5
Weit wie das Meer Gottes
»An jenem Tag warteten zahlreiche Familien vor der Festung und bereiteten sich darauf vor zu trauern. Sie konnten
nicht ahnen, dass sie zu Akteuren auf der Geschichtsbühne würden, einige von ihnen mit sehr viel bedeutenderen Rollen, als sie je vermutet hätten.«
Die Frühgeschichte Tearlings, wie Merwinian sie erzählt
inige Stunden nach der Mittagszeit erreichten sie Neulondon. Kelsea war erschöpft von der Hitze, vom mörderischen Gewicht ihrer Rüstung und vom Schlafmangel, doch als sie die Brücke überquerten, fühlte sie sich angesichts der schieren Größe der Stadt wie wachgerüttelt.
Sie mussten einen Zoll entrichten, den zwei zu beiden Seiten eines Tors postierte Männer entgegennahmen. Mace gelang das bewundernswerte Kunststück, einen Penny aus seinem Umhang zu fischen, den Torwächter zu bezahlen und gleichzeitig sein Gesicht zu verdecken. Kelsea betrachtete die Brücke – ein technisches Wunderwerk, das mindestens fünfundvierzig Meter lang war, aus einer Reihe grauer Granitblöcke bestand und von sechs gigantischen Pfeilern gestützt wurde, die aus den Fluten des Caddell emporragten. Kelsea wusste, dass der Fluss zunächst dem äußeren Stadtrand folgte, sich dann weitere achtzig Kilometer Richtung Südwesten schlängelte, bis er schließlich als Wasserfall über die Klippen stürzte und in den Golf von Tearling mündete. Unter der Brücke war das Wasser von einem tiefen Azurblau.
»Schaut nicht so auffällig hin«, murmelte Mace. Kelsea fuhr herum und blickte gehorsam wieder geradeaus.
Neulondon war ursprünglich eine Kleinstadt gewesen, erbaut von den ersten Siedlern im Vorland des Ricegebirges. Nachdem sie sich langsam von Hügel zu Hügel ausgedehnt hatte, war sie irgendwann zur Hauptstadt Tearlings avanciert, die sich heute über das gesamte Bergvorland erstreckte. Ihre Gebäude und Straßen waren in die sanft ansteigende und abfallende Topographie modelliert. Aus der Stadtmitte erhob sich die Festung wie ein gigantischer Obelisk aus grauem Stein, der die umliegenden Häuser um ein Vielfaches überragte. In Kelseas Vorstellung war sie vollkommen symmetrisch gewesen, doch der Komplex hier hatte die Form einer Stufenpyramide, mit Zinnen und Balkonen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen befanden. Es gab Nischen und Zwischenräume, in denen sich gewiss so einiges verbergen ließ. Gebaut wurde sie während der Herrschaft von Jonathan dem Guten, dem zweiten König Tearlings. Den Namen des Baumeisters kannte niemand, doch er musste wahrlich eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein.
Der Rest der Stadt wirkte weniger prunkvoll. Die meisten Gebäude bestanden aus minderwertigem Holz und neigten sich willkürlich in alle erdenklichen Richtungen. Ein einziges Feuer würde reichen, dachte Kelsea, um die halbe Stadt abbrennen zu lassen.
In der Nähe der Festung, in ungefähr zwei Kilometer Entfernung, befand sich ein weißer, vielleicht halb so hoher Turm, auf dessen Spitze ein goldenes Kreuz aufragte. Das musste der Arvath sein, der Sitz von Gottes Kirche. Auch wenn der Regent nachgegeben und in eine zusätzliche Hauskapelle innerhalb der Festungsmauern eingewilligt hatte, schien es nur natürlich, dass sich der Arvath so nah an der Festung befand. Kelsea hätte nicht sagen können, ob das Kreuz an der Spitze aus echtem Gold war oder nur vergoldet, in jedem Fall glänzte es so hell im Sonnenlicht, dass sie die Augen zukneifen musste.
William Tear hatte die Ausübung jeglicher Religion in seinem Utopia verboten. Carlin hatte erzählt, dass er damals sogar einen Mann über Bord seines Flaggschiffs geworfen hatte, weil er draufgekommen war, dass dieser heimlich missionierte. Doch inzwischen hatte sich das Christentum wieder durchgesetzt und war stärker denn je. Kelsea wusste nicht, welche Haltung sie der Kirche gegenüber eingenommen hätte, wäre sie von Carlins Atheismus nicht so geprägt worden. Jetzt war es zu spät. Das Misstrauen, das Kelsea dem goldenen Kreuz entgegenbrachte, war etwas Instinkthaftes, Tiefsitzendes, wobei ihr natürlich klar war, dass sie früher oder später einen Kompromiss würde eingehen müssen. Nur waren Kompromisse selbst bei kleineren Streitigkeiten im Cottage nie ihre Stärke gewesen.
Sie erreichten das Ende der überfüllten Brücke und drangen nun in das Stadtgebiet vor. Mace ritt schweigend neben ihr her und bedeutete ihr nur von Zeit zu Zeit, die Richtung zu ändern. Noch immer waren beide zur Gänze verhüllt und hatten sich die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Mace glaubte, alle Wege zur Festung seien bewacht. Kelsea registrierte seine Wachsamkeit und dass er hin und wieder Anstalten machte, sie vor irgendetwas abzuschirmen, das ihn aufgeschreckt hatte.
Kelsea nahm nichts Außergewöhnliches wahr. Andererseits: Woher sollte sie wissen, was gewöhnlich war? Stände säumten die Straßen, deren Händler schlichtweg alles verkauften, einfache Früchte und Gemüse wie auch exotische Vögel. Ein Markt unter freiem Himmel, dachte Kelsea. Das Gedränge der Menschen und Buden wurde immer dichter, je weiter sie und Mace ihre Pferde in den Stadtkern hineinmanövrierten. Als sie dort ankamen, stach ihr die Vielzahl von Geschäften ins Auge, von denen jedes mit einem fröhlich bunten Aushang versehen war – ein Schneider, ein Bäcker, ein Heiler, ein Friseur, ja, sogar ein Hutgeschäft! Was für eine Art Eitelkeit musste hier herrschen, die so einen Laden florieren ließ?
Die schiere Masse an Leuten überraschte sie. Nach Jahren der Einsamkeit mit Barty und Carlin fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass sich so viele Leute an ein und demselben Ort aufhalten konnten. Sie waren überall und dabei so verschieden – groß, klein, alt, jung, dunkelhaarig oder blond, dünn und dick. In den letzten Tagen hatte Kelsea viele neue Menschen kennengelernt und sich dennoch nie klargemacht, was ein Gesicht alles ausdrücken konnte. Da war ein Mann mit einer langen, gebogenen Nase fast wie ein Vogelschnabel und eine Frau mit wellig blondem Haar. Es funkelte und schien das Sonnenlicht tausendfach zu reflektieren. Alles war so übertrieben hell, dass ihr die Augen tränten. Und die Geräusche erst! Überall um sie herum das Getöse unzähliger, gleichzeitig aufbrandender Stimmen. Nie zuvor hatte sie etwas Derartiges gehört. Von Zeit zu Zeit drangen einzelne Stimmen in ihr Bewusstsein: Verkäufer, die ihre Waren anpriesen, oder Leute, die einander über den Trubel hinweg von der anderen Straßenseite her grüßten. Doch die Stimmen waren nichts im Vergleich zum tosenden Lärm der Menge – eine Attacke auf Kelseas Ohren, eine physische Gewalt, und fast drohte ihr das Trommelfell zu zerreißen. Und dennoch empfand sie all das Chaos als seltsam tröstlich.
Als sie um eine Ecke bogen, erregte ein Straßenkünstler ihre Aufmerksamkeit, der gerade dabei war, eine Rose in eine Vase zu stellen. Wie aus dem Nichts zauberte er ein identisches Gefäß herbei, um die Rose verschwinden und gleich darauf in der anderen Vase wieder auftauchen zu lassen. Kelsea hielt ihr Pferd an und sah ihm zu. Der Magier zauberte die Vasen samt Rose weg, griff sich in den Mund und förderte ein quicklebendiges, schneeweißes Kätzchen zutage, das sich in seiner Hand wand, während die Menge applaudierte. Kelsea lächelte verzückt, als er es einem kleinen Mädchen aus dem Publikum schenkte, das aufgeregt kreischte.
Statt mit Magie war der Mann wahrscheinlich einfach nur mit einer außergewöhnlichen Geschicklichkeit gesegnet. Sie konnte wirklich keinen Patzer entdecken, der ihm bei der wundersamen Verwandlung seiner Objekte unterlaufen wäre.
»Hier wartet Gefahr auf uns, Lady«, murmelte Mace.
»Was für eine Gefahr?«
»Keine Ahnung, es ist nur ein Gefühl. Aber für gewöhnlich trügt mich mein Gefühl bei so etwas nicht.«
Kelsea gab ihrem Pferd die Sporen. »Der Magier, Lazarus. Merkt ihn Euch für mich.«
»Lady.«
Je weiter der Tag voranschritt, desto mehr griffen Mace‘ Befürchtungen auf Kelsea über. Inzwischen waren die Menschenmassen nicht mehr so neu für sie, doch wo immer sie auch hinsah, starrte jemand sie an. Sie fühlte sich mehr und mehr wie eine Gejagte und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihre Reise bald enden möge. Mace hatte zweifellos die schlauste Route gewählt, doch sie sehnte sich nach dem offenen, weiten Land, wo Bedrohungen auf einen fairen Kampf hinausliefen.
Obwohl, sie wusste ja gar nicht, wie man kämpfte.
Obwohl Neulondon wie ein Labyrinth anmutete, gab es offensichtlich einige Viertel, die besser waren als andere. Die reicheren Gegenden hatten gepflegte Straßen, gut angezogene Leute und sogar ein paar Backsteinhäuser mit Glasfenstern. In anderen drängten sich hingegen fensterlose Gebäude dicht aneinander, vor deren Fassaden hinterhältig aussehendes Volk herumlungerte. Ab und an waren Kelsea und Mace gezwungen, durch eine stinkende Wolke zu reiten, die darauf schließen ließ, dass die Häuser nur über mangelhafte oder gar keine Aborte verfügten.
Und wir haben erst Februar, dachte Kelsea angewidert. Wie musste es hier erst im Hochsommer stinken?
