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Kräuselungen im Teich

»Nach der Krönungszeremonie ward die Glynn-Königin
fünf Tage lang nicht in der Festung gesehen. Einen Großteil
der Zeit war sie bewusstlos, da man ihr mit einem Messer
eine Wunde zugefügt hatte, an der sie fast verblutet wäre.
Von nun an würde sie für den Rest ihres Lebens eine Narbe auf dem Rücken tragen, und ebenjener hatte sie den Beinamen »Die Gezeichnete Königin« zu verdanken – und nicht, wie so oft vermutet, dem Brandmal auf ihrem Arm.

Doch während die Königin schlief, hörte die Welt nicht auf, sich zu drehen.«

Die Frühgeschichte Tearlings, wie Merwinian sie erzählt

22857.jpg ls Thomas am nächsten Morgen erwachte, hoffte er, die Krönungszeremonie sei nichts weiter als ein böser Traum gewesen. Mit aller Kraft klammerte er sich an diese Vorstellung, obwohl ein Teil von ihm wusste, dass er falschlag. Irgendwas war schiefgelaufen.

Der erste Hinweis war Anne, die neben ihm schlief und ihre manikürten Hände ins Kissen krallte. Sonst lag immer Marguerite neben ihm. Anne schien nichts weiter als ein dürftiger Ersatz. Sie war kleiner und rund­licher. Außerdem kräuselte sich ihr rotes Haar, während das von Marguerite sie wie ein leuchtender Lavafluss umströmte. Auch wenn Anne den schöneren Mund hatte – eine Marguerite war sie nicht. In Thomas‘ Kopf pochte es. Wohl der Beginn eines Katers. Marguerite. Sie war definitiv ein Teil des Problems.

Er wälzte sich auf die Seite, vergrub den Kopf in einem Kissen und versuchte, die Geräusche aus dem Nebenzimmer auszublenden. Es klang, als würde jemand Kisten hin und her rücken, eine Mischung aus Schiebegeräuschen und dumpfem Poltern, bei der man unmöglich wieder einschlafen konnte. Doch das Kissen ließ das Hämmern in seinem Kopf nur noch stärker werden. Leise fluchend, legte er es beiseite, läutete nach Pine und zog sich die Decke über den Kopf. Pine würde den Lärm stoppen.

Jetzt erinnerte er sich: Die Kleine hatte Marguerite mitgenommen. Ausgerechnet auf diese eine Person in seinem Leben hatte sie sich kaprizieren müssen, deren Verlust er nicht ertrug. Als das Messer des Gardisten sie getroffen hatte, war für einen kurzen Augenblick Hoffnung in Thomas aufgeflammt. Doch dann hatte er mitansehen müssen, wie sie sich taumelnd aufgerichtet und die Zeremonie zu Ende gebracht hatte – ein Akt absoluter Willenskraft. Sie hatte ihm Marguerite genommen, nun würde sie jeden Abend mit ihr ins Bett gehen … Verfluchte Kopfschmerzen! Als würden sie von einem Blasebalg angefacht.

Und dennoch, vielleicht gab es noch Hoffnung. Schließlich hatte das Mädchen eine Menge Blut verloren.

Inzwischen waren einige Minuten verstrichen und immer noch kein Pine. Thomas schlug die Decke zurück, um erneut nach ihm zu läuten. Neben ihm bewegte sich Anne und seufzte. War sie also auch von dem Lärm geweckt worden. Dann war es nicht bloß der Kater, der ihn so empfindlich reagieren ließ. Sondern der infernalische Radau da draußen. Gestern hatten sie ganze drei Flaschen Wein versoffen, und den vertrug Anne normalerweise schlecht.

Pine kam nicht.

Fluchend setzte sich Thomas auf. Schon oft hatte er eine seiner Frauen für die Nacht an Pine ausgeliehen, doch damit gab der sich selten zufrieden. Eins war klar, wenn Thomas seinen Leibwächter bei Sophie im Bett erwischte, würde er ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen.

Endlich entdeckte er sein Morgengewand unter einem Haufen Kleider in einer Ecke, doch der Seidengürtel hing nicht mehr in den Schlaufen. Wieder fluchte Thomas, lauter diesmal, und blickte zu Anne hinüber, die sich auf die Seite drehte und ihren Kopf unter ein Kissen steckte. Thomas zog das Gewand fest um seinen Körper und hielt es vorne zu. Hätte Pine sich die Mühe gemacht, seine Kleider aufzuhängen, wäre das nicht passiert. Wenn er ihn erst aufgespürt hatte, war es Zeit für ein ernstes Gespräch. Zuerst reagierte er nicht auf das Klingeln, dann die schmutzige Wäsche überall … Und war ihnen nicht vor ein paar Tagen erst der Rum ausgegangen? Himmel, hier brach wirklich alles zusammen, und das zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt.

Das Gesicht des Mädchens erschien vor seinem geistigen Auge. Dieses runde Gesicht, das zu jeder x-beliebigen Bäuerin Neulondons gepasst hätte. Ihre Augen allerdings … Dasselbe Katzengrün wie seine eigenen. Und sie hatten sich wie ein Pfeil in ihn hineingebohrt.

Sie durchschaut mich, dachte er hilflos. Sie sieht alles.

Aber nein, natürlich sah sie nicht alles. Manches konnte sie vielleicht erahnen, aber wirklich wissen konnte sie nichts. Abgesehen davon war Arlen Thorne stets auf alles vorbereitet und sicher schon dabei, einen seiner berühmten Notfallpläne in die Tat umzusetzen. Sollte die Lieferung nicht klappen, hatte Thorne genauso viel zu verlieren wie er selbst. Allerdings gab sich der Oberste Zensor keine Mühe zu verhehlen, dass er nichts als Verachtung für ihn empfand. Stets hatte er ihm nur das gesagt, was er wissen musste, um seinen Part zu erledigen. Erst jetzt wurde Thomas klar, wie gut Thorne seine Sache gemacht hatte und wie effektiv er jedem Risiko aus dem Weg gegangen war. Denn obwohl er sich den Plan selbst ausgedacht hatte, war aus dem Zensus niemand involviert gewesen. Im Gegenteil, die Ablenkungsmanöver hatten Thomas‘ Wachen inszeniert. Insofern hätte niemand außer ihm Thorne verdächtigen können. Und jetzt war Thomas selbst der Verdächtige.

Er war schon wieder so gebläht, dass er sein Morgengewand kaum zubekam und es nur über dem Bauch und über der Leiste zusammenhalten konnte. Als er es vor sechs Monaten in Auftrag gegeben hatte, war er noch nicht so fett gewesen. Doch irgendwann hatte er erkennen müssen, dass niemand das Mädchen finden und rechtzeitig töten würde. Und da hatte er immer größere Mengen in sich hineingestopft und auch beim Trinken jedes Maß verloren … Es war aber auch zum Verrücktwerden! Nicht mal die Caden hatten Erfolg gehabt, obwohl die doch sonst alles und jeden zu fassen bekamen.

Thomas ging zur Tür. Selbst wenn Pine die Klingel ignorierte, würde er spätestens dann herbeieilen, wenn er ihn schreien hörte. Der Trakt des Regenten war nicht so groß und luxuriös wie der der Königin, und jeder Laut wurde sofort weitergetragen. Schon vor Jahren hatte Thomas versucht, Elyssas Gemächer für sich zu beanspruchen, doch Carroll und Mace hatten sich ihm vehement in den Weg gestellt. Damals war Thomas aufgegangen, dass sie sich alle noch in der Festung befanden, die gesamte Garde, und dass sie nach wie vor hofften, die Königin eines Tages auftauchen zu sehen. Und was noch schlimmer war – sie rekrutierten Anhänger.

Mace hatte mitten hineingegriffen ins düstere Herz Tearlings, in dem er sich auskannte wie kein Zweiter, und Pen Alcott zutage gefördert, der das Schwert mindestens ebenso gut führen konnte wie die Caden. Und obwohl er als Gardist der Königin nur den halben Sold erhielt, hatte er in das Angebot eingewilligt. Auch Thomas hatte einige Male versucht, Alcott und ein paar der anderen für sich zu gewinnen, doch keiner hatte sich je mit ihm verbünden wollen. Bis gestern hatte Thomas keine Ahnung gehabt, weshalb. Jetzt hingegen sah er die Dinge in einem anderen Licht. Das Mädchen war wirklich überhaupt nicht wie er. Und – wenn er es recht bedachte – auch nicht wie Elyssa.

Sie ist das Kind ihres Vaters, dachte Thomas bitter. Drei Schwangerschaftsabbrüche hatten sie für Elyssa arrangieren müssen (zumindest wusste er nur von dreien), weil sie den verdammten Sirup genauso nachlässig gehandhabt hatte wie alles andere auch. Und ausgerechnet die letzte Abtreibung, die ihm so auf den Nägeln gebrannt hatte, hatte sie verweigert. In ihren letzten Jahren hatte Elyssa schreck­liche Angst vor ihrem Arzt gehabt und sogar einen potenziellen Mörder in ihm gesehen. Wenn Thomas ehrlich war, musste er zugeben, dass es wohl wirklich nicht schwer war, eine Frau während eines solchen Eingriffs zu töten. Und ebendieses Wissen verbitterte ihn noch mehr. Das war so unglaublich typisch für Elyssa, erst drei Schwangerschaften abzubrechen und dann aus den völlig falschen Gründen genau das Kind zu bekommen, das alles noch schwieriger machte. Pine hatte ihm gestern gesagt, das Mädchen würde schon im Trakt der Königin wohnen. Die massiven Türen seien verschlossen und überall Wachen postiert. Damit war jede Hoffnung dahin, dass Thomas je in Elyssas Gemächer einziehen konnte.

Dennoch, es hätte schlimmer kommen können. Sein eigener Trakt war schließlich auch recht komfortabel, und es gab genug Platz für seinen persön­lichen Leibwächter, sämt­liche Frauen und die Kammerdiener. Als Thomas eingezogen war, hatte es hier noch recht trist ausgesehen. Dann hatte er die Zimmer mit ein paar Bildern seines Lieblingskünstlers Powell aufgepeppt. Pine wiederum hatte eine deckende Goldfarbe aufgetan – eine preiswerte Möglichkeit, seine Umgebung so richtig schön königlich aussehen zu lassen. Und seit Thomas sich die Unterstützung der Roten Königin gesichert hatte, ließ sie ihm kostspielige Geschenke zukommen, die mittlerweile über seine gesamten Gemächer verteilt waren. Da gab es zum Beispiel die schweren tiefroten Samtvorhänge, dann die massive Silberstatue, die eine nackte Frau darstellte, und das echte, mit Rubinen veredelte Goldgeschirr. Letzteres gefiel Thomas so sehr, dass er sich jedes Abendessen darauf servieren ließ. Von Zeit zu Zeit allerdings kam ihm der unangenehme Gedanke, dass ihn die Rote Königin genauso benutzte wie der Tearadel seine Aufseher.

Thomas war der Puffer, ein nötiger Mittelsmann zwischen den Mächtigen und den Machtlosen. Seit Elyssas Tod richtete sich der gesamte Hass der Tear auf ihn. Sollten die Armen je aufbegehren, würden sie seinen Kopf fordern. Zweifellos würde ihn die Rote Königin gerne opfern. Ebenso zweifellos würden sich die Adligen verbarrikadieren und ihre Aufseher dem Mob vorwerfen. Eine unangenehme Erkenntnis, die er nicht immer verdrängen konnte … Andererseits war die Vorstellung von einem Aufstand der Armen nicht nur weit hergeholt, sondern schlichtweg lachhaft. Schließlich waren sie viel zu sehr mit der Frage beschäftigt, wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekommen sollten.

Als Thomas die Tür öffnete, wurde er von einem gleißenden Licht geblendet. Er kniff die Augen zusammen. Die Szene, die sich ihm in seinem Aufenthaltsraum bot, ließ ihn abrupt innehalten. Das Erste, was er sah, war das goldene Rubingeschirr, das von einem Bediensteten in weißer Uniform in eine Eichenholzkiste gepackt wurde. Und das nicht allzu behutsam. Da die Dienerschaft alles stahl, was nicht niet- und nagelfest war, hatte sie keinen Zutritt zu den Privatgemächern des Regenten. Und doch stand nun einer von ihnen hier, und er schien ziemlich beschäftigt. Laut scheppernd, schichtete er einen goldenen Teller auf den anderen. Thomas schauderte.

