8
Der Trakt der Königin
»Man vergisst leicht, dass zu einer Monarchie mehr als nur ein Monarch gehört. Eine erfolgreiche Herrschaft ist eine schwierige Sache, eine Symphonie aus unzähligen ineinandergreifenden Zahnrädchen – so auch die Gefolgschaft der Königin. Doch die Bedeutung von Lazarus mit dem Morgenstern, dem Captain der Königinnen-Garde und Hauptvollstrecker Ihrer Majestät, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Ohne ihn würde das gesamte Konstrukt in sich zusammenfallen.«
Tearling als Militärnation, Callow der Märtyrer
ls sie erwachte, stellte Kelsea erfreut fest, dass die Zierkissen vom Bett ihrer Mutter verschwunden waren. Von ihrem Bett. Denn das alles gehörte ja nun ihr – und das war leider weniger beglückend. Auch sonst fühlte sie sich ziemlich elend. Auf ihrem Rücken klebten zahllose Verbände, und als sie sich durch die Haare fuhr, glänzten ihre Finger fettig. Sie musste eine ganze Weile geschlafen haben. Mace hockte diesmal nicht in ihrem Sessel in der Ecke. Außer ihr war niemand im Raum.
Kelsea brauchte ein paar Minuten, um sich aufzusetzen. Die Wunde an ihrer Schulter blutete nicht mehr, schmerzte aber bei jeder Bewegung. Irgendjemand – bestimmt Andalie – hatte einen Krug mit Wasser und ein leeres Glas auf den Nachttisch gestellt. Kelsea trank etwas davon und spritzte sich ein paar Tropfen ins Gesicht. Andalie hatte ihr wohl auch das Blut abgewaschen, und Kelsea war ihr dankbar dafür. Der Mann fiel ihr ein, den sie im Kampf getötet hatte. Zu ihrer Erleichterung tangierte sie der Gedanke nicht weiter.
Kelsea erhob sich vorsichtig und lief dann ein paar Schritte im Raum auf und ab, um zu testen, ob die Verletzung sie stark beeinträchtigte. Dabei bemerkte sie ein Seil über dem Fußende ihres Betts. Es war mithilfe mehrerer Haken an der Decke befestigt worden und verschwand in einer kleinen Öffnung in der Wand zum Vorraum. Lächelnd zog Kelsea daran und vernahm den gedämpften Klang einer Glocke.
Mace öffnete die Tür. Als er sie neben ihrem Bett stehen sah, nickte er zufrieden. »Gut. Der Arzt hat Euch noch mindestens einen Tag Bettruhe verordnet, aber ich dachte mir schon, dass er Euch nur unnötig verhätschelt.«
»Welcher Arzt?« Kelsea hatte angenommen, Mace hätte ihre Wunden versorgt.