Auf halbem Weg durch einen besonders heruntergekommenen Stadtteil begriff sie, dass sie sich in einem Rotlichtviertel befand. Die Straße war so eng, dass die Bezeichnung Gasse treffender gewesen wäre. Die Häuser bestanden allesamt aus einem billigen Holz, das Kelsea nicht kannte, und viele von ihnen neigten sich extrem zur Seite – die Tatsache, dass sie überhaupt noch standen, war schon ein Wunder. Während sie weiterritten, hörte sie vereinzelte Schreie und das Bersten von Gegenständen. Die Luft war erfüllt von einem Lachen, einem eisigen Lachen, das sie erschauern ließ.
Ärmlich gekleidete Frauen tauchten in verzogenen, krummen Türrahmen auf und lehnten an Holzwänden. Ebenso hilflos wie fasziniert starrte Kelsea im Schutz ihrer Kapuze zu ihnen hinüber. Ein undefinierbares Elend haftete den Prostituierten an, etwas, das man nicht in Worte fassen konnte. Die Qualität ihrer Kleidung war es nicht, auch nicht der Schnitt, obwohl sie beträchtlich viel Haut zeigten. Vielmehr war es etwas in ihren Augen, selbst in den Augen der korpulentesten unter ihnen, etwas, das ihre Gesichter zu verzehren schien. Junge wie alte wirkten verlebt, und viele schienen Narben zu haben. Kelsea mochte sich nicht vorstellen, was sie für ein Leben führten, doch sie konnte nicht anders.
Ich werde dieses gesamte Viertel schließen, dachte sie. Ich werde es schließen und ihnen eine richtige Arbeit geben.
In ihrem Kopf meldete sich Carlins Stimme: Ach, und willst du ihnen vielleicht auch die Länge ihrer Kleider vorschreiben? Und Romane verbieten, die dir zu pornographisch vorkommen?
Da gibt es einen Unterschied.
Nein, den gibt es nicht. Sittengesetze sind und bleiben Sittengesetze. Wenn du den Menschen Moral vorschreiben willst, dann geh in den Arvath.
Mace dirigierte sie nach links zwischen zwei Gebäuden hindurch. Kelsea war erleichtert, als sie kurz darauf auf einem breiten Boulevard anlangten, den hübsche Geschäfte säumten. Das graue Massiv der Festung rückte näher und versperrte die Sicht auf die umliegenden Berge und einen weiten Teil des Himmels. Die Straße war voller Menschen. Erneut wurden Kelsea und Mace von der Menge eingeschlossen und mussten sich ihrem Tempo anpassen. Kelsea fühlte sich unwohl und irgendwie ausgeliefert, trotz ihres Umhangs und der schützenden Kapuze. Auch wenn niemand wusste, wie sie aussah, musste immerhin Mace an jeder Ecke mit einem bekannten Gesicht rechnen. Er selbst dachte wohl ähnlich, denn er gab seinem Hengst die Sporen und drängte die anderen Reiter und Fußgänger rücksichtslos zur Seite, bis sich ein schmaler Weg vor ihm auftat. Links und rechts murrten die Leute.
»Geradeaus«, murmelte er. »So schnell wir können.«
Trotzdem kamen sie nur langsam voran. Rake, der die ganze Reise über folgsam gewesen war, begann sich Kelseas Anweisungen zu widersetzen. Es war schon anstrengend genug, den Hengst unter Kontrolle zu halten, und dazu kam noch das Gewicht von Pens Rüstung. Schweiß rann ihr in dicken Tropfen über Nacken und Rücken. Mace warf immer häufiger wilde Blicke über seine Schulter. Während sie sich langsam der Festung näherten, schloss sich die Menge wieder dichter um sie.
»Können wir nicht einen anderen Weg nehmen?«
»Es gibt keinen«, erwiderte Mace, der sein Pferd mit nur einer Hand lenkte, während die andere auf seinem Schwert ruhte. »Wir haben keine Zeit mehr, Lady. Treibt Euer Pferd an, es ist nicht mehr weit.«
In den nächsten Minuten kämpfte Kelsea gegen eine drohende Ohnmacht. Die späte Nachmittagssonne knallte unbarmherzig auf ihren dunklen Umhang, und das erstickende Engegefühl in der Menge verschaffte ihr erst recht keine Erleichterung. Zweimal schwankte sie in ihrem Sattel und konnte sich nur halten, weil Mace sie beherzt an der Schulter packte.
Endlich mündete der Boulevard auf einen weiten, um die Festung und ihren Graben herumführenden Rasen. Angesichts des Ortes spürte Kelsea eine atavistische Begeisterung in sich aufsteigen. Hier also war die Streitmacht der Mort mit ihren Belagerungsmaschinen in Stellung gegangen, um die Mauern zu durchbrechen, als man sie in letzter Minute zurückbeordert hatte. Der Festungsrasen fiel gemächlich ab. Beinahe direkt unter Kelsea führte eine breite Steinbrücke über das Wasser zum Tor der Festung. Zwei Reihen von Wachen waren in gleichmäßigen Abständen zu beiden Seiten der Brücke positioniert. Der graue Monolith der Festung selbst ragte hoch über Kelsea auf, und als sie zu seiner Spitze hinaufsah, musste sie rasch wieder den Kopf senken, da es ein Gefühl des Schwindels auslöste.
Überall auf der Rasenfläche standen Leute herum, und Kelseas erste Reaktion war Überraschung: Hätte ihre Ankunft nicht ein Geheimnis bleiben sollen? Erwachsene, Kinder und sogar ein paar Alte strömten wie Wasser nach unten in Richtung Graben. Dieser Moment war so anders, als sie ihn sich in ihren Tagträumen ausgemalt hatte. Wo waren die jubelnden Menschen, wo die durch die Luft fliegenden Blumen? Einige weinten, allerdings keine Freudentränen, wie Kelsea es sich vorgestellt hatte. Genau wie die Bauern der Almontebene sahen auch diese Leute aus, als könnten sie mehrere Hundert ordentliche Mahlzeiten vertragen, und ihre Kleidung bestand aus derselben dunklen, formlosen Wolle. Das Elend hatte sich tief in ihre Gesichter gegraben. Kelsea fühlte eine gewaltige Woge der Angst in sich aufbranden. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.
Noch einmal wanderten ihre Blicke über den Festungsrasen, und sie begriff, dass, während die meisten Leute ziellos herumliefen, sich andere in langen, geraden Schlangen, die bis an den Rand des Grabens heranreichten, aufgereiht hatten. Als die Menge sich teilte, sah Kelsea, dass mehrere Tische dort aufgestellt waren. Dahinter dunkelblau gekleidete Männer, wahrscheinlich Beamte. Kelsea fühlte sich erleichtert, aber auch ein kleines bisschen enttäuscht. Die Leute waren also gar nicht ihretwegen gekommen. Die Schlangen schienen endlos und bewegten sich kein Stück. Die gesamte Menschenmenge schien zu warten.
Aber worauf?
Sie wandte sich an Mace, der den Rasen scharf im Auge behielt und den Griff seines Schwerts fester umklammerte. »Lazarus, was tun all die Menschen hier?«
Er antwortete ihr weder, noch blickte er sie an. Eine eisige Schlinge legte sich um ihr Herz. Wieder tat sich eine Öffnung in der Menge auf, sodass Kelsea einen Blick auf weitere Einzelheiten erhaschte, nämlich auf irgendwelche Vorrichtungen aus Metall. Um besser sehen zu können, richtete sie sich in ihren Steigbügeln auf. Das da unten waren mehrere, ungefähr drei Meter hohe, rechteckige Kisten mit Decken und Böden aus Holz sowie metallenen Seitenwänden. Neun davon standen in einer Reihe, die über den gesamten Rasen hinweg bis zur Festung reichte. Kelsea kniff die Augen zusammen (sie hatte noch nie besonders gut gesehen). Genaugenommen bestanden die Wände aus Metallgittern. Plötzlich war es, als entglitte ihr die Zeit und sie würde in die Vergangenheit zurückversetzt. Vor ihrem inneren Auge erschien Barty, der Drähte durch Löcher in geschmirgeltem Holz zog, und sie hörte seine Stimme, als würde er direkt neben ihr stehen: »Kel, wir müssen den Draht so fest ziehen, dass uns der Hase nicht entkommt, aber ersticken soll der arme kleine Bastard nicht. Die Menschen müssen Fallen stellen, um zu überleben, aber im Idealfall macht man es so, dass das Tier dabei so wenig wie möglich leidet.«
Noch einmal ließ Kelsea einen prüfenden Blick über die aufgereihten Kisten schweifen, als ihr Innerstes zu Eis gefror.
Keine Kisten. Käfige.
Sie packte Mace am Arm, ohne an seine Wunden zu denken, die sich unter seinem Umhang verbargen. »Lazarus.« Ihre Stimme klang nicht wie ihre eigene. »Sagt mir, was hier vor sich geht. Sofort.«
Endlich sah er sie an. Der düstere Ausdruck auf seinem Gesicht genügte, um Kelseas Vermutung zu bestätigen. »Die Lieferung, Lady. Zweihundertfünfzig Menschen, jeden Monat, präzise wie ein Uhrwerk.«
»Eine Lieferung wohin?«
»Nach Mortmesne.«
Kelsea wandte sich dem Festungsrasen zu. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere. Langsam, aber unerbittlich begannen sich die Schlangen in Bewegung zu setzen, hin zu den Tischen beim Graben. Sie sah, wie ein Beamter eine Frau zu den Käfigen führte, vor Nummer drei stehen blieb und einem Mann in schwarzer Uniform ein Zeichen gab (die Uniform der Teararmee, wie Kelsea schwach registrierte), woraufhin dieser eine geschickt verborgene Seitentür des Käfigs öffnete. Unterwürfig schritt die Frau hinein. Der schwarze Soldat schloss hinter ihr ab.
»Das Mortabkommen«, murmelte Kelsea wie betäubt. »So also hat meine Mutter Frieden erwirkt.«
»Die Rote Königin hat einen Tribut gefordert, Lady. Und Tearling hatte sonst nichts zu bieten.«
Ein stechender Schmerz durchfuhr Kelseas Brust. Nach einem raschen Blick unter ihr Hemd stellte sie fest, dass ihr Saphir in einem wütenden, gleißenden Blau leuchtete und langsam so heiß wurde, dass er ihre Haut noch durch den Stoff hindurch versengte. Doch der Schmerz war nichts im Vergleich zum Brennen in ihrer Brust, das mit jeder Sekunde stärker wurde, bis es sich in etwas anderes verwandelte. Nicht in Schmerz … in etwas anderes eben. Kelsea hinterfragte es nicht, sie war längst jenseits von jedem Erstaunen. Stumm starrte sie auf die Szene vor ihr.