Und noch etwas zog seine Aufmerksamkeit auf sich: seine roten Samtvorhänge. Sie waren verschwunden, heruntergerissen von der Wand auf der Ostseite. Durch die weit geöffneten Fenster flutete Sonnenlicht herein. Die beiden Statuen, die sonst gegenüber in den Zimmerecken standen, waren verschwunden. Auf der Nordseite stapelten sich ungefähr zwanzig Bierfässer und daneben Kisten über Kisten mit Mortwein. Ein weiterer Bediensteter stellte Whiskeyflaschen in einer Reihe auf. In einigen davon befand sich richtig guter Stoff. Thomas hatte ihn auf dem Whiskey-Festival erstanden, das jedes Jahr im Juli auf den Straßen Neulondons abgehalten wurde. Neben den Fässern wartete ein riesiger Karren. Der Grund dafür war nur allzu offensichtlich: Seine gesamten Alkoholvorräte sollten fortgeschafft werden.

Thomas umklammerte das Revers seines Gewands und stürmte zu dem Bediensteten hinüber, der mit dem Gold­geschirr hantierte. »Was glaubst du, was du da tust?!«, fragte er.

Ohne ihn anzusehen, deutete der Diener mit dem Daumen über seine Schulter. Thomas‘ Blick folgte der Bewegung. Er merkte, wie ihm die Knie weich wurden. Neben den Bierfässern stand Coryn und notierte etwas auf ein Blatt Papier. Seinen grauen Umhang trug er nicht, aber die Dienerschaft gehorchte ihm auch so.

»He! Gardist der Königin!«, rief Thomas. Am liebsten hätte er mit den Fingern geschnippt, doch er fürchtete, seine Robe würde sich öffnen. »Was soll das?«

Coryn steckte den Zettel weg. »Befehl der Königin. All diese Güter sind Eigentum der Krone und müssen noch heute von hier verschwinden.«

»Was denn für ein Eigentum der Krone? Sie gehören mir! Ich habe das alles hier erworben.«

»Dann hättet Ihr es nicht in der Festung aufbewahren dürfen, denn damit untersteht es dem Zugriff der Krone.«

»Ich habe nicht …« Die Antwort des Wachmanns brachte Thomas ins Grübeln. Konnte das wirklich sein? Aber da musste es doch irgendein Schlupfloch für die Mitglieder der könig­lichen Familie geben! Er hatte sich nie ernsthaft mit den Gesetzen Tearlings befasst, nicht mal, als er noch ein Kind war und man ihn zum Studium angehalten hatte. Regierungsangelegenheiten waren einfach uninteressant. Abgesehen da­­von hatte Elyssa auch nie gelernt, und sie war immerhin die Erstgeborene, zur Hölle noch mal. Thomas hielt nach einem anderen Gegenstand Ausschau, über den sich eine Diskussion anzetteln ließ. Wieder fiel sein Blick auf das goldene Geschirr in der Kiste. »Da! Das war ein Geschenk!«

»Von wem?«

Thomas presste die Kiefer aufeinander. Erneut drohte seine Robe aufzuspringen. Er griff in einen Faltenwurf und zog daran, wobei ihm schmählich bewusst wurde, dass Coryn einen Blick auf seinen geblähten weißen Bauch werfen konnte.

»Euch stehen persön­liche Gegenstände, Kleidung und Schu­­he zu. Ebenso sämt­liche Waffen, die sich eventuell in Eurem Besitz befinden«, fuhr Coryn fort. Seine blauen Augen wirkten aufreizend teilnahmslos. »Aber Euren ausschweifenden Lebensstil wird die Krone nicht länger finanzieren.«

»Und wovon soll ich leben?«

»Die Königin gibt Euch einen Monat Zeit, um die Festung zu räumen.«

»Was wird aus meinen Frauen?«

Coryns Gesicht verharrte in seinem geschäftsmäßigen Ausdruck, doch Thomas spürte die Verachtung, die wie Hitze von ihm abstrahlte. »Eure Frauen können tun und lassen, was sie wollen. Sie dürfen ihre Kleider behalten, nur der Schmuck wurde bereits konfisziert. Sollte eine von ihnen mit Euch gehen wollen, steht ihr dies frei.«

Thomas starrte ihn an. Er dachte über eine mög­liche Rechtfertigung nach, darüber, dass diese Frauen ein Leben in tiefster Armut geführt hätten, wären sie nicht zu ihm gekommen. Dass sie allesamt in seinen Handel eingewilligt hatten – nun ja, alle außer Marguerite, aber die war eben einfach schwierig. Die Sonne war zu hell und verlangsamte sein Denken. Wann hatte er zum letzten Mal die Vorhänge geöffnet? Das musste Jahre her sein. Licht durchflutete den Raum und tauchte ihn in ein strahlendes Weiß. Keine Spur mehr von dem gewohnt dumpfen Grauton. An den Wänden wurden plötzlich nie ausgebesserte Risse sichtbar, auf den Teppichen Wein- und Speiseflecke. In einer Ecke lag ein Karobube, wie ein Floß, das ziellos auf dem Gottesmeer trieb.

Du lieber Himmel, wie viele Partien habe ich ohne diese Karte gespielt?

»Ich habe keine meiner Frauen geschlagen«, sagte er.

»Beeindruckend.«

»Sir!«, rief ein Diener. »Wir können jetzt die Spirituosen auf den Karren laden.«

»Dann mal los!« Coryn neigte den Kopf und musterte Thomas. »Noch irgendwelche Fragen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich weg und begann, die erste Kiste zu vernageln.

»Wo ist Pine?«

»Wenn Ihr Euren Leibwächter meint – den habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht hat er etwas anderes zu tun.«

»Ja«, erwiderte Thomas nickend. »Ja, das hatte er. Ich habe ihn heute früh runter zum Markt geschickt.«

Coryn murmelte etwas Unverbind­liches.

»Wo sind meine Frauen jetzt?«

»Keine Ahnung. Aber den Verlust ihres Schmucks haben sie nicht besonders gut aufgenommen.«

Thomas zuckte zusammen. Natürlich nicht. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und vergaß dabei ganz auf sein Gewand, das nun endgültig aufklaffte. Sofort zerrte er wieder daran. Irgendein Diener kicherte, doch als sich Thomas umsah, gingen sie alle mit unbeteiligter Miene der Erfüllung ihrer Aufträge nach.

»Sobald ich ein bisschen freie Zeit übrig habe, werde ich die Königin um ein Gespräch ersuchen. Aber das könnte noch ein paar Tage dauern.«

»Ja, könnte es.«

Thomas zögerte. Was war denn das für eine Antwort? Hatte eine Drohung darin gelegen? Schließlich drehte er sich um und trottete zu den Gemächern seiner Frauen. Was sollte er ihnen bloß sagen? Petra und Lily würden wohl nicht mit ihm kommen. Sie waren gleich nach Marguerite die rebellischsten. Doch die anderen würde er vermutlich überzeugen können. Allerdings musste er erst mal an Geld kommen. Unter seinen Freunden befanden sich viele Adelige, die ihm helfen würden. In der Zwischenzeit konnte er im Arvath bleiben. Der Heilige Vater würde nicht wagen, ihn abzuweisen. Nicht nach all dem Gold, das Thomas ihm über die Jahre in den Rachen geworfen hatte. Selbst die Rote Königin würde willens sein, ihn zu finanzieren. Er musste ihr nur klarmachen, dass er in Kürze wieder auf dem Thron sitzen würde. Doch ihm graute vor dem Gedanken, sie darum bitten zu müssen.

Der Aufenthaltsraum der Frauen war mit Papier und Lebensmitteln übersät. Schränke standen offen, Schubladen waren herausgerissen, und überall lagen Kleidungsstücke herum. Wie lange hatte Coryn hier drin gewütet? Er musste ziemlich früh gekommen sein, kurz nachdem Thomas zu Bett gegangen war wahrscheinlich.

Pine hat ihm die Tür geöffnet, begriff er. Pine hat mich verraten.

Außer Anne war niemand da. Bestimmt war sie aufgestanden, während er mit Coryn gesprochen hatte. Inzwischen hatte sie sich beinahe vollständig angezogen und ihr eben noch wildes Haar ordentlich hochgesteckt.

»Wo sind die anderen?«, fragte er.

Anne zuckte die Achseln und band ihr Kleid mit schnellen, geschickten Fingern am Rücken zusammen. Thomas fühlte sich hintergangen. Wozu bezahlte er eigentlich all die Zofen, wenn seine Frauen am Ende doch alles selbst machten? »Was soll das heißen?«

»Soll heißen, ich habe sie nicht gesehen.« Anna griff nach ihrem Koffer und begann, ihre Sachen zusammenzupacken.

»Was machst du da?«

»Ich packe. Aber irgendjemand hat meinen Schmuck verräumt.«

»Der ist weg«, erwiderte Thomas gedehnt. »Konfisziert von der Königin.« Er setzte sich auf ein Sofa in unmittelbarer Nähe und starrte sie an. »Was tust du da? Was soll das? Keine von euch kann irgendwo anders hin.«

»Natürlich können wir das.« Sie wandte sich zu ihm um. In ihren Augen sah Thomas dieselbe Verachtung wie vorhin bei Coryn. Eine Erinnerung kräuselte seine Gedanken, doch er verdrängte sie. Sie hatte etwas mit seiner Kindheit zu tun, das spürte er, und nur wenig aus seiner Kindheit war gut.

»Wo gehst du hin?«

»Zu Lord Perkins.«

»Aber warum?«

»Was glaubst du denn? Weil er mir schon vor Monaten ein Angebot unterbreitet hat.«

Was für ein Verrat! Lord Perkins war sein Pokerpartner und einmal im Monat zum Abendessen bei ihm. Der Mann war alt genug, um Annes Vater zu sein.

»Was für ein Angebot?«

»Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.«

»Sind die anderen auch zu ihm?«

»Nein.« Stolz sprach aus Annes Stimme. »Das Angebot hat er nur mir gemacht.«

»Aber das ist doch alles bloß vorübergehend! In ein paar Monaten sitze ich wieder auf dem Thron! Dann könnt ihr alle zu mir zurückkommen.«

Anne starrte ihn an, als wäre er eine Kakerlake, die sich in ihrer Küche herumtrieb. Jetzt gab es kein Halten mehr – die Erinnerung brach mit voller Wucht an die Oberfläche. Thomas versuchte, dagegen anzukämpfen, doch plötzlich war sie da: Königin Arla, die ihn auf genau diese Art gemustert hatte, damals, als er und Elyssa noch gemeinsam unterrichtet worden waren. Das Lernen war ihnen beiden schwergefallen, doch Elyssa hatte meistens noch ein bisschen mehr begriffen. Während Thomas seine Ausbildung nach dem zwölften Jahr abbrach, machte sie mit der Erzieherin weiter. Eine Zeitlang versuchte Mum, mit ihm über Politik zu sprechen, über die Zustände im Reich und über die diversen Abkommen mit Mortmesne. Doch Thomas war nie in der Lage, den Kern ihrer Lektionen zu erfassen – etwas, das ihm wohl intuitiv hätte gelingen müssen. Der Blick in Mums Augen wurde immer intensiver, und irgendwann stellte sie die Unterhaltungen einfach ein. Danach bekam er sie kaum noch zu Gesicht. Endlich durfte er tun, was er schon immer hatte tun wollen: den Tag verschlafen und nachts das Gut aufmischen. Jahrelang hatte keiner gewagt, ihm mit so unverhohlener Verachtung zu begegnen. Und nun stand er hier – und fühlte sich wieder genauso jämmerlich wie damals als Kind.

»Du verstehst es wirklich nicht, oder?«, fragte Anne. »Sie hat uns befreit, Thomas. Vielleicht sitzt du bald wieder auf dem Thron, vielleicht aber auch nicht. Keine Ahnung. Doch von uns wird garantiert keine zurückkommen.«

»Aber ihr wart doch keine Sklavinnen! Ihr hattet von allem nur das Beste! Ich habe euch wie Edelfrauen behandelt. Und ihr musstet nie arbeiten.«

Annes Augenbrauen schossen in die Höhe, und ihr Gesicht verdüsterte sich. Mit donnernder Stimme erwiderte sie: »Nicht arbeiten? Wie würdest du es denn nennen, wenn Pine mich um drei Uhr morgens weckt, um mir zu sagen, dass du bereit für mich bist. Und ich dann in dein Zimmer muss, um Petra die Möse zu lecken. Und das alles nur zu deinem Vergnügen!«

»Ich habe dich bezahlt«, flüsterte Thomas.

