war, ließ Großvater seinen Arm in den Schoß sinken. Ich zückte mein Klappmesser, fischte ein Stück Gammelhai aus meiner Plastikdose und schnitt es in kleine Stücke. Großvater muss es gleich gerochen haben, denn er starrte nun nicht mehr zu den Walbeobachtungsbooten hinaus, sondern schaute mir zu, wie ich den Gammelhai zerschnitt, und kaum war ich damit fertig, streckte er seine zittrige Hand aus, und ich gab ihm gleich drei Stücke, die er sich umständlich in den Mund steckte. Er kaute und seufzte zufrieden, nickte und sagte:
»Kalmann minn, dein Gammelhai ist noch besser als meiner.«
Und so saßen wir eigentlich ziemlich lange auf dem Balkon, obwohl es doch wieder kalt geworden war, mampften Gammelhai, warteten auf meine Mutter und schauten den Walbeobachtungsbooten zu. Aber aus dieser Entfernung konnten wir den Wal natürlich nicht sehen, denn so groß, wie man denkt, sind die gar nicht immer. Ein Riesenhai kann doppelt so groß wie ein Zwergwal sein. Das ist die Vielfalt. Das ist die Natur.
Ende