Immer mehr Beamte eskortierten Menschen zu den Käfigen. Die Menge wich zurück, um ihnen Platz zu machen, und jetzt sah Kelsea die riesigen, an die Käfige montierten Holzräder. Am anderen Ende der Festung hatten Tearsoldaten begonnen, Maultiere vor einen Käfig zu spannen. Sogar aus der Entfernung konnte Kelsea erkennen, dass die Gefängnisse stark ramponiert waren. Die Gitter hatten Schrammen, als wären sie mit Gewalt traktiert worden.
Rettungsversuche, murmelte es in ihrem Kopf. Mehrere. Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie sie als Kind wieder einmal vor dem großen Fenster ihres Cottage gestanden und über irgendetwas geweint hatte – ein aufgeschürftes Knie vielleicht oder eine Hausarbeit, die sie nicht hatte erledigen wollen. Stundenlang hatte sie in den Wald gestarrt, felsenfest davon überzeugt, dies sei der Tag, an dem ihre Mutter kommen würde. Kelsea konnte nicht älter als drei oder vier gewesen sein, doch sie wusste noch genau, wie sicher sie sich gewesen war. Ihre Mutter würde kommen, sie in ihren Armen halten und nichts anderes als gut sein.
Ich war eine Närrin.
»Aber warum genau diese Leute?«, fragte sie Mace. »Wie werden sie ausgewählt?«
»Durch eine Auslosung, Lady.«
»Auslosung«, wiederholte sie schwach.
Angehörige versammelten sich um die Käfige. Sie sprachen mit den Gefangenen, hielten ihre Hand oder standen einfach nur tatenlos herum. Neben jedem Käfig waren schwarze Soldaten postiert, die die Menge mit versteinerter Miene beobachteten. Offensichtlich rechneten sie damit, dass ein Angehöriger früher oder später zur Bedrohung würde. Doch die Menschen blieben passiv, und genau das war das Schlimmste für Kelsea. Ihre Untertanen waren geschlagen, das sah man an den langen, schnurgeraden Reihen vor den Tischen, an der Art, wie die Familien einfach nur warteten, bis ihre Liebsten fortgebracht wurden.
Kelseas Blick fiel auf zwei Käfige, die kleiner waren als die anderen und deren Gitterstäbe einen geringeren Abstand zueinander hatten. Darin befanden sich ein paar zierliche Gestalten. Kelsea blinzelte und merkte, dass sich ihre Augen mit Tränen gefüllt hatten. Langsam rannen sie über ihr Gesicht, bis sie Salz schmeckte.
»Sogar Kinder?«, fragte sie an Mace gewandt. »Warum fliehen die Eltern nicht mit ihnen?«
»Wenn auch nur einer der Ausgelosten wegläuft, ist beim nächsten Mal die ganze Familie dran. Seht Euch um, Lady. Das sind große Familien. Oft müssen sie ein Kind opfern, um die anderen acht zu retten.«
»Und meine Mutter hat sich dieses System ausgedacht?«
»Nein. Der Erfinder der Auslosung steht dort drüben.« Mace deutete auf den Tisch eines Beamten. »Arlen Thorne.«
»Aber meine Mutter hat zugestimmt?«
»Ja, das hat sie.«
»Das hat sie«, wiederholte Kelsea. Die Welt begann wild zu schwanken. Sie grub die Fingernägel in ihren Arm, bis er blutete und sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete. Was dann folgte, war Wut – ein hasserfüllter, schrecklicher Zorn, der sie zu überwältigen drohte – und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Elyssa die Gütige, Elysa die Friedensstifterin. Ihre Mutter war einen Handel eingegangen und hatte ihre Untertanen massenhaft verkauft.
»Es ist noch nicht alles verloren, Lady«, sagte Mace unerwartet und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich schwöre Euch, Ihr seid nicht im Mindesten wie sie.«
Kelsea biss die Zähne zusammen. »Ihr habt recht. Ich werde nicht zulassen, dass das weitergeht.«
»Lady, das Mortabkommen ist sehr konkret. Es darf keine Bittgesuche und keine Anrufung außenstehender Vermittler geben. Wenn nur eine einzige Lieferung nicht in Mortmesne ankommt, hat die Mortkönigin das Recht, in unser Land einzufallen und Schrecken zu verbreiten. Ich habe die letzte Mortinvasion überlebt, Lady, und ich versichere Euch, Mhurn hat bei der Schilderung des Massakers nicht übertrieben. Also bitte, denkt an die Konsequenzen, bevor Ihr etwas unternehmt.«
Irgendwo begann eine Frau zu wehklagen. Es war ein hohes, unheimliches Kreischen, das Kelsea an die Fee erinnerte, von der Barty ihr erzählt hatte, als sie noch ein Kind war – an die Banshee, eine schreckliche Kreatur, die vom Tod kündete. Die Schreie hallten über die Menge hinweg, und endlich konnte Kelsea ihre Quelle ausmachen: eine Frau, die verzweifelt versuchte, zum ersten Käfig zu gelangen. Ihr Mann tat alles, um sie davon abzuhalten, doch sie war zu behände für seine korpulente Statur. Als sie sich seinem Griff entwand und auf das Gefängnis zustürzen wollte, grub er seine Hand in ihr Haar. Mit einem Ruck riss er sie von den Füßen, und sie sackte zusammen. Doch nur einen Augenblick später sprintete sie schon wieder auf den Käfig zu.
Die vier Wachen waren sichtlich nervös. Beunruhigt musterten sie die Frau, unsicher, ob sie eingreifen sollten. Ihre Stimme wurde leiser, ihre Schreie ebbten ab, waren nur noch ein verwundetes, krähenartiges Krächzen, und auch ihre Kräfte schienen nachzulassen. Schließlich gewann der Mann den Kampf. Er bekam ihr Wollkleid zu fassen und zerrte sie fort, in sichere Entfernung vom Käfig. Die Soldaten nahmen wieder ihre gewohnt entspannte Haltung ein.
Doch das fassungslose Krächzen hörte nicht auf und war von Kelseas Position aus deutlich zu hören. Der Mann und seine Frau fixierten den von Kindern umringten Käfig. Die Welt verschwamm vor Kelseas Augen, und ihre Hände auf den Zügeln zitterten. In ihrem Inneren fühlte sie etwas Schreckliches: Nicht das im Wald versteckte Mädchen, nein, ein Flammenwesen, ein lichterloh brennendes Geschöpf. Der Saphir auf ihrer Brust glühte. Sie fragte sich, ob ihre Haut aufplatzen und einen ganz neuen Menschen offenbaren würde.
Sanft berührte Mace sie an der Schulter. Sie fuhr herum und blickte ihn mit wilden Augen an. Er hielt ihr sein Schwert hin. »Es mag richtig oder falsch sein, Lady, aber ich sehe, Ihr wollt etwas tun. Nehmt das.«
Kelsea umklammerte den Schwertgriff. Auch wenn die Klinge zu lang für sie war, fand sie Gefallen an dem Gewicht in ihren Händen. »Was ist mit Euch?«
»Ich habe viele Waffen. Außerdem sind Freunde von uns hier. Das Schwert ist nur Tarnung.«
»Was für Freunde?«
Beiläufig reckte Mace seine geöffnete Hand in die Luft, ballte sie zur Faust und ließ sie dann wieder fallen. Fast erwartete Kelsea, dass sich der Himmel öffnete. Sie registrierte, wie sich in der Menge um sie herum etwas regte, eine kaum merkliche Bewegung. Mace schien zufrieden und wandte sich wieder ihr zu. Kelsea blickte ihn prüfend an. Ihn, den Mann, der seit Tagen über ihr Leben wachte. Schließlich sagte sie: »Ihr habt recht, Lazarus. Ich sehe meinen Tod, und ich preise ihn. Doch bevor ich gehe, werde ich eine breite Schneise hier hineinschlagen, so breit wie das Gottesmeer. Ihr solltet gehen, wenn Ihr nicht mit mir sterben wollt.«
»Lady, Eure Mutter war keine gute Königin, aber sie war nicht böse. Sie war schwach. Nie hätte sie so geradewegs in den Tod schreiten können wie Ihr. Ein Fey-Charakterzug hat große Macht, aber Ihr müsst Euch sicher sein, dass die Verwüstung, die Ihr anrichtet, Euren Untertanen zugutekommt, statt Euch einfach nur gegen das Andenken Eurer Mutter aufzulehnen. Das ist der Unterschied zwischen einer Königin und einem zornigen Kind.«
Kelsea versuchte, sich genauso auf seine Worte zu konzentrieren wie auf jede andere Aufgabe, die sie zu lösen hätte. Stattdessen kamen ihr Illustrationen aus Carlins Geschichtsbüchern in den Sinn. Menschen mit tiefbrauner Haut, eine alte, infame Brutalität, die ein gesamtes Zeitalter verdunkelte. Carlin hatte sich lange mit dieser Epoche aufgehalten, und mehr als einmal hatte sich Kelsea gefragt, was daran so ausschlaggebend sein sollte. Hinter ihren geschlossenen Augen sah sie die Geschichten und Bilder: Menschen in Ketten. Männer, die auf der Flucht gefasst und bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Mädchen, die in so jungen Jahren schon vergewaltigt wurden, dass sich ihre Körper nie wieder davon erholten. Kinder, die den Armen ihrer Mütter entrissen, auf Auktionen verkauft wurden. Staatlich geförderte Versklavung.
In meinem Reich.
Carlin hatte es gewusst, aber sie hatte nichts sagen dürfen. Und doch war sie ihrer Aufgabe nachgekommen, und das mehr als gründlich, denn in Sekundenschnelle blitzten nun Bilder aus jenen Jahren unvorstellbarer Grausamkeit in Kelseas Kopf auf. »Ich werde das beenden.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Mace.