»Du hast meine Eltern bezahlt. Du hast ein hübsches Sümmchen vorgestreckt, als ich vierzehn war und zu jung, um irgendwas von alldem zu begreifen.«

»Ich habe für dein Essen und deine Kleider gelöhnt! Und ich habe dir Schmuck geschenkt!«

Statt einer Antwort schaute sie durch ihn hindurch. Auch diesen Blick kannte er von Königin Arla, für die er in den letzten zehn Jahren ihres Lebens schlicht unsichtbar gewesen war. Und nichts, was er sagte, hätte daran etwas ändern können.

»Du solltest aus Tearling verschwinden«, bemerkte Anne. »Hier bist du nicht sicher.«

»Was meinst du?«

»Mace ist der Captain ihrer Garde, und du wolltest sie umbringen lassen. Wenn ich du wäre, würde ich das Land verlassen.«

»Aber das ist doch alles nur vorübergehend!« Warum verstand das bloß niemand außer ihm? Schon jetzt hatte sich das Mädchen Thorne und ganz Mortmesne zum Feind gemacht. Auch wenn Thomas jede Art von Regierungsgeschäften hasste, das Mortabkommen zumindest hatte er gelesen. Die Verzugsklausel würde in den nächsten sieben Tagen in Kraft treten. Wenn die Lieferung dann nicht in Demesne ankam … Der Gedanke überstieg seine Vorstellungskraft. Niemand hatte die Rote Königin je wütend gesehen. Schon in ihrem Schweigen lag der Untergang der Welt. Plötzlich tauchte ein schaurig realistisches Bild vor seinem inneren Auge auf: Morthabichte, die um die Türme der Festung kreisten und im Sturzflug herabschossen. Ständig auf der Jagd. »Nächsten Monat hängt ihr Kopf an der Mauer von Demesne.«

Anne zuckte die Achseln. »Wenn du meinst.«

Sie schritt durchs Zimmer, nahm einen weiteren Stapel Kleider aus ihrer Schublade und hob eine Bürste vom Boden auf. Banale Tätigkeiten, die Thomas bedeuten sollten, dass er entlassen war. All die offenen Schubladen … Jetzt wurde ihm wirklich klar, seine Frauen waren mit all ihren Kleidern auf und davon.

Vielleicht hatte Anne recht. Natürlich konnte er nach Mortmesne reisen und die Königin um Gnade bitten. Andererseits war sie seiner schon lange überdrüssig, und es lag durchaus im Bereich des Mög­lichen, dass sie ihn direkt an den Scharfrichter weiterreichte. Abgesehen davon: Wie sollte er unbemerkt aus der Festung gelangen? Irgendwo da draußen trieb sich der Fetch herum, der alles zu wissen und alles vorauszuahnen schien.

Das steinerne Bollwerk der Festung war nur ein unzureichender Schutz. Wie ein Geist drang er überall ein. Trotzdem war es besser als nichts, besser, als ihm auf freiem Feld ausgeliefert zu sein. Sollte Thomas jedoch versuchen, zur Mortgrenze zu gelangen, würde der Fetch todsicher dahinterkommen. Und egal, von wie vielen Gardisten sich Thomas auch begleiten ließ, eines Nachts würde er die Augen öffnen und dieses Gesicht über sich sehen. Diese schreck­liche Maske.

Das allerdings würde voraussetzen, dass ihm überhaupt noch Gardisten zur Verfügung standen. Mehr als die Hälfte seiner Leute war bei dem Anschlag auf das Mädchen abgeschlachtet worden. Noch hatte niemand Anstalten gemacht, ihn festzunehmen, was ihm zunächst wie ein ausgesprochener Glücksfall erschienen war. Vielleicht, so hatte Thomas gedacht, hatte man seine Garde verdächtigt, die Verschwörung allein angezettelt zu haben? Doch jetzt, da er sich der Gleichgültigkeit in Coryns Stimme bewusst wurde, begriff er, dass dem nicht so war. Man wusste über ihn Bescheid. Es kümmerte keinen mehr.

Anne packte die Griffe ihres Koffers und ging zum Spiegel. Ohne ihren Schmuck sah sie irgendwie nackt aus, aber sie schien mit ihrem Anblick zufrieden. Lächelnd strich sie sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, und wandte sich zu ihm um. Ihre Augen schienen ihn zu versengen. Sie waren von einem warmen, strahlenden Blau, und Thomas fragte sich, wie er das je hatte übersehen können.

»Ich habe dich nie geschlagen«, erinnerte er sie. »Nicht ein einziges Mal.«

Anne lächelte. Ein freund­liches Grinsen, das die in ihren Mundwinkeln sitzende Abschätzigkeit nicht verbarg. »Kleider, Schmuck, Essen und Gold. Du glaubst, du hättest bezahlt, Thomas. Hast du aber nicht. Nicht mal annähernd. Aber das wirst du schon noch.«

Als Pater Tyler den letzten Bissen Huhn runtergeschluckt hatte, legte er seine Gabel mit zitternder Hand zur Seite. Er hatte Angst. Die Einbestellung war genau in dem Moment eingetroffen, als er sich zum Mittagessen niedergelassen hatte. Nur etwas weichgekochtes Huhn, das vollkommen fad schmeckte. Tyler hatte sich nie viel aus Essen gemacht, doch in den vergangenen beiden Tagen hatte er seine Mahlzeiten nur mehr mechanisch zu sich genommen und nichts als Staub geschmeckt.

Zunächst war er ja hocherfreut gewesen ob seiner tragenden Rolle in diesem historischen Moment. Viele solche Momente hatte es in seinem Leben nicht gegeben. Er war als eines von sieben Kindern auf einem Bauernhof groß geworden und mit acht an den ört­lichen Priester verkauft worden, damit sein Vater die fällige Abgabe begleichen konnte. Tyler hatte ihm diesen Entschluss nie verübelt. Auch damals nicht. Er war eben eines von zu vielen Kindern, und es hatte nie genug zu essen gegeben.

Der Priester, Pater Alan, war ein guter Mann, der wegen seiner schlimmen Gicht einen Assistenten brauchte. Er brachte Tyler das Lesen bei und schenkte ihm seine erste Bibel. Mit dreizehn half Tyler ihm beim Verfassen der Predigten. Obwohl seine Gemeinde aus gerade mal dreizehn Familien bestand, konnte sich der Pater bald nicht mehr um sie kümmern. Als sich seine Gicht verschlimmerte, übernahm Tyler die Hausbesuche und hörte sich die Sorgen der Familien an. Und auch wenn er noch gar nicht zum Priester geweiht worden war, nahm er den Alten und Schwachen, die es nicht mehr zur Kirche schafften und sich von ihren Sünden befreien wollten, die Beichte ab. Strenggenommen beging er damit wohl selbst eine Sünde, doch er glaubte nicht, dass Gott etwas dagegen hatte. Schon gar nicht, wenn die Betreffenden bald sterben mussten.

Als Pater Alan nach Neulondon in ein höheres Amt berufen wurde, durfte Tyler mit ihm gehen. Er beendete seine Ausbildung im Arvath und empfing im Alter von siebzehn Jahren die Weihe. Man hätte ihm eine eigene Gemeinde zuteilen können, doch seine ranghöheren Amtsbrüder hatten längst begriffen, dass Tyler sich nicht für den Dienst in der Öffentlichkeit eignete. Er hatte mehr Freude an seinen Recherchen als an Menschen, arbeitete gern mit Tinte und Papier. Und so wurde er einer von dreißig Arvath-Buchhaltern, dokumentierte die Zahlungen des Zehnten und sämt­liche Abgaben der angrenzenden Gemeinden. Es war ein entspanntes Arbeiten. Hin und wieder versuchte ein Kardinal, seinen Lebensstandard zu verbessern und etwas von dem Einkommen seiner Gemeinde zu hinterziehen. Ungefähr einen Monat lang herrschte dann ein wenig Aufregung. Doch in der Regel war die Buchhalterei ein ruhiges Geschäft, das ihm viel Zeit zum Lesen und Nachdenken ließ.

Tyler starrte auf seine Bücher, die sich auf zehn Regale aus hochwertigem Teareichenholz verteilten und ihn fast einen ganzen Jahreslohn gekostet hatten. Die ersten fünf Bücher stammten von einer verstorbenen Frau aus seiner Gemeinde. Kardinal Carlyle hatte ihre gesamte Hinterlassenschaft auf die Seite geschafft. Nur die Bücher, die ihm wertlos erschienen waren, hatte er auf Tylers Schreibtisch gepackt und gesagt: »Ihr seid ihr Priester. Überlegt Euch, was Ihr damit anstellen wollt.«

Tyler war damals dreiundzwanzig gewesen und hatte die Bibel bereits einige Male gelesen. Welt­liche Bücher hingegen waren etwas vollkommen Neues für ihn. Also hatte er eins davon aufgeschlagen und mit der Lektüre begonnen, zunächst noch etwas flüchtig, dann immer faszinierter. Seite um Seite hatte er umgeblättert, beseelt von der gleichen freudigen Überraschung wie jemand, der Geld auf der Straße gefunden hat. Dies war der Tag, an dem er sich anschickte, zum Gelehrten zu werden. Doch das würde ihm erst Jahre später klar werden. Er konnte das Unvermeid­liche nicht länger hinauszögern. Tyler verließ sein kleines Zimmer und schlurfte den Korridor hinunter. Seit sieben oder acht Jahren litt er nun schon an einer schweren Arthritis in der linken Hüfte, doch sein langsames Tempo war weniger dem Schmerz als vielmehr seinem Widerwillen geschuldet. Er war ein guter Buchhalter. Sein Leben im Arvath war komfortabel gewesen, ein unaufhaltsames Fortschreiten der Zeit. Bis vor vier Tagen, als sich alles verändert hatte.

Er hatte das Mädchen in einem Zustand blanken Entsetzens gekrönt und sich dabei immer wieder gefragt, welch abwegige Laune des Schicksals Mace an seine Tür geführt hatte. Tyler war ein ergebener Priester, ein Asket, jemand, der an Gottes allmächtiges Wirken glaubte, das die Menschen die Überfahrt hatte durchstehen lassen. Schon seit Jahrzehnten hielt er keine Predigten mehr, und mit jedem Jahr zog er sich weiter in die Welt der Bücher, in die Vergangenheit zurück. Bei der Frage, wer das Mädchen krönen sollte, hätte der Heilige Vater mit Sicherheit als Letztes an ihn gedacht. Und doch hatte Mace an seine Tür geklopft. Und Tyler hatte gehorcht.

Ich bin ein Teil von Gottes großer Schöpfung. Der Gedanke kam wie aus dem Nichts, um im selben Moment wieder zu verschwinden. Er kannte die Geschichte der Tearmonarchie bis ins kleinste Detail. Nach der Ankunft war William Tears große sozialistische Vision schrittweise in sich zusammengefallen und hatte mit der Ermordung Jonathan Tears in einer blutigen Katastrophe gemündet. Die Raleighs traten die Thronfolge an – aber sie waren eben nicht die Tears, waren es nie gewesen. Nach ihrer Krönung verhielten sie sich nur noch töricht, genau wie jedes andere Herrschergeschlecht des alten Europa in Zeiten vor der Überfahrt. Zu viele Verwandtenehen und zu wenig Erziehung. Keinen von ihnen kümmerte die Neigung der Menschen, immer und immer wieder dieselben Fehler zu begehen. Aber Tyler wusste, dass Geschichte alles war. Die Zukunft bestand aus vergangenen Katastrophen, die nur darauf warteten, erneut auf den Plan gerufen zu werden.

Zum Zeitpunkt der Zeremonie hatte er noch nichts von den Geschehnissen auf dem Festungsrasen mitbekommen. Dies war der Preis für seine Zurückgezogenheit und seine andauernden Studien – eine beinahe erschreckende Unwissenheit, wenn es um aktuelle Geschehnisse ging. Doch in den letzten Tagen hatten ihn seine Kirchenbrüder nicht mehr in Frieden gelassen und fortwährend an seine Tür geklopft, vorgeblich, um seinen Rat zu einem theologischen oder historischen Problem einzuholen. Keiner von ihnen war bereit zu gehen, ohne etwas über die Thronbesteigung in Erfahrung gebracht zu haben. Im Gegenzug berichteten sie von den brennenden Käfigen und der Befreiung der Ausgelosten.