»Der Arzt, den ich für das kranke Baby habe rufen lassen, Ihr erinnert Euch? Ich kann Ärzte ja nicht leiden, aber dieser hier ist wenigstens kompetent. Dass sich die Wunde nicht entzündet hat, habt Ihr aller Wahrscheinlichkeit nach ihm zu verdanken. Er meinte, Eure Schulter würde langsam, aber dafür vollständig heilen.«
»Noch eine Narbe.« Vorsichtig strich sich Kelsea über den Hals. »Bald habe ich keine einzige unversehrte Stelle mehr am Körper. Wie geht’s dem Baby?«
»Besser. Der Arzt hat der Mutter ein Medikament gegeben, das den Magen des Kinds beruhigt hat. Allerdings kostet das Zeug ein verdammtes Vermögen, und die Kleine wird wohl noch mehr davon brauchen.«
»Ich hoffe, Ihr habt ihn gut bezahlt.«
»Sehr gut sogar, Lady. Aber auf Dauer können wir seine Dienste nicht in Anspruch nehmen und die des anderen Arztes auch nicht. Richtig vertrauenswürdig ist keiner von beiden.«
»Und was sollen wir dann tun?«
»Weiß ich noch nicht.« Mace rieb sich die Stirn. »Ich denke darüber nach.«
»Wie geht es den verletzten Gardisten?«
»Gut. Aber ein paar von ihnen müssen in nächster Zeit etwas kürzertreten.«
»Ich will sie sehen.«
»Das würde ich lieber nicht tun, Lady.«
»Warum?«
»Die Männer der Königinnen-Garde sind sehr stolz. Sie würden nicht wollen, dass Ihr von ihren Wunden Notiz nehmt.«
»Nein?«, fragte Kelsea verwundert. »Aber ich weiß doch nicht mal, wie man ein Schwert hält.«
»So denken wir nicht, Lady. Wir wollen unsere Arbeit einfach nur gut machen.«
»Und wie soll ich mich jetzt verhalten? So tun, als hätte es keine Verletzten gegeben?«
»Genau.«
Kelsea schüttelte den Kopf. »Barty hat immer gesagt, Männer würden sich bei drei Dingen ziemlich dumm anstellen: Wenn es um ihr Bier geht, ihren Schwanz oder ihren Stolz.«
»Jup, das klingt nach Barty.«
»Ich hatte gehofft, das mit dem Stolz wäre ein Irrtum.«
»Ist es nicht.«
»Wo wir gerade von Stolz sprechen, habt Ihr eine Ahnung, wer das Messer geworfen hat?«
Mace presste die Kiefer aufeinander. »Vergebt mir, Lady. Meine Sicherheitsvorkehrungen haben nicht gereicht, und ich übernehme die volle Verantwortung dafür. Ich dachte, ich hätte Euch nach allen Seiten hin abgeschirmt.«
Kelsea wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Mace blickte zu Boden. Sein furchiges Gesicht war angespannt, als würde er erwarten, jeden Moment ausgepeitscht zu werden. Er ertrug es nicht, unvorbereitet zu sein. Und auch wenn er behauptet hatte, nie wirklich Kind gewesen zu sein, hatte Kelsea so ihre Zweifel. Sein Verhalten wirkte wie das Ergebnis einer allzu unbarmherzigen Erziehung. Sie fragte sich, ob sie genauso gequält aussah, wenn sie eine Frage nicht beantworten konnte. Wie früher bei Carlin. Dann fiel ihr ein, was Mace gesagt hatte: Dass sie seine Dienstherrin sei und nicht sein Beichtvater. Also erwiderte sie: »Ihr seid dabei, den Schuldigen ausfindig zu machen, hoffe ich?«
»Ja.«
»Dann kommen wir zum nächsten Punkt.«
Erleichtert blickte Mace auf. »Nach einer Thronbesteigung wird normalerweise als Erstes eine Audienz abgehalten, aber wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich das gerne um ein, zwei Wochen verschieben, Lady. Ihr seid noch nicht wieder in Form, und es gibt viel zu tun.«
Kelsea ging zu der protzigen Frisierkommode hinüber, griff nach ihrer Tiara und betrachtete sie nachdenklich. Sie war wunderschön, aber zu zart und zu feminin für ihren Geschmack. »Wir müssen die echte Krone finden.«
»Das wird schwierig. Eure Mutter hat Carroll befohlen, sie zu verstecken, und glaubt mir, er ist dabei äußerst geschickt vorgegangen.«
»Gut, aber dann sollten wir wenigstens dafür sorgen, dass dieses aufgetakelte Frauenzimmer aus dem Thronsaal für das Ding hier entschädigt wird.«