»Ja, das bin ich.«
»Dann gelobe ich, Euch vor dem Tod zu schützen.«
Kelsea blinzelte. »Ach, ja?«
Mace nickte. Der Entschluss stand ihm deutlich ins wettergegerbte Gesicht geschrieben. »Ihr habt Potenzial, Lady. Carroll und ich konnten das beide spüren. Ich habe nichts zu verlieren, und wenn ich schon sterben muss, dann beim Versuch, das Böse auszulöschen. Dies ist die Bestimmung Eurer Majestät, ich fühle es.«
Majestät. Wie ein Schauer durchfuhr sie das Wort. »Ich wurde noch nicht gekrönt, Lazarus.«
»Das tut nichts zur Sache, Lady. Ich sehe die Königin in Euch. In Eurer Mutter habe ich sie nie gesehen, an keinem Tag ihrer Regentschaft.«
Neuerlich zu Tränen gerührt, wandte Kelsea den Blick ab. Sie hatte einen Gardisten auf ihre Seite gebracht. Nur einen, aber immerhin den wichtigsten. Sie wischte sich über die nassen Augen und hielt das Schwert noch fester umklammert. »Wenn ich schreie, hören sie mich dann?«
»Lasst mich das machen, Lady, ihr habt ja noch keinen Herold. In Kürze wird alle Aufmerksamkeit auf Euch gerichtet sein. Lasst Eure Hand am Schwert, und nähert Euch nicht der Festung. Ich kann keine Bogenschützen entdecken, aber das heißt nicht, dass sie nicht doch da sind.«
Kelsea nickte fest, obwohl sie innerlich stöhnte. Sie sah schrecklich aus. Der schlichte, saubere Umhang, den der Fetch ihr gegeben hatte, war voller Schlammschlieren und der Saum ihrer Hose ausgerissen. Pens Rüstung schien doppelt so schwer wie heute Morgen. Kelseas langes, ungewaschenes Haar löste sich aus ihrer Frisur und legte sich in dunklen braunen Zotteln um ihr Gesicht. Schweiß rann ihr über die Stirn und brannte in ihren Augen. Ihr Kindheitstraum fiel ihr wieder ein, wie sie auf einem weißen Pony und mit einer Krone auf dem Kopf in die Stadt hatte reiten wollen. Heute sah sie kein bisschen wie eine Königin aus.
Die Frau hatte wieder zu weinen begonnen und schien sich der kleinen Kinder, die aus dem Käfig heraus furchtsam zu ihr aufblickten, nicht bewusst. Kelsea verfluchte sich. Wen kümmert schon dein Haar, du Dummkopf? Sieh nur, was hier angerichtet wurde.
»Aus was sind die Käfige, Lazarus?«
»Aus Morteisen.«
»Aber die Räder und das Fahrwerk bestehen aus Holz, oder?«
»Aus Teareiche, Lady. Worauf wollt Ihr hinaus?«
Kelsea starrte auf die Tische mit den schwarzen Soldaten vor der Festung und holte tief Luft. Dies waren die letzten Momente ihrer Anonymität. Alles würde sich ändern. »Sobald sie leer sind, zünden wir sie an.«
Javel kämpfte gegen die Schläfrigkeit. Das Festungstor zu bewachen stellte keine besondere Herausforderung dar. Achtzehn Monate war es her, seit der Letzte versucht hatte, es zu stürmen. Ein sehr halbherziger Versuch. Ein Betrunkener, der um zwei Uhr morgens, bekümmert über seine hohen Steuern, davor herumgetaumelt war. Nichts war passiert, und nichts würde passieren. Das war eben das Leben einer Torwache.
Abgesehen von seiner Schläfrigkeit fühlte sich Javel elend. Sein Beruf hatte ihm noch nie Spaß gemacht, doch während der Lieferung hasste er ihn regelrecht. Die Menschenmenge an sich stellte kein Sicherheitsproblem dar, sie stand ja einfach nur wie eine Herde Kühe herum, die darauf wartete, geschlachtet zu werden. Doch bei den Kinderkäfigen nahe am Tor kam es jedes Mal zu dem ein oder anderen Zwischenfall, und der heutige Tag war da keine Ausnahme. Javel hatte erleichtert aufgeatmet, als man die Frau endlich zum Schweigen gebracht hatte. Irgend so ein Elternteil gab es immer, meistens war es die Mutter. Und nur Keller, ein Sadist durch und durch, genoss ihre Schreie. Für den Rest der Torwachen war die Lieferung verhasster Pflichttermin. Und wenn überhaupt mal einer der Wachmänner zu einem Handel bereit war, musste man zum Ausgleich zwei komplette Schichten übernehmen.
Das andere Problem war, dass die Lieferung zwei Gruppen der Teararmee auf dem Rasen vereinte. Allgemein war man in der Armee der Ansicht, der Beruf der Torwache sei der Weg des geringsten Widerstands, eine Zuflucht für alle, die als echte Soldaten nicht fähig oder tapfer genug waren. Doch das entsprach nicht immer der Wahrheit. Da war zum Beispiel Vil, auf der anderen Seite der Zugbrücke, direkt gegenüber von Javel. Königin Elyssa hatte ihn nach der Mortinvasion empfohlen und ihm außerdem das Kommando über das Tor erteilt. Aber natürlich waren nicht alle wie er, und die Teararmee ließ sie das nie vergessen. Jetzt gerade erblickte Javel links von sich zwei kichernde Soldaten. Bestimmt lachten sie über ihn.
Das Schlimmste an der Lieferung war, dass sie ihn an Allie erinnerte. Die meiste Zeit dachte er nicht an sie, und wenn doch, dann hielt er nach der nächsten Whiskeyflasche Ausschau, um sein Elend zu ertränken. Doch während der Arbeit durfte er nicht trinken. Selbst wenn Vil außer Dienst wäre – die anderen würden es nicht tolerieren. Loyalität suchte man unter den Torwachen vergeblich. Solidarität hingegen gab es jede Menge. Solidarität, die auf der Einsicht beruhte, dass keiner von ihnen perfekt war. Sie alle schauten weg, wenn es um Ethans exzessive Spielsucht ging, um Marcos Analphabetentum oder auch um Kellers Angewohnheit, Prostituierte unten im Gut zu verprügeln. Keines dieser Probleme beeinträchtigte ihre Arbeitsleistung. Und wenn Javel trinken wollte, musste er eben warten, bis er dienstfrei hatte.
Zum Glück ging die Sonne bereits unter, und die Käfige waren fast voll. Der Priester aus dem Arvath hatte sich von seinem Platz am Tisch erhoben und stand neben dem ersten Käfig. Seine weiße Robe kräuselte sich im Wind des späten Nachmittags. Javel kannte ihn nicht. Es war ein großer, dicker Geselle mit so tiefhängenden Wangen, dass sie ihm fast bis zum Hals reichten. Javel verabscheute ihn, diesen Mann, der sich der Auslosung nie aussetzen musste. Bestimmt war er der Gotteskirche nur deswegen beigetreten. Viele Männer taten das. Javel rief sich den Tag ins Gedächtnis, an dem der Regent die Kirche freigestellt hatte. Es hatte einen Aufschrei gegeben. Die Auslosung war ein wahlloser Jäger, der sich jeden schnappte, den er in die Finger bekommen konnte. Wahllos, aber fair, wohingegen in der Gotteskirche ausschließlich Männer akzeptiert wurden.
Ja, es hatte einen Aufschrei gegeben, doch wie alle Aufschreie war er schnell wieder verebbt.
Javel fummelte an seinen Ärmeln herum und wünschte sich, die Zeit möge schneller vergehen. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Der Priester würde die Lieferung segnen, Thorne das Signal geben, und dann würden die Käfige losrollen. Streng genommen war es Aufgabe der Garde, dafür zu sorgen, dass sich die Menge zerstreute, doch auch das kannte Javel schon: Die Menge würde sich von selbst zerstreuen und der Lieferung folgen, wenn sie vom Rasen rollte. Viele Familien würden sie bis zur Brücke Neulondons begleiten, doch irgendwann würden sie aufgeben. Javel schloss die Augen. Er spürte ein plötzliches Stechen im Brustkorb. Als man Allies Namen gezogen hatte, hatten sie über Flucht gesprochen, und einmal hätten sie es fast getan. Doch Javel war damals jung, ein Torwächter, und irgendwann hatte er Allie überzeugt, dass es ihrer beider Pflicht war zu bleiben. Javel hatte an die Auslosung geglaubt, an Loyalität dem Haus der Raleighs gegenüber, an die Opfer, die für einen größeren Frieden erbracht werden mussten. Wäre sein Name gezogen worden, er hätte sich klaglos fortschaffen lassen. Damals war ihm alles so klar erschienen. Erst als er Allie in dem Käfig gesehen hatte, bröckelte seine Gewissheit. Sehnsüchtig dachte er an das Brennen in seiner Kehle, das wie ein Anker in seinen Magen rutschen und alles richten würde. Whiskey stieß Allie immer wieder zurück in die Vergangenheit, wo sie hingehörte.
»Bevölkerung von Tearling!«
Die volltönende, mächtige Stimme des Mannes dröhnte über den Rasen den Abhang hinunter und hallte von den Mauern der Festung wider. Die Menschen verstummten. Torwachen durften ihre Augen eigentlich nur auf die Brücke richten, doch nun wandten sich alle um, Javel eingeschlossen, und starrten die Anhöhe hinauf.
»Mace ist wieder da«, murmelte Martin.
Er hatte recht. Die Gestalt dort oben war zweifellos Lazarus. Groß, breit, furchteinflößend. Wann immer er am Tor vorbeikam, tat Javel sein Bestes, um so unsichtbar wie möglich zu werden. Stets hatte er Angst, diese tiefsehenden, berechnenden Augen würden auf ihm verweilen, und Javel wollte nicht mal im kleinsten Winkel von Mace‘ Hirn auftauchen, nicht mal als Sprenkel.
Neben Mace war eine kleinere Gestalt, die in einen tiefroten Umhang gehüllt war und sich ihre Kapuze ins Gesicht gezogen hatte. Wahrscheinlich Pen Alcott. Man hatte ihn trotz seiner zierlichen Statur in die Truppe aufgenommen, auch wenn die Wachen der Königin für gewöhnlich groß und gut gebaut waren. Man sagte, dass Alcott das Schwert gut führte. Plötzlich strich die Gestalt ihre Kapuze zurück, und Javel sah, dass es sich um eine Frau handelte. Um eine recht unscheinbare, mit langen, zerzausten Haaren.