Heute Morgen schließlich hatte ihm Pater Wyde einen Be­­such abgestattet, nachdem er kurz zuvor noch Brot unter den Bedürftigen verteilt hatte, die sich um die Treppe des Arvath geschart hatten. Die Armen, erzählte Wyde, nannten das Mädchen »Wahrhafte Königin«, ein Begriff, den Tyler kannte. Er stand für eine weib­liche Spielart der Artus-Legende aus einer Zeit vor der Überfahrt – für den Traum von einer Königin, die das Land vor allen Gräueln bewahren und den Weg in ein goldenes Zeitalter ebnen würde. Die Wahrhafte Königin: ein Märchen, Balsam für geschundene Seelen. Und doch hatte Tylers Herz einen Satz gemacht, und er hatte aus dem Fenster blicken müssen, um seine tränenglänzenden Augen zu verbergen.

Ich bin ein Teil von Gottes großer Schöpfung.

Er hatte keine Ahnung, was er dem Heiligen Vater sagen sollte. Die Königin hatte sich geweigert, der Kirche Treue zu schwören, und sogar Tyler wusste um die Wichtigkeit eines solchen Schwurs. Dem Regenten mochte jeg­liches Gefühl für Moral abgehen, aber der Kontrolle des Heiligen Vaters hatte er sich nie entzogen. Im Gegenteil, er hatte riesige Summen gespendet, um eine Hauskapelle in der Festung errichten zu lassen. Würde ein wandernder Mönch des Weges kommen, Luthers alte Thesen predigen und dabei auf eine begeisterte Zuhörerschaft stoßen, er würde sofort von der Bildfläche verschwinden, und niemand würde je wieder von ihm hören. Über solche Dinge sprach man hier nicht. Doch Tyler war ein scharfsinniger Mann, der die Krankheit seiner Kirche nur allzu gut kannte. Und deshalb hatte er die Einsamkeit gewählt. Er liebte Gott aus ganzem Herzen und beabsichtigte, irgendwann in seinem kleinen Zimmer zu sterben, umgeben von Büchern. Stattdessen war er urplötzlich und auf unerklär­liche Weise in das bedeutungsvollste Ereignis seiner Zeit hineingezogen worden.

Als Tyler die marmornen Stufen zum Audienzzimmer des Heiligen Vaters erklomm, spürte er sein Herz im engen Käfig seiner Brust klopfen. Er wurde alt, ja, aber jetzt hatte er vor allem Angst. Die einzigen Worte, die der Heilige Vater je an ihn gerichtet hatte, waren Glückwünsche zu seiner Weihe gewesen. Vor fünfzig Jahren. Jetzt wurde er bald hundert. Auch in Tearling, wo sich die Reichen eines langen Lebens erfreuten, war eine solche Spanne beeindruckend. Allerdings hatten ihn Krankheiten heimgesucht – eine Lungenentzündung, Fieber und seltsame Verdauungsbeschwerden, die ihm den Genuss von Fleisch verboten. Doch während sein Körper gebrechlich wurde, war sein Verstand scharf geblieben. Er hatte den Regenten so geschickt manipuliert, dass die Kirchturmspitze des Arvath nun in purem Gold erstrahlte, ein Luxus, von dem man vor der Überfahrt noch nie gehört hatte. Sogar die Cadarese mit ihren unerschöpf­lichen Reichtümern hatten keinen solchen Tempel vorzuweisen.

Tyler schüttelte den Kopf. Der Heilige Vater war ein Götzendiener. Vielleicht galt das für sie alle. Nach dem unterlassenen Schwur des Mädchens hatte Tyler eine Entscheidung getroffen, vielleicht die erste seines Lebens. Die Bevölkerung von Tearling brauchte keine Königin, die einer von Habgier befallenen Kirche Loyalität entgegenbrachte. Sie brauchte einfach nur eine Königin.

Vor der Tür des Audienzzimmers standen zwei Messdiener. Trotz ihrer kahlen Köpfe und der abrasierten Augenbrauen waren sie vom gleichen wieselhaften Aussehen wie alle Bediensteten des Heiligen Vaters. Beide grinsten, als sie die Türen entriegelten. Ihre Botschaft war eindeutig: Du bist in Schwierigkeiten.

Ich weiß, dachte Tyler. Besser als jeder andere.

Er trat über die Schwelle und gab sich Mühe, den Blick gesenkt zu halten. Es hieß, der Heilige Vater könne sehr ungemütlich werden, wenn man ihm nicht genügend Respekt zollte. Die Wände und der Boden des Raums waren aus Stein, den von außen eindringende Feuchtigkeit weißlich gefärbt hatte. Durch die verglaste Dachluke fiel Licht herein und ließ den Raum gleißend erstrahlen. Es war extrem warm, und die Hitze konnte nirgends entweichen. Dem Heiligen Vater schien das nichts auszumachen, im Gegenteil. Seit seiner Lungenentzündung, hieß es, würde er Gefallen an der unmäßigen Hitze finden. Sein Eichenholzthron stand etwas erhöht auf einem Podium. Den Kopf achtsam gesenkt, blieb Tyler davor stehen.

»Ah, Tyler. Kommt näher.«

Tyler schritt die Stufen hinauf. Mechanisch griff er nach der ausgestreckten Hand des Heiligen Vaters, küsste seinen Rubinring und kniete vor ihm nieder. Sofort begann es in seiner linken Hüfte zu pochen. Das Niederknien bereitete ihm wegen seiner Arthritis immer entsetz­liche Schmerzen.

Als Tyler aufblickte, regte sich Mitleid in ihm. Der Heilige Vater war ein statt­licher Mann gewesen, doch der Schlaganfall vor einigen Jahren hatte seinen Arm dürr und nutzlos werden lassen und das Gesicht schief. Die rechte Seite hing schlaff herab wie ein Segel ohne Wind. In den letzten Monaten hatte das Gerücht vom nahenden Tod des Kirchenoberhaupts den Arvath erschüttert, und Tyler dachte nun, dass die Leute wahrscheinlich recht hatten. Die Haut des Vaters war dünn wie Pergament, und seine Knochen schienen sich durch die kahle Schädeldecke zu bohren. Er war nicht unbedingt vergreist, sondern eher geschrumpft und inzwischen nur noch so groß wie ein Kind, das in den Falten seiner Samtrobe zu ertrinken drohte. Er warf Tyler ein gütiges Lächeln zu. Der war sofort alarmiert, und sein Mitleid schmolz wie Butter in der Sonne.

Neben dem Heiligen Vater stand Kardinal Anders – ganz wie Tyler befürchtet hatte. Stattlich sah er aus in seiner wallenden scharlachroten Robe. Früher hatten die Kardinalsgewänder eher ins Orange tendiert, weil die Färber von Tearling kein richtiges Rot zustande brachten. Anders‘ Robe hingegen war leuchtend rot – ein eindeutiger Hinweis, dass die Kirche, genau wie der Rest von Tearling, Farben aus Callae vom Mortschwarzmarkt bezog. Abgesehen davon trug der Kardinal noch eine kleine goldene Anstecknadel in Form eines Hammers, ein Andenken an seine Zeit in der Anti-Unzucht-Einheit des Regenten. Er war berüchtigt für seinen Homosexuellenhass, der sogar für einen Repräsentanten des Arvath extrem anmutete. Es hieß, Anders selbst sei es gewesen, der dem Regenten die Gründung einer speziellen Sittenpolizei vorgeschlagen hatte. Vor einigen ­Jahren war er noch einen Schritt weiter gegangen und hatte sich in seiner Freizeit freiwillig zum Dienst verpflichtet, was einen gewaltigen Skandal losgetreten hatte. Ein amtierender Kardinal, der für die Sittenpolizei arbeitete! Trotz des Gegenwinds hatte Anders sich standhaft geweigert, seine Beschäftigung aufzugeben, und war jahrelang Mitglied der Einheit geblieben. Tyler fragte sich, weshalb er die Anstecknadel nach wie vor tragen durfte, jetzt, da sein Engagement endlich beendet war.

Die Anwesenheit des Kardinals bedeutete Ärger. Obwohl Anders erst dreiundvierzig war – über zwanzig Jahre jünger als Tyler –, hatte ihn der Heilige Vater zu seinem Nachfolger auserkoren. Mit sechs war Anders in den Arvath gekommen. Er stammte aus einem frommen Adelsgeschlecht, und bereits bei seiner Geburt war klar gewesen, dass er irgendwann in den Priesterstand treten würde. Dort hatte er sich mit Schläue, Skrupellosigkeit und in atemberaubender Geschwindigkeit emporgearbeitet. Mit nur einundzwanzig Jahren war er zum jüngsten Bischof Neulondons und wenige Jahre später zum Kardinal ernannt worden. In der ganzen Zeit hatte sich sein Gesicht kaum verändert. Mit seinen groben Konturen und den Narben, die eine Pubertätsakne vermuten ließen, glich es einem Stück Hartholz. Seine Augen waren so pechschwarz, dass Tyler Iris und Pupille nicht unterscheiden konnte. Als würde man eine Teareiche betrachten.

Tyler war gierigen Priestern begegnet, korrupten Priestern und auch solchen, die von perversen sexuellen Neigungen gequält wurden, die sich mit der Kirche nicht vereinbaren ließen. Doch wann immer er in dieses Holzgesicht blickte, in das Gesicht des nächsten Heiligen Vaters, der Gottes Schöpfung und alle teuflischen Schrecken mit der gleichen klinischen Distanziertheit betrachtete – wenn er also in dieses Gesicht blickte, beschlich ihn ein zutiefst ungutes Gefühl. Es war nicht so, dass Tyler den amtierenden Heiligen Vater mochte, im Gegenteil, eigentlich hatte er ihm nie über den Weg getraut. Aber zumindest verkörperte er eine vorhersehbare Mischung aus Glaube und Berechnung. Mit so einem Mann konnte man arbeiten. Beim Kardinal hingegen lagen die Dinge anders. Tyler hatte keine Ahnung, zu was er fähig wäre, wenn erst einmal alle bisherigen Beschränkungen wegbrachen. Die Kontrolle des Heiligen Vaters war nur noch schwach und würde bald ganz verschwinden.

»Wie kann ich Euch dienen, Eure Heiligkeit?«

Der Vater lachte in sich hinein. »Ihr glaubt wohl, ich hätte nach Euch gerufen, um mich von Euren Geschichtskenntnissen erhellen zu lassen, nicht wahr, Tyler? Mitnichten. Mir ist vielmehr zu Ohren gekommen, dass Ihr letztens in außergewöhn­liche Ereignisse verwickelt wart.«

Tyler nickte und verabscheute sich für seine übereifrige, servile Art. »Lazarus hat mich zu Hilfe gerufen, Eure Heiligkeit. Er machte deutlich, dass ich unverzüglich gebraucht würde, sonst hätte ich einen anderen Priester gesandt.«

»Mace ist in der Tat ein furchterregender Besucher«, erwiderte der Heilige Vater jovial. »Und welchen Eindruck hattet Ihr von unserer neuen Königin?«

»In ganz Tearling gibt es wohl niemanden, der die Geschichte noch nicht kennt, Eure Heiligkeit.«

»Ich weiß sehr wohl, was während der Zeremonie passiert ist, Tyler. Ich habe die Geschichte aus vielerlei Quellen gehört. Und jetzt möchte ich sie von Euch hören.«

Während Tyler die Worte der Königin wiederholte, registrierte er, wie sich das Gesicht des Vaters verfinsterte und er sich in seinem Thron zurücklehnte. Etwas Spekulatives lag in seinem Blick. »Sie hat sich also geweigert, den Schwur zu leisten.«

»So ist es.«

Anders mischte sich ein: »Und dennoch hieltet Ihr es für angebracht, die Zeremonie zu Ende zu führen?«

»Es war ein Präzedenzfall, Eure Heiligkeit. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Für eine solche Situation gibt es keine Regeln … ich hatte keine Zeit … Und es schien mir das Beste für das Königreich.«

»Euer Hauptanliegen sollte das Geschick der Gotteskirche sein, nicht das Geschick des Reichs«, entgegnete Anders. »Das Reich und seine Bevölkerung sind Sache des Herrschers.«

Tyler starrte ihn an. Der Kardinal hatte praktisch das Gleiche gesagt wie die Königin während der Zeremonie, und doch war die Bedeutung hinter seinen Worten so anders, dass er genauso gut eine Fremdsprache hätte sprechen können. »Das weiß ich, Eure Eminenz, aber ich hatte keine Zeit nachzudenken und musste eine Entscheidung treffen.«

Die beiden blickten ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Dann zuckte der Heilige Vater die Achseln und lächelte derart breit, dass Tyler wünschte, es wäre ihm möglich, auf den Stufen zurückzuweichen. »Nun, dann ging es wohl nicht anders. Wie bedauerlich, dass ihr in eine solche Situation manövriert wurdet.«

»Ja, Eure Heiligkeit«, antwortete Tyler. Seine Hüfte bereitete ihm inzwischen höllische Schmerzen, und er überlegte kurz, ob er den Heiligen Vater bitten sollte, aufstehen zu dürfen. Doch er entschied sich dagegen. Es wäre ein Fehler, vor diesen beiden Männern Schwäche zu zeigen.