Mace räusperte sich. »Wir haben noch einiges vor. Ich lasse Andalie rufen, damit sie Euch ein wenig zurechtmacht.«
»Wie unhöflich.«
»Verzeiht, Lady, aber Ihr habt schon besser ausgesehen.«
Plötzlich donnerte etwas mit voller Wucht gegen die Außenwand. Der Baldachin über Kelseas Bett bebte. »Du lieber Himmel. Was geht da draußen vor sich?«
»Wir bunkern Vorräte für die Belagerung.«
»Für die Belagerung? Erwarten wir denn eine?«
»Heute ist der sechste März, Lady. In zwei Tagen läuft die Vertragsfrist aus.«
»Ich werde meine Meinung nicht ändern, Lazarus. Die Frist ist mir egal.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr Euch über die Konsequenzen im Klaren seid, Lady.«
Kelseas Augen wurden schmal. »Und ich bin mir nicht sicher, ob Ihr mich versteht, Lazarus. Mir ist durchaus klar, was ich mit der ganzen Sache losgetreten habe. Wer befehligt meine Armee?«
»General Bermond, Lady.«
»Lasst ihn herbringen.«
»Ich habe ihn bereits verständigen lassen, aber es kann noch ein paar Tage dauern, bis er wieder hier ist. Er hat sich die Truppen an der Südgrenze angesehen, und er ist kein besonders guter Reiter.«
»Der General meiner Armee ist kein besonders guter Reiter?«
»Er ist gelähmt, Lady. Eine Verletzung, die er sich vor zehn Jahren zugezogen hat, als er die Festung gegen einen Staatsstreich verteidigt hat.«
»Oh«, erwiderte Kelsea verlegen.
»Ich warne Euch. Mit Bermond werdet Ihr kein leichtes Spiel haben. Eure Mutter hat ihm freie Hand gelassen, und auch der Regent hat ihn schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht. Bermond ist es gewöhnt, dass alles nach seinen Vorstellungen läuft. Es wird ihm nicht gefallen, seine Militärstrategien plötzlich mit einer Frau zu besprechen, selbst wenn es sich dabei um die Königin handelt.«
»Pech für ihn. Wo ist das Mortabkommen?«
»Es liegt draußen und wartet nur darauf, von Euch geprüft zu werden. Aber ich denke, Ihr werdet Euch damit abfinden müssen.«
»Womit?«
»Mit der Aussicht auf Krieg«, erwiderte Mace rundheraus. »Denn nichts anderes habt Ihr getan, Lady. Ihr habt Mortmesne den Krieg erklärt. Und glaubt mir, die Rote Königin wird kommen.«
»Es ist ein Risiko, Lazarus, ich weiß.«
»Vergesst nicht, Lady – Ihr seid nicht die Einzige, die alles aufs Spiel setzt. Ihr bringt ein ganzes Königreich in Gefahr. Euer Einsatz ist hoch, und Ihr solltet Euch auf eine Niederlage gefasst machen.«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, um Andalie zu suchen. Kelsea ließ sich aufs Bett sinken. Sie spürte, wie ihr Mut sie verließ. So langsam schien Mace sie zu durchschauen, denn er hatte sie genau dort getroffen, wo es am meisten wehtat. Sie schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Mortmesne, in ihrer Fantasie ein düsteres Reich, das aus einem langen Schlummer erwacht war und drohend wie ein Schatten über ihren Plänen aufragte.
Carlin, was soll ich nur machen?
Doch Carlin war verstummt. Keine Antwort für Kelsea.
Das Mortabkommen lag ausgebreitet auf dem großen Esstisch, der sich an einem Ende des Audienzraums befand. Es umfasste nur ein paar dicke Pergamentseiten, die sich über die Jahre bräunlich verfärbt hatten. Ziemlich wenig für ein so bedeutendes Dokument. Kelsea berührte es vorsichtig. Das Kürzel ihrer Mutter faszinierte sie, ein nachlässig hingekritzeltes E R in schwarzer Farbe am linken unteren Rand. Auf der rechten Seite entdeckte sie die Initialen K M und auf der letzten Seite dann zwei Unterschriften: ein unleserlich hingeworfenes »Elyssa Raleigh« und ein ordentlich geschwungenes »Königin von Mortmesne« in blutroter Tinte.