»Ich bin Lazarus, Gardist der Königin!«, dröhnte Mace‘ Stimme erneut über die Anlage. »Heißt die Königin von Tearling willkommen!«
Javel klappte der Kiefer herunter. Er hatte läuten hören, dass der Regent seine Suche in den letzten Monaten intensiviert hatte, doch er hatte dem Gerede nicht viel Beachtung geschenkt. Ab und an machten Gesänge über die Rückkehr des Mädchens die Runde, doch auch darauf hatte Javel nichts gegeben. Musiker mussten schließlich über irgendwas singen, und die Feinde des Regenten hielten die Hoffnung der Leute gerne aufrecht. Aber es gab nicht genügend Beweise dafür, dass es der Prinzessin tatsächlich gelungen war, aus der Stadt zu fliehen. Die meisten in Neulondon, Javel eingeschlossen, gingen davon aus, dass sie längst tot war.
»Sie sind alle da«, murmelte Martin. »Sieh nur!«
Javel verrenkte sich schier den Hals, um zu sehen, wie sich eine Reihe grau eingehüllter Gestalten in einem Ring um das Mädchen gruppierte. Sie schoben ihre Kapuzen zurück, und Javel erkannte Galen, Dyer, Elston, Kibb, Mhurn und Coryn – die wenigen verbliebenen Gardisten der Königin. Auch Pen Alcott war dabei. Mit gezogenem Schwert und in einen grünen Umhang gehüllt, hatte er sich direkt vor der Frau positioniert. Sie alle, so ging das Gerücht, waren mehrfach vom Regenten aus der Festung verbannt worden. Mal hatte er ihnen angeblich keinen Lohn mehr gezahlt, mal hatte er ihnen andere Aufgaben zuteilen wollen. Doch er schaffte es nie, die Männer für mehr als ein paar Monate loszuwerden. Sie kamen immer wieder zurück. Carroll und Mace erfreuten sich eines großen Einflusses unter den Tearadeligen. Das wahre Problem lag aber eigentlich tiefer: Niemand fürchtete den Regenten. Zumindest nicht so, wie die Menschen Mace fürchteten.
Ein Raunen ging durch die Menge, ein Summen, das mit jedem Augenblick lauter wurde. Javel merkte, dass sich die Stimmung um ihn herum veränderte. Die Lieferung funktionierte wie ein Uhrwerk, Monat für Monat: Abfertigung, Verladung, Abfahrt; Arlen Thorne ganz vorne am Zensus-Tisch, wo er sich wie der Kaiser der Neuen Welt gebärdete; irgendwann verstummten auch die unvermeidlichen Schreie der Eltern, die weinend den Rasen verließen, sobald die Käfige aus der Stadt verschwunden waren … Dies alles war Teil eines choreographierten Stücks.
Jetzt aber beugte sich Thorne vor, um eindringlich auf einen seiner Stellvertreter einzureden. Der gesamte Zensus-Tisch schien in Bewegung zu geraten – wie Nagetiere, die eine Gefahr witterten. Erfreut stellte Javel fest, dass die Soldaten vor den Käfigen unbehaglich dreinblickten und viele von ihnen eine Hand auf ihrem Schwert hatten. Der Vertreter aus dem Arvath hatte sich ebenfalls vorgebeugt. Seine Wangen zitterten bei jedem Wort, das er mit Thorne wechselte. Die Priester der Gotteskirche predigten Gehorsam gegenüber dem Zensus. Dafür wurden sie vom Regenten von allen Steuern freigestellt. Der oberste Schatzmeister, Kardinal Walker, trank eine ganze Menge im Gut, und er war nicht besonders wählerisch, wenn es darum ging, wer ihm dabei Gesellschaft leisten sollte. Und so hatte Javel einige Geschichten über die Geschäfte des Heiligen Vaters zu hören bekommen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Wie die meisten Schachzüge des Heiligen Vaters war auch dieser hier besonders gewieft. Aufgrund der kirchlichen Doktrin schienen die Forderungen des Zensus reibungsloser akzeptiert zu werden. Fromme Familien erkannte man schon von Weitem an der Ergebenheit auf ihren Gesichtern. Lange bevor ihre Angehörige in die Käfige mussten, hatten sie den Verlust als ihre Pflicht vor Gott und dem Land anerkannt.
Javel war ebenfalls in die Kirche gegangen, aber nur, um Allie glücklich zu machen. Seit ihrer Lieferung war er nie wieder dort aufgetaucht. Je länger der Priester mit Thorne diskutierte, desto cholerischer wurde sein Gesichtsausdruck. Javel stellte sich vor hinüberzugehen und dem fetten Typ in die Eingeweide zu treten.
Plötzlich erhob sich eine Männerstimme über das verhaltene Summen der Menge: »Gebt mir meine Schwester zurück, Majestät!«
Und dann schrien sie alle gleichzeitig:
»Bitte, Lady, Erbarmen!«
»Eure Majestät kann das stoppen!«
»Rettet meinen Sohn!«
Die Königin hob die Hände und gebot Schweigen. In diesem Moment wusste Javel, dass sie wirklich die Königin war, obwohl er nicht begriff, wie und weshalb. Sie richtete sich in ihren Steigbügeln auf. Sie war nicht groß, aber dennoch irgendwie beeindruckend. Kämpferisch hatte sie den Kopf in den Nacken geworfen. Ihr Haar umströmte ihr Gesicht. Sogar wenn sie laut sprach, war ihre Stimme tief und entschlossen. Wie Sirup. Oder Whiskey.
»Ich bin die Königin von Tearling! Öffnet die Käfige!«
In der Menge explodierte ein Schrei, der Javel mit der Wucht eines Schlags traf. Mehrere Soldaten machten Anstalten zu gehorchen und griffen nach den Schlüsseln an ihren Gürteln, doch Thorne bellte scharf: »Bleibt, wo ihr seid!«
Javel hatte Arlen Thorne immer für den dürrsten Menschen gehalten, den er je gesehen hatte. Der Mann war eine einzige Ansammlung langer, stockartiger Gliedmaße. Auch das kräftige Marineblau seiner Uniform trug nichts dazu bei, ihn fülliger wirken zu lassen. Wenn sich Thorne von einem Tisch erhob, war es, als würde man einer Spinne zusehen, wie sie sich für die Jagd bereit machte. Javel schüttelte den Kopf. Königin oder nicht, das Mädchen würde es nie schaffen, die Käfige öffnen zu lassen. Thorne war im Gut groß geworden, aufgezogen von Huren und Dieben. Er hatte sich zur Spitze dieses Scheißhaufens emporgearbeitet und war zum fähigsten Sklavenhändler Tearlings avanciert. Er hatte einen anderen Blick auf die Welt als die meisten anderen Menschen. Vor zwei Jahren hatte eine gewisse Familie Morrell versucht, aus Tearling zu fliehen, weil der Name ihrer Tochter bei der Auslosung gezogen worden war. Thorne hatte die Caden mit der Angelegenheit betraut. Nach einem eintägigen Ritt hatten sie die Morrells an der Grenze zu Cadare in einer Höhle aufgespürt. Doch es war niemand anders als Thorne gewesen, der das Kind vor den Augen seiner Eltern zu Tode gefoltert hatte. Und er hielt seine Untaten nicht mal geheim. Er wollte, dass die Welt Bescheid wusste.
Vil, der mutiger war als der Rest von ihnen, hatte ihn gefragt, was er mit einer solchen Tat bezwecke, und hinterher berichtet: »Thorne meinte, die Morrells seien ein Paradebeispiel. Und den Wert eines Paradebeispiels solle man nie unterschätzen.«
Es hatte funktioniert – soweit Javel wusste, hatte seitdem niemand mehr versucht, einen Ausgelosten außer Landes zu schmuggeln. Beide Morrells waren zur nächsten Lieferung erschienen, daran konnte Javel sich noch sehr gut erinnern. Die Mutter war als eine der Ersten zahm wie ein Kaninchen in den Käfig marschiert. Bei einem Blick in ihre leeren Augen hatte Javel gesehen, dass sie im Prinzip schon tot war. Viel später hatte er gehört, sie sei auf der Reise an einer Lungenentzündung gestorben. Ihre Leiche hatte Thorne den Geiern am Rand einer Mortstraße zum Fraß vorgeworfen.
»Die Königin von Tearling ist schon so viele Jahre tot«, verkündete Thorne. »Wenn Ihr behauptet, die ungekrönte Prinzessin zu sein, müsst Ihr dem Reich schon mehr Beweise liefern als Euer Wort.«
»Euer Name, Sir«, befahl die Königin.
Thorne stellte sich aufrecht hin und holte tief Luft. Auch aus sechs Metern Entfernung konnte Javel sehen, wie sich seine Taubenbrust ausdehnte. »Ich bin Arlen Thorne, Oberster Zensor!«
Die Königin griff sich in den Nacken und begann, an etwas herumzuspielen, so wie Frauen es immer taten, wenn ihr Haar in Unordnung war. Eine Geste, die er auch von Allie kannte, an besonders heißen Tagen oder wenn sie sich über irgendetwas aufgeregt hatte. Es schmerzte Javel, diese Art Bewegung an einer anderen Frau zu sehen. Gott war sein Zeuge – die Erinnerung hinterließ viel tiefere Schnitte als Schwerter.
Javel schloss kurz die Augen. Noch einmal sah er Allies helles, blondes Haar aufblitzen, bevor sie vor sechs Jahren über den Hügel Pike nach Mortmesne verschwunden war. Noch nie hätte er so gern getrunken wie gerade jetzt.
Die Königin hielt etwas hoch. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen blitzte etwas Blaues auf und war gleich darauf verschwunden. Wieder brach Tumult in der Menge aus. So viele Hände fuhren in die Höhe, dass die Königin einige Augenblicke nicht mehr zu sehen war.