»Die Königin braucht einen neuen Priester, Tyler. Pater Timpany war ein Mann des Regenten. Sie wird ihm misstrauen. Und sie tut gut daran.«

»Ja, Eure Heiligkeit.«

»Und aufgrund Eurer Rolle während der Zeremonie ist es nur folgerichtig, wenn ihre Wahl auf Euch fällt.«

Tyler maß der Aussage keinerlei Bedeutung bei. Er wartete ab.

»Sie wird Euch vertrauen«, fuhr der Heilige Vater fort. »Mehr als jedem von uns, eben weil Ihr sie ohne den Schwur gekrönt habt.«

Als Tyler begriff, dass es ihm ernst war, stammelte er: »Aber würde die Kirche nicht jemand anderen bevorzugen? Jemanden, der etwas welt­licher ist?«

Wieder war es Anders, der antwortete: »Wir alle sind Männer des Herrn, Pater, und die Hingabe an Gott ist wichtiger als Eure Auffassung von Pflichterfüllung gegenüber der Obrigkeit.«

In Tylers Bauch rumorte es. Die ganze Sache glich einem leibhaftig gewordenen Albtraum. Er hatte erwartet, getadelt zu werden und vielleicht ein paar zusätz­liche Pflichten aufgebürdet zu bekommen. Normalerweise mussten Priester, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, in der Küche schuften, das Geschirr abwaschen oder den ganzen Abfall wegräumen. Das alles hätte er ertragen, aber an den könig­lichen Hof beordert zu werden war unendlich viel schlimmer, wenn man nichts anderes wollte, als mit seinen Büchern allein zu bleiben. Wahrscheinlich sogar das Schlimmste überhaupt.

Vielleicht braucht sie gar keinen neuen Priester. Vielleicht wirft sie uns alle aus der Festung, dann kann diese gottlose Kirche zu Staub zerfallen.

»Wir müssen Augen und Ohren offen halten, Tyler«, fuhr der Heilige Vater fort. Sein Tonfall war immer noch täuschend mild. »Sie hat keinen Schwur geleistet. Gottes Kirche ist unter ihrer Herrschaft in großer Gefahr.«

»Ja, Eure Heiligkeit.«

»Ihr werdet mir in regelmäßigen Abständen Bericht erstatten.«

Direkt an den Heiligen Vater berichten? Jetzt bekam Tyler noch mehr Angst. Anders war es doch, der zwischen dem Heiligen Vater und dem Rest der Kirche, ja dem Rest des ganzen Königreichs vermittelte. Warum also nicht er? Die Antwort offenbarte sich ihm sofort: Der Heilige Vater mochte Anders als seinen Nachfolger ausgewählt haben, aber trauen tat er ihm trotzdem nicht.

Ich sitze in einem Wespennest, dachte Tyler elend.

»Was soll ich Euch berichten, Eure Heiligkeit?«

»Alles, was sich in der Festung zuträgt und irgendwie mit der Kirche zu tun hat.«

»Aber Eure Heiligkeit, sie wird es merken! Sie ist nicht dumm.«

Die Augen des Heiligen Vaters bohrten sich in ihn hinein. »Ich werde Eure Loyalität an den Details Eurer Berichte festmachen. Verstanden?«

Ja, Tyler hatte verstanden. Er würde ein Spion sein. Wieder dachte er voller Sehnsucht an sein Zimmer, an die dort aufgereihten Bücher, die der harten Hand des Heiligen Vaters so schutzlos ausgeliefert waren.

»Tyler? Versteht Ihr mich?«

Tyler nickte und dachte: Ich bin ein Teil von Gottes großer Schöpfung.

»Gut«, sagte der Heilige Vater sanft.

In einen grauen Umhang gehüllt, schlich Javel die Treppe des Knochenhauers hinunter. Wenn ihn jemand sah, würde er ihn für ein Mitglied der Königinnen-Garde halten, und genau das war der Plan. Damals, zu Beginn seiner Karriere, hatte er versucht, dort aufgenommen zu werden. Zu seinem Leidwesen hatte man ihn abgelehnt und zur Torwache degradiert. Noch heute übte der Umhang die gleiche machtvolle Anziehung auf ihn aus wie früher. Jeder, der ihm auf der Straße Platz machte oder eine Verbeugung andeutete, ließ ihn ein Stück größer werden, ein Stück aufrechter. Und eine Illusion war immerhin besser als gar nichts.

Am Fuß der Treppe fand er sich in einer schmalen Gasse wieder. Nebel hing schwer wie ein Vorhang über ihm. Er legte eine Hand auf sein Messer und schlich weiter. In diesem Teil des Guts waren die Straßenlaternen schon seit Jahren kaputt, und das Mondlicht, das nur spärlich durch die Nebeldecke drang und die Allee in einen trüb-blauen Glanz tauchte, half kaum, potenzielle Straßenräuber auszumachen. Javel trug kein Gold bei sich, aber die Mörder, die sich hier herumtrieben, würden sich ganz bestimmt nicht die Mühe machen, vorher nachzusehen, sondern ihm sicherheitshalber gleich ein Messer in die Rippen rammen.

In einem Hauseingang knurrten zwei Hunde. Na wunderbar. Da hätte man seine Anwesenheit auch gleich lauthals in die Nacht hinausposaunen können. Aber Javel war eigentlich nur müde, nicht verängstigt. Obwohl er schon immer ein Torwächter gewesen war, war er wie die meisten Außenwachen bisher nur bis zum Torhaus vorgedrungen. Wie es im Inneren der Festung aussah, war und blieb ein Geheimnis für ihn. Hier hingegen fühlte sich Javel zu Hause, hier fand er sich zurecht. Das Gut, ein Labyrinth aus widerhallenden Gassen und finsteren Schlupflöchern – das alles kannte er so gut wie seine eigene Westentasche. Der ganze Sektor lag in einer Senke zwischen zwei Gebirgsausläufern, wo sich immerzu Nebelschwaden zu sammeln schienen. Nebelschwaden und zwielichtige Gestalten, die etwas zu verbergen hatten.

Endlich erreichte Javel die Eingangstür des Back End, von der bereits die Farbe abblätterte. Er warf einen Blick hinter sich, um zu sehen, ob ihm jemand gefolgt war. Nein, da war niemand. Hatte der graue Umhang seine Funktion also wieder mal erfüllt – einem Gardisten wollte niemand ins Handwerk pfuschen. Schon gar nicht jetzt, da die Königin zur neuen Heldin der Armen avanciert war. Sogar Javel, der sich sonst nicht für die Stimmung in der Bevölkerung interessierte, fand den Wandel erstaunlich. Schon jetzt zirkulierten Lieder auf den Straßen. Ganze Horden von Arbeitslosen streiften über die Boulevards und riefen den Namen der Königin. Und alle, die sich ihnen nicht anschlossen, riskierten eine Tracht Prügel. Städter waren eben nicht anders als andere Trunkenbolde auch, dachte Javel. Er selbst eingeschlossen. Sie genossen die langen, rauschhaften Nächte und dachten nicht an morgen. Doch bald schon würden sie wieder nüchtern sein. Gerade jetzt würden die Mort jeden zur Verfügung stehenden Soldaten mobilisieren und auf einen langen Marsch vorbereiten. Die Gießereien würden Überstunden machen, um genügend Stahl zu produzieren.

Beim Gedanken an Mortmesne fiel ihm Allie ein. Ihr langes blondes Haar, das ihr Gesicht verbarg, während sie langsam aus seinem Blickfeld verschwand. Jeden Tag kam ihm ein anderes Detail von ihr in den Sinn und ließ ihn nicht mehr los. Und heute war es eben ihr Haar, ein blonder Vorhang, der im Haus bernsteinfarben aussah und im Freien golden. Javels Hände zitterten, als er die Tür zur Kneipe aufstieß. Drinnen wartete Whiskey auf ihn. Aber auch Arlen Thorne.

Das Back End war eine Schenke für Trunkenbolde, eine schäbige Bruchbude ohne Fenster und mit einem billigen Holzboden, den die Bierströme mit den Jahren aufgeweicht hatten. Überhaupt roch das ganze Etablissement wie ein Fass Bierhefe. Nicht unbedingt Javels bevorzugter Aufenthaltsort; aber wenn man nicht zu den Reichen gehörte, hatte man nun mal keine Wahl. In den besseren Gegenden Neulondons schlossen die Lokale um eins. Wollte man bis Sonnenaufgang weitertrinken, musste man ins Gut. Jetzt gerade war die Schenke so gut wie leer. Um fast vier Uhr morgens hatten sich auch die letzten Tagelöhner nach Hause geschleppt. Wer um diese Zeit noch wach war, ging entweder finsteren Geschäften nach oder hatte ein echtes Alkoholproblem. Auf ihn traf wohl beides zu. Eine diffuse Bedrohung schien über ihm zu hängen, die Vorahnung von etwas Dunklem, Unerbitt­lichem.

Thornes Nachricht, die ihn um Mitternacht am Ende seiner Schicht erreicht hatte, enthüllte rein gar nichts über dessen Absichten. Der Mann war wirklich ein aalglatter Bastard. Und natürlich nicht so dumm, ein belastendes Indiz schriftlich festzuhalten. Es hatte außer Frage gestanden, dass Javel seiner Aufforderung nachkommen würde, selbst wenn er zuvor noch nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Wenn Thorne nach dir verlangte, hattest du zu erscheinen. Zwar besaß Javel keine Verwandten mehr, die man nach Mortmesne verschiffen konnte, doch er zweifelte nicht daran, dass sich Thorne jederzeit etwas ähnlich Niederträchtiges einfallen lassen konnte. Wieder tauchte Allies Haar vor seinem inneren Auge auf. Seit dem vermaledeiten Tag auf dem Festungsrasen hielt kein Whiskey der Welt diese Bilder mehr in Schach.

Aber ich werde es dennoch weiter versuchen, dachte Javel elend.

Thorne saß mit dem Rücken zur Wand in einer Ecke und nippte an einem Pokal, in dem sich mit ziem­licher Sicherheit Wasser befand. Es war allgemein bekannt, dass er nicht trank. Ein Grund, weshalb die Krawallmacher des Regenten ihn zu Beginn seiner Laufbahn auf dem Kieker gehabt hatten. Seine Abstinenz, die große, dürre Gestalt und die zarten Gesichtszüge hatten ihn ins Visier der Sittenpolizei geraten lassen. Bevor er in den Zensus aufgestiegen war, hatte er einige Prügel kassiert. Ob irgendeiner der Schläger noch lebte? Javel bezweifelte es.

Vil, der hin und wieder mit Thorne zu tun hatte, meinte, es sei offensichtlich, weshalb er nicht trank: weil er keine Sekunde die Kontrolle verlieren wollte.

Wahrscheinlich stimmte das sogar. Die Schenke war fast leer. Thornes verächt­licher Blick blieb an Javel hängen, um gleich darauf weiterzuwandern. Natürlich, er wollte wissen, wer ihn, den Obersten Zensor, mit einer unbedeutenden Torwache sah und ob dieser jemand dem Treffen Bedeutung beimessen würde.

Neben Thorne saß Brenna. Obwohl Javel sie noch nie gesehen hatte, erkannte er sie auf Anhieb. Ihre Haut war von einem zart schimmernden Perlmuttton und wirkte beinahe durchsichtig. Blaue Venen liefen über ihre Arme. Das blonde Haar, das sich wie eine Kappe um ihren Kopf legte, verlieh ihr etwas Altersloses. Genau wie alle anderen hatte Javel schon von ihr gehört, doch da sie das Haus nur nachts verließ, bekam sie kaum einer je zu Gesicht.

Dunkle Geschäfte, dachte Javel wieder und orderte zwei Whiskeys an der Bar. Den zweiten wollte er nur zu seinem Vergnügen, auf den ersten hingegen konnte er auf keinen Fall verzichten, wenn er wirklich vorhatte, sich zu Arlen Thorne an den Tisch zu setzen. Arlen, der Allies Namen eigenhändig gezogen hatte. Als man Javel den Whiskey vorsetzte, kippte er den ersten in nur einem Zug hinunter. Am zweiten hielt er sich fest und starrte auf die Bar, um noch länger dort verweilen zu können.

Drei Stühle weiter saß eine alternde Hure mit einer durchsichtigen weißen Bluse und blondem Haar, das garantiert gefärbt war. Mit einer seltsamen Verrenkung lehnte sie sich nach hinten, sodass sie ihre Brüste noch weiter rausstrecken konnte, als es ihr von Natur aus gegeben war. Geschäftsmäßig musterte sie Javel. »Einer von der Torwache, was?«

Javel nickte knapp.

»Fünf für einen Fick, zehn fürs volle Programm.«

Javel schloss die Augen. Er hatte vor drei Jahren einmal versucht, zu einer Hure zu gehen, doch er hatte keinen hochgekriegt und war am Ende in Tränen ausgebrochen. Die Frau war nett und verständnisvoll gewesen, ihre Anteilnahme jedoch nur oberflächlich. Insgeheim hatte sie es nicht erwarten können, dass er endlich verschwand und sie sich dem nächsten Kunden widmen konnte. Geschäft war nun mal Geschäft.

»Nein danke«, murmelte er.

Die Hure zuckte die Achseln. Als zwei weitere Männer die Schenke betraten, holte sie tief Luft und schob ihre Brüste noch weiter vor. »Selber schuld.«

»Javel«, ertönte Thornes leise, ölige Stimme. »Setz dich zu mir.«

Javel trug seinen Whiskey zu ihm hinüber und setzte sich. Der Zensor verschränkte seine langen, dürren Arme auf dem Tisch. Irgendwie sah Thorne immer aus, als hätte er zu viele Gliedmaßen, dachte Javel. Als er den Blick abwandte, merkte er, dass Brenna ihn anstarrte, obwohl sie doch angeblich stockblind war. Ihre Augen waren so pink wie die eines Albinos. Hätte man ihn gefragt, welche Art Frau Thorne wohl zu seiner Gefangenen machen würde, hätte Javel auf genau so jemanden wie sie getippt: blind und vollkommen abhängig – eine Ausgestoßene eben. Vil hatte mal erzählt, dass sie schon immer mit Thorne zusammen gewesen war. Sie sei ein Überbleibsel aus seiner Kindheit im Gut, das er seit jener Zeit mit sich herumschleppte, und das Einzige auf Gottes Erdboden, was ihm wirklich etwas bedeutete. Doch das war nur das dumme Märchen irgendeines Geschichtenerzählers, der selbst Abschaum wie Thorne irgendwie zu rehabilitieren versuchte. Javel fragte sich, welche Gegenleistung Brenna für Thornes Schutz wohl erbringen musste. Aber eigentlich wollte er sich das lieber nicht vorstellen, also verdrängte er den Gedanken wieder.

»Sie mag es nicht, wenn man sie anstarrt.«

Rasch richtete Javel seinen Blick auf Thorne.

»Du bist eine Torwache, Javel.«

»Richtig.«

»Gefällt dir deine Arbeit?«

»Sie ist in Ordnung.«

»Wirklich?«

»Es ist ein ehr­licher Job.« Javel wollte nicht zu selbstgerecht klingen. In Tearling gab es wohl Menschen, die Thornes Job als ehrlich bezeichnet hätten. Aber das war eine Minderheit, die nie hatte zusehen müssen, wie der blonde Schopf ihrer Frau hinter dem Hügel Pike verschwand.

»Deine Frau wurde vor sechs Jahren verschifft.«

»Meine Frau geht Euch nichts an.«

»Alles, was zur Fracht gehört, geht mich etwas an.« Thornes Augen ruhten auf Javels geballter Faust, und sein Lächeln wurde breiter. Männer wie er schienen dazu geboren, die Geheimnisse ihrer Mitmenschen zu erspüren. Aus den Augenwinkeln warf Javel Brenna einen Blick zu. Irgendwie konnte er in ihrer Gegenwart gar nicht anders, als sich abscheu­liche Szenarien auszumalen und sich vorzustellen, was für ein erbärm­liches Leben sie wohl führte. Als Thorne nach seinem Wasserkrug griff, musterte Javel ihn mit angewiderter Faszination.

Diese Hand hat Allie in den Käfig befördert. Nur einen Zentimeter weiter links, und das Los wäre auf die Frau eines anderen gefallen.

»Meine Frau war kein Gegenstand.«

»Fracht«, antwortete Thorne verächtlich. »Die meisten Menschen sind nichts als eine Fracht und zufrieden damit. Und ich bin zufrieden, wenn ich ihre Lieferung ermög­lichen kann.«

Das stimmte zweifellos. Schon bevor der Sklavenhandel durch die Mortlieferungen legalisiert worden war, hatte Thorne im Untergrund die Fäden gezogen. Und auch jetzt, als Oberster Zensor, war er nach wie vor der richtige Ansprechpartner, wenn es darum ging, extravagante Wünsche zu befriedigen, zum Beispiel den nach einem Kind, einer Rothaarigen oder gar einer Schwarzen aus Cadare. Während Javel noch darüber nachsann, was dieser Fleischhändler wohl von ihm wollte, kam ihm eine Idee. Und je länger der Whiskey durch seine Adern rann, desto deut­licher nahm sie Gestalt an. Ge­­naugenommen hatte er keine Ahnung, weshalb er nicht schon viel früher darauf gekommen war.

Jede Torwache wurde mit zwei Waffen ausgestattet: einem kurzen Schwert und einem Messer. Das Messer steckte in seinem Hosenbund, das spürte er, denn der Griff bohrte sich unangenehm in seinen linken Brustkorb. Er war vielleicht kein besonders talentierter Kämpfer, dafür aber ziemlich behände. Wenn er blitzschnell sein Messer zückte, könnte er Thorne die rechte Hand abhacken. Die Hand, die nach links statt nach rechts gegriffen und alles verändert hatte. Danach würde Javel ihm vielleicht noch weitere Wunden zufügen können. Thorne sollte zwar außerordentlich schnell sein, aber er war ohne seine Wachen gekommen. Offensichtlich empfand er ihn nicht als Bedrohung.

Aufgewühlt kippte Javel seinen zweiten Whiskey hinunter, während er versuchte, den Abstand zwischen Thornes Hand und seinem Messer abzuschätzen. Der Zensus selbst würde nicht zusammenbrechen, dafür war er zu straff organisiert. Aber es wäre ein Schlag, ein lähmender Schlag. Thorne beherrschte den Beamtenapparat, indem er Angst und Schrecken verbreitete. Und Angst funktionierte nur von oben nach unten.

Javel würde keine Zeit haben, mit der Rechten nach seinem Messer zu greifen. Er musste die andere Hand nehmen und das Beste hoffen. Während er immer noch den Abstand berechnete, wanderte sein Blick zwischen sich und Thorne hin und her.

»Das würdest du nie schaffen.«

Als Javel aufsah, lächelte Thorne schmallippig. Kalte Belustigung sprach aus seinem Blick. »Und selbst wenn, müsstest du trotzdem sterben.«

Verständnislos starrte Javel ihn an. Brenna stieß einen hohen, quietschenden Laut aus, der sich wie ein rostiges Scharnier anhörte.

»Ich habe dir etwas in deinen Whiskey getan, Torwache. Und wenn ich dir nicht binnen zehn Minuten das Gegengift verabreiche, wirst du qualvoll sterben.«

Javel blickte in sein leeres Glas. Konnte Thorne ihm da ­wirklich etwas hineingeträufelt haben? Ja, und zwar als Javel die verfluchte Albinofrau angestarrt hatte. Dass Thorne nicht log, verriet ein Blick in seine Augen. Blaue, von Eis eingerahmte Ozeane. Javel registrierte, wie Brenna ihn anschmachtete und die opaken, pinken Augen keine Sekunde von ihm abwandte.

»Weißt du, was das Schlimmste an meinem Job ist?«, fragte Thorne. »Keiner kapiert, dass es dabei nur ums Geschäft geht. Soweit ich mich erinnere, haben die Familienmitglieder der Ausgelosten ganze fünfzehn Mal versucht, die Fracht irgendwo zwischen Neulondon und der Mortgrenze zu entführen. Normalerweise versuchen sie es an der Quelle des Flusses Crithe, wo es meilenweit nichts als Weideland gibt und sich eine ganze Armee im Weizen verstecken könnte. Und ich habe ihnen den Unsinn zehn Mal ausreden können, weißt du? Das war kein Problem, und bestraft habe ich auch niemanden.«

»Aha«, murmelte Javel. Sein Herz klopfte unbehaglich in seiner Brust. Er glaubte, ein Stechen in seinen Eingeweiden zu spüren, direkt unterhalb des Nabels. Einbildung war es wohl nicht, aber vom Gegenteil konnte er sich auch nicht überzeugen. Er sollte versuchen, Thorne anzugreifen, bevor das Mittel – um was auch immer es sich handeln mochte – richtig zu wirken begann. Aber Thorne war auf ihn vorbereitet. Javel hatte seinen Vorteil verspielt.

»Ich habe niemanden bestraft«, wiederholte Thorne, »sondern den Familien die Situation erklärt und sie dann ziehen lassen. Weil so eben das Geschäft ist. Sie waren fehlgeleitet, aber immerhin haben sie keinen der Käfige beschädigt. Nur die Pferde waren ein bisschen verschreckt, aber das ließ sich schnell in Ordnung bringen. Die dadurch ausgelöste Verspätung betrug höchstens fünf bis zehn Minuten. Ich bestrafe keine Fehler. Zumindest nicht, wenn sie zum ersten Mal gemacht werden.«

»Aber die anderen fünf …«

Thorne beugte sich vor. Eine penetrante Selbstgerechtigkeit glitzerte in seinen Augen. Inzwischen war sich Javel ganz sicher: Irgendwo tief in seinem Bauch entfaltete das Gift seine Wirkung. Ein bisschen wie Verdauungsbeschwerden. Nicht schlimm. Aber zweifellos würden die Schmerzen in Kürze noch sehr viel heftiger werden.

»Die anderen fünf Gruppen wollten nicht auf mich hören. Schon nach einem kurzen Blick in ihre Augen wusste ich, dass ich mir den Mund fusselig reden könnte und sie die Käfige trotzdem ramponieren würden. Manche Leute verstehen einfach nicht, wann sie ihre Chancen verspielt haben. Oder es ist ihnen egal.«

Javel hasste sich für die Frage, die er gleich stellen würde, doch er konnte nicht anders. »Was habt Ihr mit ihnen gemacht?«

»Ich habe ein Exempel an ihnen statuiert«, erwiderte Thorne. »Das bringt die Leute schnell zur Einsicht. Wobei mir natürlich leidtat, dass es so weit kommen musste …«

Ja klar, du Scheißkerl, dachte Javel. Darauf wette ich.

»… aber es war nun mal notwendig. Du wärst erstaunt, wie schnell nach einer solchen Maßnahme alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Schau dich an …«

Thornes geduldige, dozierende Stimme war unerträglich. Javel hatte das Gefühl, wieder in einem Schulzimmer gefangen zu sein, eine Erfahrung, die er nun wirklich nicht vermisst hatte, seit er mit zwölf von zu Hause weggelaufen war. Erneut sah er zu der Albinofrau hinüber, die seinen Blick aus blinden Augen erwiderte.