»Jeremy!«, rief Ethan in Richtung Brücke. »Ist es das Schmuckstück der Thronfolgerin?«
Jeremy, der schärfere Augen hatte als alle anderen, zuckte die Schultern und rief zurück: »Es ist ein blauer Stein! Den echten habe ich nie gesehen!«
Mehrere Leute drängten zu den Kinderkäfigen vor. Die Soldaten zogen ihre Schwerter und trieben die Menge problemlos wieder zurück, doch um die Käfige herum war ein heilloses Durcheinander entstanden. Kein einziges Schwert wurde zurück in die Scheide geschoben. Javel grinste. Es gefiel ihm, dass die Armee endlich mal gefordert wurde, selbst wenn der kleine Aufstand hier zum Scheitern verurteilt war. Die Truppen, die über die Lieferung wachten, hatten Anspruch auf einen Bonus von Seiten des Regenten. Zwar sackten sie nicht so viel Geld ein wie die Adeligen, die für die Benutzung der Mortstraße Zoll kassierten, trotzdem handelte es sich, soweit Javel gehört hatte, um einen hübschen Batzen Geld. Gutes Geld für ein böses Werk. Da schien es nur gerecht, dass sie endlich mal in Schwierigkeiten gerieten.
»Jeder kann einem Kind einen Stein umhängen«, erwiderte Thorne, der die schreiende Menge ignorierte. »Woher sollen wir wissen, dass es der echte ist?«
Javel richtete seinen Blick auf die Königin, doch bevor die reagieren konnte, schrie Mace: »Ich bin ein Gardist der Königin, mein Wort ist an dieses Reich gebunden! Dies ist der Stein der Thronfolgerin, und er sieht noch genau aus wie vor achtzehn Jahren, als ich ihn zum letzten Mal zu Gesicht bekommen habe!« Er lehnte sich gegen den Hals seines Pferdes. In seiner Stimme lag ein so drohender Unterton, dass Javel instinktiv zurückwich. »Ich habe mein Leben an das der Königin gebunden, Thorne, um über sie zu wachen! Willst du vielleicht meine Loyalität gegenüber den Tear infrage stellen?«
Die Hand der Königin durchschnitt die Luft, eine Geste, die Mace sofort zum Schweigen brachte. Sie beugte sich vor und rief: »Ihr alle dort unten! Ihr seid Teil meiner Regentschaft und meiner Armee! Ihr werdet die Käfige öffnen!«
Ratlos blickten die Soldaten einander an und wandten sich nach Thorne um, der den Kopf schüttelte. In diesem Moment bemerkte Javel etwas Außergewöhnliches: Der Stein der Königin, der eben noch beinahe unsichtbar gewesen war, loderte in einem gleißend hellen Aquamarinblau. Sogar aus der Entfernung musste er die Augen zusammenkneifen. Wie ein glühend blaues Pendel schwang die Kette über dem Haupt der Königin hin und her. Sie selbst schien größer zu werden und von einem inneren Feuer erhellt. Sie war nicht länger das Mädchen mit dem runden Gesicht und dem abgetragenen Mantel. Für einen Moment schien sie die ganze Welt auszufüllen, eine große, ernste Frau mit einer Krone auf dem Kopf.
Javel packte Martin an der Schulter: »Siehst du das?«
»Was?«
»Nichts«, murmelte Javel. Martin sollte ihn nicht für betrunken halten. Erneut erhob die Königin die Stimme. Sie klang ärgerlich und fest. Die Vernunft, die aus ihr sprach, verdeckte ihren Zorn.
»Mag sein, dass ich nur einen Tag auf dem Thron sitzen werde, aber wenn ihr nicht sofort die Käfige öffnet, wird meine einzige Tat darin bestanden haben, euch wegen Hochverrats zu verurteilen und jedem Einzelnen von euch beim Sterben zuzusehen. Das schwöre ich beim allmächtigen Gott! Ihr werdet den Sonnenuntergang nicht mehr erleben! Wollt ihr mich wirklich auf die Probe stellen?«
Einen Moment lang schien die Szenerie vor den Käfigen wie eingefroren. Javel hielt die Luft an. Er wartete darauf, dass Thorne reagierte oder ein Erdbeben den Rasen aufbrach. Der Saphir strahlte jetzt so hell über der Königin, dass er sich eine Hand über die Augen legen musste. Kurz hatte er das absurde Gefühl, der Stein würde ihn ansehen. Alles sehen. Allie und die Flasche. Die Jahre, die beide miteinander verschlungen in seinem Kopf verbracht hatten.
Die Soldaten setzten sich in Bewegung. Zuerst nur ein paar, dann immer mehr. Obwohl Thorne ihnen wütende Befehle zuzischte, griffen die Kommandeure nach den Schlüsseln an ihren Gürteln und begannen, die Käfige aufzusperren.
Javel stieß den Atem aus und starrte auf das außergewöhnliche Schauspiel, das sich da vor seinen Augen abspielte. Noch nie hatte er gesehen, dass die Käfige nach dem Absperren erneut geöffnet worden wären. Außer den Mort hatte das wahrscheinlich niemand. Er kannte einige Leute, sich selbst eingeschlossen, die der Lieferung bis zum Argivepass gefolgt waren. Doch nur wenige trauten sich über die Mortgrenze hinüber, und noch niemand war der Fracht bis Demesne, seinem endgültigen Bestimmungsort, gefolgt. Würden die Mortsoldaten irgendeinen Tear in der Nähe des Käfigs erwischen, sie würden den Saboteur sofort töten.
Einer nach dem anderen kletterten Männer und Frauen aus den Käfigen heraus. Die Menge empfing sie in einer, wie es schien, riesigen, alles umspannenden Umarmung. Ungefähr drei Meter vom Tisch des Zensus entfernt brach eine alte Frau weinend zusammen.
Thorne stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab und rief mit ätzender Stimme: »Und was ist nun mit Mortmesne, Prinzessin? Wollt Ihr uns die Armee der Roten Königin auf den Hals hetzen?«
Javel wandte sich der Königin zu. Erleichtert stellte er fest, dass sie sich wieder in ein Mädchen verwandelt hatte, in einen Teenager mit unscheinbarem Gesicht und unordentlichem Haar. Seine Vision war verschwunden, wenn es denn eine gewesen war. Die Stimme der Königin allerdings war nicht leiser geworden, sondern hallte womöglich noch lauter über den Rasen. »Ich erinnere mich nicht, Euch zu meinem außenpolitischen Berater ernannt zu haben, Arlen Thorne. Und ich bin auch nicht durch das halbe Königreich geritten, um auf meinem eigenen Festungsrasen sinnlose Diskussionen mit einem Bürokraten zu führen. Mir geht es um das Wohl meiner Untertanen – in diesem Fall und in allen anderen.«
Mace beugte sich vor, um der Königin etwas ins Ohr zu flüstern. Sie nickte und deutete dann auf Thorne: «Ihr! Oberster Zensor! Ich mache Euch persönlich dafür verantwortlich, dass jede Familie ihr Kind zurückbekommt. Und sollte auch nur eines verloren gehen, seid Ihr dran. Verstanden?«
»Ja, Lady«, erwiderte Thorne widerstrebend, und Javel war mit einem Mal sehr froh, sein Gesicht nicht sehen zu können. Die Königin mochte glauben, diesen Hund angeleint zu haben, doch für Arlen Thorne gab es keine Leine, das würde sie noch früh genug herausfinden.
»Gelobt sei die Königin!«, rief jemand gegenüber den Käfigen. Die Menge brüllte zustimmend, und als Familien wieder zusammengeführt wurden, hallten Bekundungen des Glücks über den Rasen. Doch am häufigsten hörte Javel Weinen, und das hasste er. Sie bekamen ihre Liebsten doch zurück – was zur Hölle gab es da zu flennen?
»Nie wieder wird es eine Lieferung nach Mortmesne geben!«, rief die Königin. Der Chor jubelnder Menschen antwortete ihr. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah Javel Allie vorbeischweben. An manchen Tagen fürchtete er, ihr Gesicht vergessen zu haben. Denn egal, wie sehr er es auch versuchte, das Gedankenbild war nicht scharf zu kriegen. Für gewöhnlich konzentrierte er sich dann auf ein Detail, an das er sich zu erinnern glaubte, das aber sogleich zu flimmern begann und sich wie eine Fata Morgana verzerrte. Doch hin und wieder kam ein Tag wie heute, an dem er sich an jede Einzelheit erinnerte, an den Schwung ihrer Wangenknochen, ihr energisches Kinn. In solchen Momenten begriff er: Das Vergessen war eine Gnade gewesen.
Bei einem Blick in den Himmel stellte er erleichtert fest, dass die Dämmerung ihn bereits violett gefärbt hatte. Die Sonne war hinter der Festung verschwunden.
»Vil!«, rief er über die Brücke hinüber. »Sind wir nicht schon außer Dienst?«
Vil wandte sich zu ihm. Die Überraschung stand ihm ins runde Gesicht geschrieben. »Du willst jetzt gehen?«
»Nein … nein, ich habe ja nur gefragt.«
»Reiß dich zusammen«, antwortete Vil, und in seiner Stimme schwang Spott mit. »Du kannst deinen Kummer später noch ertränken.«
Javels Gesicht glühte. Er sah zu Boden und ballte eine Hand zur Faust. Jemand klopfte ihm auf den Rücken. Er sah auf und blickte in Martins mitfühlendes Gesicht. Mit einem Nicken gab er ihm zu verstehen, dass alles in Ordnung war, und Martin trat zurück an seinen Platz.
Zwei Gardisten der Königin, ein hochgewachsener und ein kleiner, beide in graue Umhänge gehüllt, gingen mit einem Eimer um die Käfige herum. Elston und Kibb wahrscheinlich, die beiden waren unzertrennlich. Javel hatte keine Ahnung, was sie da taten, aber das war ihm eigentlich auch egal. Die meisten Käfige waren inzwischen leer.
Thorne hatte eine umsichtige Prozedur eingeleitet, bei der immer nur ein Kind aus dem Käfig gelassen wurde. Bevor er es den nach vorn drängenden Eltern aushändigte, stellte er ihnen ein paar Fragen, was gewiss eine gute Idee war. Im Gut gab es ein loses Bündnis zwischen Zuhältern und Puffmüttern, die für jede Vorliebe gerüstet sein wollten und widerwärtig genug waren, das eine oder andere Kind zu stehlen. Mehr als einmal hatte Javel, der viel Zeit im Gut verbrachte, darüber nachgedacht, diese Leute aufzuspüren, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Doch immer wenn die Nacht heraufzog, ließ seine Entschlossenheit nach. Und abgesehen davon war das ein Auftrag, den andere erfüllen mussten. Jemand, der Mut hatte.
Alle außer mir.