»Da wolltest du also dein Messer ziehen und mich aus dem Weg schaffen … Als wäre ich nicht gestern schon auf dich vorbereitet gewesen. Oder vorgestern. Oder vom Tage meiner Geburt an.«

Javel fiel ein Gerücht ein, das ihm irgendwann einmal zu Ohren gekommen war. Es hieß, Thornes Mutter, eine Prostituierte aus dem Gut, hätte ihn als kleinen Jungen an einen Sklavenhändler verkauft. Wieder spürte Javel ein Stechen im Bauch, stärker diesmal, als würde jemand durch seinen Nabel hindurch nach seinen Eingeweiden greifen und so lange zudrücken, bis etwas aufplatzte. Schwer atmend, lehnte er sich zurück und versuchte, sich auf seinen Plan zu besinnen, doch der Schmerz übertönte die Kraft des Whiskeys. In Sachen Schmerztoleranz war Javel immer schon ein ziem­liches Baby gewesen.

»Also, Javel, die Frage ist: Willst du mich immer noch angreifen oder endlich übers Geschäft sprechen?«

»Übers Geschäft sprechen«, keuchte Javel. An das Messer verschwendete er keinen Gedanken mehr. Alles was jetzt noch zählte, war das Gegengift. Seltsam … wie viele Nächte lang hatte er derart viel Whiskey gesoffen, dass er es beim Heimkommen fast nicht mehr vom Pferd geschafft hatte. Wie oft hatte er in solchen Momenten daran gedacht, sich umzubringen? Und jetzt? Jetzt überraschte es ihn, wie sehr er immer noch am Leben hing.

»Gut. Dann lass uns über deine Frau sprechen.«

»Was ist mit ihr?«

»Sie lebt.«

»Unsinn!«, knurrte Javel.

»Doch, das tut sie. Sie lebt in Mortmesne und ist wohlauf. Also, ziemlich wohlauf.« Thorne neigte den Kopf, wie um seinem Zusatz Nachdruck zu verleihen.

Javel zuckte zusammen. »Woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich weiß es eben. Und ich weiß auch, wo sie ist.«

»Wo?«

»Na, na, na, Javel! Ich werde doch mein Geheimnis nicht verraten. Noch hat dich das nicht zu interessieren. Aber eins solltest du dir merken, Torwache: Ich weiß genau, wo sie ist. Und ich kann sie zu dir zurückbringen.«

Fassungslos starrte Javel ihn an. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren und förderte eine Erinnerung zutage, die er leider gar nicht brauchen konnte, Allies Geburtstag vor neun oder zehn Jahren. Sie hatte erwähnt, dass sie sich Webnadeln wünschte, also war Javel losgezogen, um ein Paar zu kaufen, das solide wirkte und nicht allzu viel kostete. Allie schien hocherfreut, doch in den folgenden Monaten blieben die Nadeln unangetastet in ihrem Nähkorb. Kein einziges Mal sah Javel seine Frau weben, und er war zu verwirrt und zu verletzt, um nach dem Grund zu fragen. Das passte so gar nicht zu ihr. Sie hatte oft erzählt, eins der Kinder gewesen zu sein, die sofort nach dem Heimkommen mit ihren neuen Sachen hätten spielen wollen.

Ungefähr sechs Monate später begann Allie wie aus dem Nichts, Hüte, Handschuhe und Schals zu weben. Später kamen noch Umhänge und Decken dazu.

Javel verdiente nicht viel, doch es reichte, um sie regelmäßig mit neuer Wolle einzudecken. Bis zu ihrer Auslosung hatte sie sich eine ganze Wintergarderobe zusammengewebt, warm und gemütlich. Nach der Lieferung hatte Javel es nicht über sich gebracht, ihre Sachen zusammenzupacken. Ihr Nähkorb lag noch immer neben dem Kamin, zwischen den Nadeln hing ein halbfertiger Hut. Und Javel gefiel es so. Die vielen unfertigen Arbeiten gaben ihm das Gefühl, als sei Allie nur kurz ihre Eltern besuchen und jeden Moment wieder zurück. Manchmal, wenn er besonders heftig getrunken hatte, setzte er sich mit dem Korb im Schoß vor den Kamin, was er natürlich niemandem erzählen konnte. Aber es half ihm einzuschlafen.

Und dennoch, die sechs Monate, in denen die Nadeln unbenutzt herumgelegen hatten, ließen ihm keine Ruhe. Nach der Lieferung suchte sich Javel eine Haushälterin, die für ihn putzte und seine Wäsche wusch. Irgendwann zeigte er ihr die Nadeln und fragte, ob etwas damit nicht in Ordnung sei. So fand er heraus, dass er Allie gar keine Web-, sondern Stricknadeln geschenkt hatte. Und Weben war etwas anderes als Stricken, das wusste sogar Javel, obwohl er nicht hätte sagen können, worin genau der Unterschied bestand. Und Allie, die normalerweise nie hinterm Berg hielt, wenn er etwas falsch machte, hatte keinen Ton gesagt, sondern sechs Monate damit verbracht, stricken zu lernen, während er in der Arbeit war.

Im Nachhinein fielen ihm viele kleine Begebenheiten ein, die er bereute, und jeden Tag schien eine neue dazuzukommen. Aber dass er das mit den Stricknadeln nicht vor der Lieferung begriffen hatte, quälte ihn am meisten. Manchmal, wenn er morgens in ihrem gemeinsamen Bett erwachte (auf seiner Seite natürlich, denn auf Allies konnte er genauso wenig schlafen, wie unter Wasser atmen), wünschte er sich nichts sehn­licher, als ihr zu sagen, dass er Bescheid wusste. Aus irgendeinem Grund war ihm das unglaublich wichtig.

»Wer garantiert mir, dass Ihr sie wirklich zurückbringen könnt?«

»Ich kann es«, gab Thorne zurück. »Und ich werde es.«

Wieder krampfte sich Javels Magen wie nach einem Faustschlag zusammen. Er krümmte sich, als wolle er seine Eingeweide zu einem winzigen Ball komprimieren. Leider konnte das den Schmerz nicht annähernd lindern. Irgendwann ließ der Krampf schließlich nach, und die Faust in seiner Magengrube öffnete sich. Als Javel aufblickte, merkte er, dass Thorne ihn mit klinisch anmutender Distanziertheit musterte. »Du solltest mir vertrauen. Ich breche mein Wort nie.«

Javel, der sich schon auf den nächsten Anfall gefasst machte, presste erneut eine Hand an seinen Bauch. In der Stadt kursierten massenhaft Gerüchte über Thorne, einige davon stimmten, andere waren mehr als zweifelhaft. Natürlich, es gab genügend Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Aber noch nie hatte Javel gehört, dass Thorne sein Wort gebrochen hätte.

Die Albinofrau atmete schnell und flach, als würde sie jeden Moment hyperventilieren. Ihre Augen waren wie in Ekstase geschlossen, und plötzlich begann sie, ihre Brustwarzen durch ihr pinkfarbenes Hemd hindurch sanft zu kneten.

»Beruhige dich, Bren«, murmelte Thorne. »Wir sind fast fertig.«

Sie ließ ihre Hand in den Schoß sinken. Javels ganzer Körper kribbelte. »Was wollt Ihr?«

Thorne nickte anerkennend. »Ich muss etwas in die Festung schaffen. Dafür brauche ich eine Torwache, die keine unbequemen Fragen stellt.«

»Wann?«

»Wenn ich es sage.«

Javel verstand. »Ihr wollt die Königin umbringen.«

Starr und ohne jede Spur von Unsicherheit sah Thorne ihn an. Javel dachte an die Vision, die er auf dem Festungsrasen gehabt hatte. An das Mädchen, das plötzlich so viel größer, älter und härter ausgesehen hatte, an die Krone auf seinem Kopf. Die Königin war vor zwei Tagen gekrönt worden, das wusste Javel. Vil, der immer alles zuerst erfuhr, hatte gesagt, sie sei während der Zeremonie in einen Hinterhalt des Regenten geraten, der jedoch nicht das gewünschte Ergebnis erzielt hatte.

Wenn Javel in der Abenddämmerung durch die Straßen ritt, schlug ihm die üb­liche Kakophonie der Händler entgegen, die ihre Buden schlossen und den neuesten Klatsch austauschten. Im Vorbeireiten hatte er sie von der »Wahrhaften Königin« sprechen hören. Der Begriff sagte ihm nichts, aber das Bild dahinter erschloss sich ihm sofort. Die Wahrhafte Königin – für die große, ernste Frau auf dem Festungsrasen hätte es keinen treffenderen Namen geben können. Nur dass es sie noch gar nicht gab.

Aber das könnte es, dachte Javel. Eines Tages könnte es sie geben. Und obwohl er kaum in die Kirche gegangen war und seit Allies Verschiffung eigentlich nicht einmal mehr an Gott glaubte, hatte er plötzlich das Gefühl, als würde Verdammnis über ihm hängen, Verdammnis auf der einen und der historische Lauf der Dinge auf der anderen Seite – zwei Hände, die nach ihm greifen, ihn zerquetschen wollten. Die Männer, die Jonathan den Guten ermordet hatten, waren nie gefasst worden. Wahrlich die schwärzesten Stunden in der Geschichte Tearlings. Wer auch immer dahintergesteckt hatte, war verdammt worden, daran hatte Javel keinen Zweifel. Aber natürlich konnte er Thorne seine Ängste nicht mitteilen. Das Einzige, was er sagen konnte, war: »Sie ist die Königin. Ihr könnt die Königin nicht umbringen.«

»Dafür gibt es keinen Beweis, Javel. Sie ist nur ein Mädchen mit einem Brandmal und einer Kette.«

Zum ersten Mal flackerte Thornes Blick, und Javel überkam eine blitzartige Eingebung: Er hatte die große, könig­liche Gestalt auf dem Festungsrasen auch gesehen. Er hatte sie gesehen und solche Angst bekommen, dass er sich für diesen Weg entschieden hatte. Noch nie hatte ihn Thorne so sehr an eine Spinne erinnert wie jetzt. Da war er also aus seiner dunklen Ritze gekrochen, um sein Netz zu reparieren. Doch bald schon würde er sich wieder verkriechen, seine Intrigen weiterspinnen und mit endloser, heimtückischer Geduld auf ein kleines, unschuldiges Wesen warten, das sich in seinem Netz verfing. Hilflos und wild um sich schlagend.

Javel blickte sich um. Plötzlich sah er die Schenke mit anderen Augen: Da war der Schmutz, der sich in die Dielenbretter gefressen hatte. Der billige Talg, der von den Fackeln tropfte und an den Wänden hart wurde. Die Hure, die jeden Mann, der eintrat, verzweifelt anlächelte. Und ganz besonders: der stechende, alles überlagernde Gestank nach saurem Bier und verschüttetem Whiskey, den Javel liebte und zugleich hasste. Irgendetwas sagte ihm, dass Thorne ihn genau wegen dieses Gefühlswirrwarrs aus Liebe und Hass gewählt hatte. Javel war schwach. Und bestimmt roch seine Schwäche für Thorne genauso gut wie Whiskey für ihn.

Das ist die dunkle Ritze, begriff Javel schließlich. Dieser Ort hier.

Wieder krümmte er sich vor Schmerzen. Eine Bestie erwachte in seinem Inneren, die sein Fleisch mit scharfen Klauen und nadelspitzen Zähnen zerfetzte. Er balancierte auf einem Hochseil. Bis zum anderen Ende war es nicht mehr weit, doch unter ihm nichts als unend­liche Dunkelheit. Und wenn er nun in diese Finsternis hinabstürzte?

»Was, wenn Euer Plan schiefgeht?«, keuchte er. »Welche Sicherheit habe ich dann noch?«

»Eine Garantie gibt es nicht«, antwortete Thorne. »Aber du musst dir keine Sorgen machen. Nur ein Narr setzt alles auf eine Karte. Ich dagegen habe viele Karten. Wenn Plan A nicht funktioniert, gehen wir zu Variante B über. Und irgendwann werden wir Erfolg haben.«

Thorne griff in sein Hemd und holte eine Ampulle mit einer hellgoldenen Flüssigkeit hervor. Er hielt sie Javel hin, nur um ihn anschließend ins Leere greifen zu lassen.