Kelsea war erschöpft. Sie versuchte, majestätisch und unbeeindruckt dreinzuschauen, während sie Mace‘ Schwert umklammert hielt, doch ihr Herz hämmerte, und sie war todmüde. Sie legte sich ihre Kette um den Hals und merkte, dass sie es sich nicht eingebildet hatte: Der Saphir glühte, als wäre er in einer Schmiede ins Feuer gehalten worden. Während ihres Streits mit Arlen Thorne hatte sie den Eindruck gehabt, sie müsse nichts weiter tun, als die Arme hochzurecken, und schon würde sich der Himmel spalten. Doch nun war all ihre Kraft verschwunden, wie abgezapft, und ihre Muskeln erschlafft. Wenn sie jetzt nicht bald reingingen, würde sie vom Pferd fallen.
Die Sonne war verschwunden, und der gesamte Festungsrasen versank im Schatten. Die Temperatur fiel rasch. Doch sie konnten noch nicht gehen. Mace hatte mehreren Wachen befohlen, sich unter die Leute zu mischen und diversen Aufträgen nachzukommen. Bislang war keiner von ihnen zurückgekehrt. Kelsea war erleichtert, dass noch so viele Gardisten ihrer Mutter am Leben waren, auch wenn sie beim schnellen Durchzählen entmutigt festgestellt hatte, dass Carroll nicht unter ihnen war. Dafür waren neue Wachen aufgetaucht, Männer, die sie nicht auf der Reise begleitet hatten. Ungefähr fünfzehn mussten gerade um sie herumstehen, ganz sicher hätte Kelsea nur sein können, wenn sie sich umgedreht hätte. Aber aus irgendeinem Grund schien es ihr sehr wichtig, nicht zurückzublicken.
Ungefähr ein Drittel der Leute, die sich bis gerade eben noch auf dem Rasen aufgehalten hatten, entfernten sich. Wahrscheinlich, weil sie Ärger befürchteten. Doch die meisten blieben. Einige Familien schlossen ihre Liebsten noch immer tränenreich in die Arme, andere waren lediglich Zuschauer, die Kelsea neugierig musterten. Die Blicke, die auf ihr ruhten, schienen ein enormes Gewicht zu haben.
Sie erwarten, dass ich irgendetwas Außergewöhnliches tue, begriff sie. Sie erwarten es jetzt und für den Rest meines Lebens.
Die Vorstellung war furchterregend.
Sie wandte sich an Mace: »Wir müssen in die Festung.«
»Nur einen Moment noch, Lady.«
»Worauf warten wir?«
»Der Retter Eurer Majestät hat ein wahres Wort gesprochen, eines, an das ich oft denken muss. Der direkte Weg ist oft der beste, auch wenn man den Grund dafür zunächst nicht kennt.«
»Und was genau soll das heißen?«
Mace deutete hinter den Kreis der Gardisten, wo vier Frauen und ein paar Kinder warteten. Eine von ihnen war die Frau, die so geschrien hatte. Ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, lag in ihren Armen, vier weitere Kinder umringten sie. Als sie sich zu ihrer Tochter hinunterbeugte, fiel ihr das lange Haar ins Gesicht.
»Alle mal herhören!«, rief Mace zu ihnen hinüber.
Als die Frau aufblickte, hielt Kelsea den Atem an. Die Verrückte aus ihrem Traum! Jene, die das blutende Kind umklammert gehalten hatte. Das gleiche lange, dunkle Haar, der gleiche blasse Teint und dieselbe hohe Stirn. Würde sie zu sprechen beginnen, dachte Kelsea, wäre auch ihre Stimme wie die aus dem Traum.
Aber ich habe doch noch nie in die Zukunft blicken können, dachte sie verwirrt. Noch nie in meinem ganzen Leben. Dabei hatte sie sich die Gabe als Kind oft gewünscht. Carlin hatte ihr Geschichten von der Seherin der Roten Königin erzählt, einer sehr begabten Frau, die viele bedeutende Ereignisse der Weltgeschichte vorhergesagt hatte. Kelsea hingegen hatte nur die Gegenwart.
»Die Königin braucht Bedienstete!«, verkündete Mace. Sie zuckte zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Szene vor ihr.
»Sie braucht …«
»Wartet.« Als Kelsea die Furcht in den Augen der Frau sah, erhob sie die Hand. Mace‘ Idee war nicht schlecht, aber wenn er mit dieser Furcht falsch umging, würden sämtliche Bestechungsversuche der Welt wenig nützen.
»Ich werde niemandem befehlen, in meine Dienste zu treten«, sagte sie entschlossen und versuchte, jeder einzelnen der vier Frauen in die Augen zu sehen. »Aber ich verspreche, dass alle, die sich mir anschließen, jeden Schutz genießen, den ich bieten kann. Und nicht nur Schutz, sondern alles, was zum Beispiel auch meinen Kindern irgendwann zuteilwerden wird: eine Ausbildung, das beste Essen, medizinische Versorgung und die Möglichkeit, jedes nur erdenkliche Handwerk zu erlernen. Außerdem gebe ich euch mein Wort, dass jede von euch auf der Stelle und ohne Verzögerung gehen darf, sollte sie zu irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr für mich arbeiten wollen.«
Sie überlegte, was sie sonst noch anführen könnte, doch sie war schrecklich müde, und außerdem hatte sie bereits festgestellt, dass sie es hasste, Reden zu halten. Eine Stellungnahme zum Thema Loyalität wäre wohl angebracht. Aber was gab es da schon zu sagen? Schließlich wussten alle, dass es nur allzu leicht wäre, den Tod der Königin herbeizuführen, wenn sie erst in ihren Diensten standen. Und dass sie ihren eigenen immer vor Augen hätten. Sie gab es auf, öffnete die Arme und verkündete: »Entscheidet euch jetzt, in der nächsten Minute. Ich kann es nicht länger aufschieben.«
Die Wartenden überlegten oder starrten vielmehr hilflos auf ihre Kinder. Erst jetzt fiel Kelsea auf, dass Mace offensichtlich nur Frauen gewählt hatte, die keine Männer mehr hatten. Wobei, das stimmte nicht ganz. Ihr Blick wanderte zu der Verrückten aus ihrem Traum und dann in die Menge, wo sie ihren Gatten vermutete. Sie entdeckte ihn in ungefähr drei Metern Entfernung. Breitbeinig und mit verschränkten Armen stand er da.
Sie beugte sich zu Mace vor. »Warum die Dunkelhaarige in Blau?«
»Wenn wir sie erst einmal überzeugt haben, Lady, wird sie Eure loyalste Dienerin sein.«
»Wer ist sie?«
»Keine Ahnung. Aber ich habe ein Gespür für solche Dinge, verlasst Euch darauf.«
»Sieht aus, als wäre sie nicht ganz zurechnungsfähig.«
»Das geht vielen Frauen so, wenn ihre Kinder verladen werden. Ich misstraue eher denen, die sie widerstandslos hergeben.«
»Was ist mit ihrem Mann?«
»Seht genau hin, Lady.«
Kelsea musterte ihn, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches an ihm entdecken. Grimmig beobachtete er die Vorgänge, ein großer, dunkelhaariger Kerl mit ungekämmtem Bart und kräftigen Armen, die ihn als Tagelöhner auswiesen. Seine schwarzen Augen waren auf eine schmollende Art zusammengekniffen, die leicht zu interpretieren war: Es gefiel ihm nicht, dass er nicht gefragt wurde. Kelsea richtete ihren Blick auf die Frau, deren Augen zwischen ihrem Mann und ihren Kindern hin und her huschten. Sie war hager, mit Armen dürr wie Zweige, auf denen sich nachdunkelnde Flecke abzeichneten. Sie mussten von vorhin stammen, als ihr Mann sie vom Käfig weggezerrt hatte. Plötzlich entdeckte Kelsea noch weitere Blutergüsse. Einen an der Wange der Frau und einen großen, dunklen am Schlüsselbein, wo ein Mädchen gerade am Kragen ihres Kleids zerrte.
»Himmel, Lazarus, Eure Augen sind scharf. Am liebsten würde ich sie einfach mitnehmen.«
»Ich denke, sie wird von selbst mitkommen, Lady. Bobachtet und wartet ab.«
Pen und einige der neuen Gardisten waren zwischen den korpulenten, schwarzäugigen Mann und seine Frau getreten. Sie würden schnell und kompetent agieren. Trotz der Gefahr um sie herum fühlte sich Kelsea beinahe hoffnungsfroh … Vielleicht würde sie überleben? Gleich darauf fiel ihre Hoffnung in sich zusammen, und sie war nur noch erschöpft. Sie wartete einige Augenblicke ab, bevor sie schließlich verkündete: »Wir machen uns auf den Weg in die Festung. Alle, die mich begleiten möchten, sollen mir willkommen sein.«
Langsam ritt die Kompanie den Abhang hinunter. Aus dem Augenwinkel sah Kelsea, dass die Verrückte ihre Kinder wie einen weiten Rock um sich scharte und fest an sich drückte. Dann nickte sie, murmelte ein paar ermutigende Worte, und das ganze Grüppchen setzte sich in Bewegung. Mit einem Schrei sprang ihr Mann auf sie zu und blieb abrupt stehen, als ihm Pens Schwertspitze entgegenragte. Ruckartig hielt Kelsea ihr Pferd an.
»Reitet weiter, Lady. Sie halten ihn im Zaum.«
»Kann ich den Kindern den Vater wegnehmen, Lazarus?«
»Ihr könnt tun, was immer Ihr wollt, Lady. Ihr seid die Königin.«
»Aber was sollen wir mit all den Kindern anfangen?«
»Kinder sind gut, Lady. Sie machen Frauen berechenbar. Und nun: ganz ruhig.«
Kelsea drehte sich wieder nach vorne und blickte der Festung entgegen. Es fiel ihr schwer, die Gardisten in ihrem Rücken alles allein machen zu lassen. Sie hörte lautstarke Diskussionen und die gedämpften Geräusche eines Handgemenges. Gleichzeitig wusste sie, dass Mace recht hatte: Sich einzumischen hieße, dass sie ihrer Garde misstraute. Also ritt sie weiter, den Blick auch dann noch strikt geradeaus gerichtet, als eine Frau kreischte.