»Ich schätze, du hast noch ein, zwei Minuten, dann ist es zu spät und das Zeug wirkt nicht mehr. Also, Torwache, ich will nur eins wissen: Bist du dir über deine Situation im Klaren?«

Ich kann nicht gewinnen, dachte Javel, und in diesem Wissen lag ein dunkler, heim­licher Trost. Denn wenn man nicht gewinnen konnte, hatte man auch keine Schuld, egal, für welchen Weg man sich entschied.

Die Lieferung war zu spät. Keine Sekunde konnte die Königin von Mortmesne das vergessen. Nicht heute, nicht gestern und vorgestern auch nicht. Angestrengt versuchte sie, sich auf den Auktionator zu konzentrieren, der ihr die Zahlen des letzten Monats referierte. Der Februar war gut gewesen. Die Krone hatte weit über fünfzigtausend Mark eingenommen. Normalerweise pickte sich die Königin direkt nach Ankunft des Schiffs die beste Ware heraus, um sie entweder selbst zu behalten oder zu verschenken. Die Mehrheit der Sklaven wurde an Mortadelige und wohlhabende Geschäftsleute versteigert, die sie gewinnbringend an die Städte im Norden und in abgelegene Gebiete weiterverkauften. Für gewöhnlich warf die Auktion einen hohen Profit ab, doch die erfreu­lichen Zahlen konnten die Königin nicht von der nagenden Gewissheit ablenken, dass ihr System ins Wanken geriet. Es braute sich etwas zusammen, und sie konnte nichts dagegen tun. Das Mädchen hatte nie gefunden werden können und inzwischen seinen neunzehnten Geburtstag gefeiert – und nun war die Lieferung überfällig. Was hatte das zu bedeuten?

Kein Zweifel, der Regent hatte es vermasselt. Genau wie damals, als es Elyssa gelungen war, das Mädchen ins Exil zu schmuggeln (wobei auch die Rote Königin diesen Schachzug nicht hätte voraussehen können … Wer hätte gedacht, dass Elyssa auch nur einen Funken Hinterlist im Leib hatte?). Wie auch immer, in achtzehn Jahren hätte man die Kleine irgendwann finden müssen. Sie, die Königin, hatte den Regenten so lange bedrängt, bis der vor einigen Monaten die Caden angeheuert hatte. Aus irgendeinem Grund hatte sie schon da gespürt, dass es bereits zu spät war.

»Das ist alles, Majestät.« Broussard, der Auktionator, packte seine Unterlagen in sein Köfferchen.

»Gut.«

Broussard blieb stehen, das Köfferchen fest umklammert.

»Ja?«

»Irgendwas Neues von der Lieferung, Majestät?«

Himmel, selbst ihre eigenen Untertanen ließen nicht zu, dass sie das Thema auch nur einen Moment vergaß.

»Sobald ich etwas weiß, weißt du es auch, Broussard. Und jetzt geh, und bereite die Auktion vor. Und denk diesmal daran, das Ungeziefer zu vernichten.«

Broussard wurde rot und presste seine bärtigen Kiefer aufeinander. Er erledigte seine Arbeit gut und hatte ein instinktives Gespür dafür, wie man Fleisch zu Geld machte. Vor Jahren, als die Auktion noch eine große Neuheit gewesen war, hatte sie gerne am Zehnten des Monats auf einem niedriggelegenen Balkon gesessen und begeistert dabei zugesehen, wie er aus jedem Gramm Menschenmaterial Profit geschlagen hatte. Irgendetwas in ihr empfand eine immense Befriedigung, wenn die Tear gehandelt wurden. Doch vor fünf oder sechs Jahren war es zu einem Zwischenfall gekommen, als Broussards Helfer die Sklaven nur nachlässig entlaust hatten. Wenig später hatte es im gesamten Palast und in mehreren Adelshäusern nur so gewimmelt von Läusen. Die Königin hatte gerade noch verhindern können, dass die Öffentlichkeit Wind davon bekam. Sie hatte allen Betroffenen einen Sklaven geschenkt und den Verlust von Broussards Gehalt abgezogen. Wirklich eine schlimme Sache, im Nachhinein aber auch ganz gut, denn so konnte sie dem Auktionator immer etwas vorhalten. Jetzt zum Beispiel, wenn er vergaß, dass er nichts weiter als ein Fleischhändler war und dass es ohne sie, die Königin, gar keine Auktion geben würde.

Broussard verließ den Raum und drückte sein Köfferchen immer noch so fest an sich, als wäre es sein einziges Kind.

Erfreut registrierte sie die steife Haltung seiner Schultern, die ihn gekränkt aussehen ließ. Doch auch jetzt verstummte das Flüstern in ihrem Kopf nicht, die unausgesprochene Frage, die seit Tagen an ihr nagte: Wo blieb die Lieferung? Vier Tage bei gutem Wetter, fünf bei schlechtem. Noch nie war sie nach dem Fünften des Monats eingetroffen. Heute hatten sie den sechsten März. Wenn es ein Problem gab, hätten entweder Thorne oder der Regent sie inzwischen informieren müssen. Die Königin drückte sich eine Hand an die Stirn, hinter der sich ein pochender Kopfschmerz ankündigte. Ihre körper­liche Verfassung war inzwischen so hervorragend, dass sie kaum mehr krank wurde – mit Ausnahme der Kopfschmerzen, die wie aus dem Nichts auftauchten, keine medizinische Ursache hatten und genauso plötzlich wieder verschwanden.

Was, wenn die Lieferung überhaupt nicht kommt?

Sie fuhr auf ihrem Thron zusammen, als hätte sie jemand gezwickt. Der Menschenhandel war essenziell für die Wirtschaft Mortmesnes. Zyklisch und vorhersehbar wie die Gezeiten. Zwar sandten ihr auch die Callae und die Cadarese Sklaven, doch selbst beide Tribute zusammen konnten die Tearlieferung nicht aufwiegen. Sklaven hielten die Fabriken am Laufen, machten die Adligen glücklich und füllten die Schatzkammer. Ein Fehler im System bedeutete Verlust.

Plötzlich merkte sie, dass sie Liriane vermisste. Wie alle Angestellten war sie gealtert, während die Königin jung blieb, und vor einigen Jahren gestorben. Liriane war eine echte Seherin gewesen. Nicht nur, dass sie in die Zukunft hatte blicken können, nein, sie hatte auch die Vergangenheit gesehen und alles über die Gegenwart gewusst. Sie hätte ihr sagen können, was in Tearling vor sich ging. Denn sosehr sich die Königin auch vom Gegenteil überzeugen wollte, wurde sie doch das Gefühl nicht los, dass das Ganze etwas mit dem Mädchen zu tun hatte. Wenn es en route nicht getötet worden war, musste es die Festung inzwischen erreicht haben. Hatte sich Thorne der Sache schon annehmen können? Der Regent mochte die Inkompetenz in Person sein, doch auf Thorne traf genau das Gegenteil zu. Sollte er scheitern, was war dann der nächste Schritt? Auf das Abkommen verweisen und in den Krieg ziehen? Wenn sie ehrlich war, hatte sie nie wirklich in Tearling einfallen wollen. Um fremdes Territorium zu besetzen, brauchte es Geld und Rüstzeug, und abgesehen davon hatte man nur Scherereien. Die Lieferung war ganz eindeutig die elegantere Lösung.

Zugleich war ihr klar, dass es Schlimmeres gab, als ihre Armee zu mobilisieren. Ihre Soldaten waren seit der letzten Tearinvasion nicht mehr in den Krieg gezogen; es gab keine Probleme an den Mortgrenzen. Und seit die Verbannten ihre Verschwörung ausgebrütet hatten, hatte es keine Kämpfe gegeben. Selbst an ihren schlechtesten Tagen könnte ihre Armee es mit den Tear aufnehmen. Allerdings bestand durchaus die Möglichkeit, dass ihre Männer in all der Zeit etwas verweichlicht waren. Es wäre wohl angebracht, sie in Form zu bringen. Nur für den Fall. Bei dem Gedanken schien sich die Intensität ihres Kopfschmerzes zu verdoppeln. Eine immer wiederkehrende Flutwelle, die ihr an die Schädeldecke brandete.

Vor ihrem Audienzzimmer schien irgendein Tumult ausgebrochen zu sein. Die Königin blickte auf und sah, wie Beryll, ihr Kammerherr, zu den riesigen Türen schlenderte. Er würde sich darum kümmern. Seit Lirianes Tod war er ihr ältester Angestellter und derjenige, dem sie am meisten vertraute. Nach all den Jahren hatte er sich derart auf ihre Wünsche eingestellt, dass sie sich kaum noch für die täg­lichen Abläufe im Palast interessieren musste. Nach einem Blick auf ihre Taschenuhr beschloss sie, sich für ein frühes Abendessen in ihre Gemächer zurückzuziehen und sich dann einen Sklaven zu gönnen. Den großen aus der letzten Lieferung. Ein muskulöser Kerl mit dickem, schwarzem Haar und Bart, dem Aussehen nach ein Hufschmied. So hoch gewachsene Männer gab es nur in Tearling.

Die Königin gab Eve, einem Dienstmädchen, ein Zeichen und befahl ihr flüsternd, den Sklaven später wieder aus ihrem Zimmer fortzuschaffen. Eve versuchte, so dienstbeflissen wie möglich dreinzublicken, was die Königin wohlwollend zur Kenntnis nahm. Da sich die meisten Männer nicht gerade kooperativ zeigten, hassten die Dienstboten diese Aufgabe. Eve würde den Sklaven unter Drogen setzen, damit die Königin ihn so richtig rannehmen konnte und ihrem Albtraum, der sie schon so lange quälte, noch ein Weilchen entkam.

Natürlich brauchte es die Droge eigentlich nicht. Ihre Transformation war schon so weit fortgeschritten, dass sie nicht sicher war, ob man ihr überhaupt noch etwas zuleide tun konnte. Doch das hatte sie ihren Dienstboten nie erzählt, und heute war sie froh darüber. Bei den Kopfschmerzen, die sich da ankündigten, bevorzugte sie einen anschmiegsamen Mann. Sie verließ das Audienzzimmer durch einen Privatausgang hinter ihrem Thron und schritt über einen langen Korridor zu ihren Gemächern.

Der Gang wurde von Wachen gesäumt, die den Blick wohlweislich gesenkt hielten. Bei diesem Anblick verflüchtigte sich ihre Vorfreude. In seinem letzten Bericht hatte der Regent geschrieben, fast die gesamte Königinnen-Garde habe die Festung verlassen, um nach dem Mädchen zu suchen. Carroll, Mace, Elston … allesamt Namen, die sie kannte und aufgrund ihrer Erfahrungen ernst nahm. Hätte sie Mace vor Elyssa getroffen – vielleicht wäre alles anders gekommen. Aber so hatten sich die Saphire in Luft aufgelöst, und das roch schon ganz gewaltig nach dem Mann mit dem Morgenstern. Wenn die Königin die Saphire doch nur vor Elyssa in die Finger bekommen hätte! Wahrscheinlich hätte sie dann nicht einmal mehr Kopfschmerzen. Und Medizin bräuchte sie auch keine mehr.

Aber nein, alles würde in Ordnung kommen. Die Lieferung würde eintreffen, sie würde die Saphire finden und dem Regenten vielleicht sogar noch eine saftige Verzugsgebühr aufbrummen können. Er würde jammern und heulen, aber natürlich trotzdem zahlen. Sie betrat ihr Gemach, und beim Gedanken an sein bleiches, bestürztes Gesicht lächelte sie. Langsam und in freudiger Erwartung des Sklaven, legte sie ihre Kleider ab.

Ihre Dienstboten waren wirklich schnell. Kaum hatte sie sich fünf Minuten in ihrem Zimmer aufgehalten, klopfte es auch schon an die Tür.

»Herein!«, blaffte sie, verärgert, weil die Kopfschmerzen schlimmer wurden. Vielleicht konnte man ihr in der Küche ein Pulver anrühren, das den Schlaf noch ein wenig hinauszögern würde, wenn sie mit dem Sklaven fertig war.

Die Tür öffnete sich. Sie wandte sich um und erblickte Beryll auf der Schwelle. Sie wollte sich schon nach dem Pulver erkundigen, als ihr die Frage im Hals stecken blieb. Ihr Kammerherr war schneeweiß im Gesicht, in seinen Augen lag unbeschreib­liche Angst. Mit zitternder Hand umklammerte er eine Papierrolle.

»Lady«, sagte er mit bebender Stimme.