Während sie sich den Käfigen näherten, sah Kelsea, wie eine Menschenmenge ausschwärmte und sich in einem breiten Ring um ihre Wachen scharte. Sie drängten so dicht heran, dass einige von ihnen gegen die Flanken der Pferde gedrückt wurden. Alle schienen gleichzeitig auf sie einzureden, und sie verstand kein einziges Wort.
»Bogenschützen!«, bellte Mace. »Augen auf die Zinnen!«
Zwei Gardisten zückten ihre Bögen und schossen Pfeile ab. Der eine war noch sehr jung, wahrscheinlich sogar jünger als Kelsea, und auffallend hellhäutig. Sein Gesicht war weiß vor Angst und seine Zähne krampfhaft zusammengepresst. Sie wollte etwas Beruhigendes sagen, doch in diesem Moment schrie Mace: »Auf die Zinnen, verdammt!«, und sie machte den Mund wieder zu.
Als sie auf Höhe der Käfige angekommen waren, griff Mace nach Rakes Zügeln, brachte das Pferd zum Stehen und gab Kibb ein Zeichen. Dieser hielt plötzlich eine brennende Fackel in der Hand, die Mace an Kelsea weiterreichte. »Die erste Seite Eurer Geschichte, Lady. Macht was draus.«
Sie zögerte, nahm die Fackel entgegen und ritt zum nächstgelegenen Käfig. Wie ein einziger, riesiger Organismus machte ihr die Menge samt Gardisten Platz. Mace hatte Elston und Kibb mit einem Eimer Öl vorausgeschickt. Hoffentlich hatten sie alles ordentlich vorbereitet, sonst würde sie gleich ziemlich dumm dastehen. Beherzt umklammerte sie die Fackel, doch bevor sie sie werfen konnte, fiel ihr Blick auf einen der beiden Kinderkäfige – augenblicklich loderte die Flamme in ihrem Inneren wieder auf, und ihre Haut glühte.
Alles, was ich bis jetzt angeordnet habe, kann rückgängig gemacht werden. Aber wenn ich das jetzt durchziehe, gibt es kein Zurück mehr.
Wenn die Ladung nicht in Mortmesne ankam, würde die Rote Königin in Tearling einfallen. Kelsea dachte an Mhurn, ihren gut aussehenden blonden Gardisten, und an seine Geschichte von der letzten Mortinvasion. Tausende hatten gelitten und waren gestorben. Doch hier, direkt vor ihr, gab es einen Käfig, den man eigens für die Jungen und ganz und gar Hilflosen gebaut hatte, um sie Tausende Kilometer weit zu verschleppen, als Arbeitssklaven zu missbrauchen, zu vergewaltigen und verhungern zu lassen. Kelsea schloss die Augen und sah ihre Mutter, sah die Frau, von der sie ein Leben lang geträumt hatte. Die Weiße Königin auf ihrem Pferd. Schon jetzt hatte sich die Vision verdunkelt. Die Menschen, die der Königin zuwinkten, waren Vogelscheuchen, ausgemergelt vom langen Hungern. Das Blumengewinde auf ihrem Kopf welkte. Eine Krankheit ließ das Maul ihres Pferdes von innen heraus faulen. Und die Frau selbst … ein kriechendes, unterwürfiges Ding. Ihre Haut war so weiß wie die einer Leiche und doch in Schatten getaucht. Eine Kollaborateurin. Kelsea blinzelte das Bild weg, doch es war zu spät – es hatte sie bereits zum nächsten Schritt getrieben. Bartys Geschichte vom Tod tauchte in ihren Gedanken auf, die sie seit jener Nacht am Lagerfeuer nie wirklich vergessen hatte. Barty hatte recht. Es war besser, mit Würde zu sterben. Sie holte aus und schleuderte die Fackel in den Kinderkäfig.
Die Bewegung riss die Wunde an ihrem Hals wieder auf. Sie unterdrückte einen Schrei. Doch ein Schrei ging durch die Menge, und das Fahrwerk fing Feuer. Noch nie hatte Kelsea derart hungrige Flammen gesehen. In Windeseile wanderten sie über den Boden und kletterten unerklärlicherweise sogar an den Eisenstangen empor. In einer gewaltigen Stoßwelle breitete sich die Hitze über den Festungsrasen aus und warf die Leute um, die sich zu nah an den Käfig herangewagt hatten. Es war, als würde man vor einem glühenden Ofen stehen.
Wüste Verwünschungen ausstoßend, wogte die Menge auf das Feuer zu. Auch die Kinder wurden von der Hysterie ihrer Eltern erfasst und stimmten mit rot lodernden Augen in das Geschrei mit ein. Während Kelsea den Flammen zusah, spürte sie, wie das wilde Wesen in ihrem Inneren die Flügel anlegte und sie erleichtert, aber auch ein wenig enttäuscht zurückließ. Ein bisschen war es so gewesen, als hätte ein Fremder in ihr gewohnt. Ein Fremder, der aus irgendeinem Grund alles über sie wusste.
»Cae!«, rief Mace über die Schulter.
»Sir?«
»Zünde die anderen an.«
Auf Mace‘ Signal hin ritt die Kompanie weiter und ließ die Käfige hinter sich. Als sie die Zugbrücke erreicht hatten, stieg Kelsea ein widerlicher Gestank in die Nase, der aus dem Graben zu kommen schien. Ein ranziger Geruch, wie verrottendes Gemüse. Das Wasser war von einem tiefen Dunkelgrün. An der Oberfläche hatte sich eine Schicht aus trüb geliertem Schleim gebildet. Je weiter sie über die Brücke ritten, desto stärker wurde der Gestank.
»Wird das Wasser nicht hin und wieder abgelassen?«
»Vergebt mir, Lady, aber jetzt bitte keine Fragen.« Mace‘ Blicke schossen in alle erdenklichen Richtungen, über die Festung, in die Dunkelheit darüber, zurück zum Graben und auf die gegenüberliegende Seite. Sie verweilten auf den Torwachen, die zu beiden Seiten der Brücke postiert waren und keine Anstalten machten, Kelsea zu stoppen. Einige verbeugten sich sogar, als sie an ihnen vorbeiritt. Erst als die Menge versuchte, ihr in die Festung zu folgen, traten die Männer widerwillig in Aktion, um die Brücke zu blockieren und die Menschen ans Ufer zurückzutreiben.
Wie ein dunkles Loch klaffte das Tor der Festung vor ihnen auf. Nur ab und an wurde es vom flüchtigen Flackern einer Fackel erhellt. Kelsea schloss die Augen und öffnete sie dann wieder. Allein das kostete sie schon all ihre Kraft. Drinnen wartete ihr Onkel auf sie, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm jetzt gegenübertreten sollte. Ihre Abstammung – einst eine Quelle geheimen Stolzes – schien nicht viel feiner als eine Kloake. Ihr Onkel war Abschaum und ihre Mutter … Sie hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu rutschen, in dem es keinen Halt gab.
»Ich kann meinem Onkel heute nicht entgegentreten, Lazarus. Ich bin zu müde. Können wir das nicht verschieben?«
»Wenn Eure Majestät nur still wäre.«
Kelsea war von sich selbst überrascht, als sie zu lachen anfing. Gemeinsam passierten sie den düsteren Torbogen der Festung.
In ungefähr sechzig Metern Entfernung beobachtete der Fetch, wie das Mädchen samt Entourage die Brücke überquerte. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Ein cleverer Schachzug, den Frauen aus der Menge vorzuschlagen, mit zur Festung zu kommen. Bis auf eine waren ihr alle gefolgt.
Wer nur war der Vater des Mädchens? Eine kratzbürstige Intelligenz ging von ihr aus, die Elyssa nie für sich hätte beanspruchen können. Arme Elyssa. Den größten Teil ihres Hirns hatte sie morgens auf die Frage verwendet, was sie anziehen sollte. Kelsea war zehnmal so viel wert wie sie.
Neben dem Graben brannten die Kinderkäfige. Ein lodernder Scheiterhaufen, der hoch in der Dämmerung aufragte. Ein Gardist war zurückgeblieben, um auch die restlichen Gefängnisse in Brand zu stecken, doch die Leute (und selbst einige Soldaten) waren ihm zuvorgekommen. Nacheinander explodierten die Käfige in aufschießenden Stichflammen. Menschen riefen nach der Königin, und die Luft war erfüllt von Weinen.
Bewundernd schüttelte der Fetch den Kopf. »Bravo, Tearkönigin.«
Der Tisch des Zensus sah wie ein Ameisenhaufen aus, in dem ein grausames Kind mit einem Stock herumgebohrt hatte. Beamte eilten hin und her. Die Panik verlieh ihren Bewegungen etwas Flattriges, Fieberhaftes. Natürlich hatten sie die Konsequenzen des heutigen Tages sofort begriffen. Arlen Thorne war verschwunden. Aber er würde dem Mädchen nach dem Leben trachten, und er war ein sehr viel gerissenerer Gegner als ihr idiotischer Onkel. Der Fetch runzelte die Stirn, dachte einen Moment nach und sagte dann über die Schulter: »Alain.«
»Sir?«
»In Thornes Hirn braut sich was zusammen. Geh und finde raus, was es ist.«
Hinter ihm gab Lear seinem Pferd die Sporen, bis er sich auf einer Höhe mit ihm befand. Er wirkte schlecht gelaunt, und das war kein Wunder. Wenn sie ohne Verkleidung unterwegs waren, zog seine schwarze Hautfarbe alle Aufmerksamkeit auf sich. Er liebte es, wenn die Leute ihn wie gebannt anstarrten, während er eine seiner Geschichten zum Besten gab, doch zum Objekt der Neugierde zu werden, das hasste er.
»Thorne wird sich nicht auf Alain einlassen«, murmelte Lear. »Und wenn doch, ist seine Anonymität für immer dahin. Ist das Mädchen das wirklich wert?«
»Unterschätz sie nicht, Lear. Ich tu’s ganz bestimmt nicht.«
»Können wir den Regenten loswerden?«, fragte Morgan.
»Der Regent gehört mir, und wenn ich die Kleine nicht falsch eingeschätzt habe, kann ich ihn schon bald schachmatt setzen. Viel Glück, Alain.«
Ohne ein weiteres Wort machte Alain auf seinem Pferd kehrt und ritt zurück Richtung Stadt. Als er in der Menge verschwunden war, schloss der Fetch die Augen und senkte den Kopf.
Jetzt hängt so viel von diesem jungen Mädchen ab, dachte er grimmig. Gott würfelt mit uns.