Sie will um jeden Preis verhindern, dass jemand ihren wahren Namen erfährt, begriff Kelsea. Es muss unfassbar wichtig für sie sein, dass keiner herausfindet, wer sie wirklich ist. Aber warum nur?
Enttäuscht stellte sie fest, dass der Vertrag tatsächlich wasserdicht war. Tearling hatte sich verpflichtet, jährlich dreitausend Sklaven in zwölf gleich großen Lieferungen an Mortmesne auszuliefern. Darunter mussten sich mindestens fünfhundert Kinder befinden, von jedem Geschlecht nicht weniger als zweihundert. Auch von Callae und Cadare wurde ein Kontingent an Kindern gefordert. Aber warum? Für den Bergbau oder die Industrie brauchte es Erwachsene, und Bauernhöfe gab es in Mortmesne nur wenige. Selbst wenn deren Markt einen hohen Pädophilenanteil aufwies, wären das viel zu viele Kinder, als dass man sie in einem derartigen Tempo hätte verschleißen können.
Die emotionslose Beamtensprache des Vertrags gab keinen Aufschluss. Kelsea erfuhr nur so viel: Wenn eine Lieferung nicht bis zum Achten des Monats in Demesne eintraf, hatten die Mort das Recht, in Tearling einzufallen und die Sklaven selbst gefangen zu nehmen. Ihr fiel auf, dass weder eine zeitliche Begrenzung noch eine Rückzugsaufforderung vereinbart worden waren. Kelasea drückte ihren Rücken durch. Widerstrebend musste sie sich eingestehen, dass Mace recht hatte: Sie hatte Mortmesne einen Freibrief erteilt, in Tearling einzumarschieren. Was war bloß in ihre Mutter gefahren, dass sie einen derart einseitigen Vertrag unterzeichnet hatte?
Sei fair, sagte eine unbekannte Stimme in ihrem Kopf, die weder zu Carlin noch zu Barty gehörte und so pragmatisch klang, dass Kelsea misstrauisch wurde. Was hättest du getan, wenn der Feind vor den Toren gestanden hätte?
Wieder wusste Kelsea keine Antwort. Sie schob die Seiten zu einem ordentlichen Stapel zusammen und strich sie glatt. Ihr war übel. Dann fiel ihr etwas ein, etwas, das noch vor ein paar Wochen undenkbar gewesen wäre. Doch in letzter Zeit schien sich ihr Verstand immer nur das Schlimmste auszumalen, um gegen weitere Katastrophen gewappnet zu sein. An Mace gewandt, fragte sie: »Wurde meine Mutter ermordet?«
»Es wurden mehrere Anschläge auf sie verübt«, erwiderte er ungerührt, doch Kelsea hatte den Eindruck, dass seine Gleichgültigkeit nur vorgetäuscht war. »Einmal wäre sie fast gestorben, weil ihr jemand Nachtschatten ins Essen gemischt hat. Danach hat sie beschlossen, Euch zu Pflegeeltern zu geben.«
»Sie hat mich aus der Festung bringen lassen, um mich zu schützen?«
Mace runzelte die Stirn. »Warum denn sonst?«
»Egal.« Kelsea richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Vertrag. »Hier steht nichts von einer Auslosung.«
»Weil das eine innenpolitische Angelegenheit war. Am Anfang hat Eure Mutter nur Strafgefangene und Geisteskranke verschifft, doch das waren schlechte Sklaven, und die Rote Königin hat sich nicht lange damit zufriedengegeben. Der Zensus war eine Idee Eures Onkels.«
»Und niemand wird von der Lieferung verschont?«
»Keiner, abgesehen von Geistlichen. Sogar Babys werden geliefert. Sobald sie abgestillt sind, kommen ihre Namen in den Lostopf. Es heißt, sie seien ein Geschenk der Roten Königin an kinderlose Paare. Manche Frauen haben ihre Kinder sehr lange gestillt, um sie vor einem solchen Schicksal zu bewahren, doch Thorne ist ihnen auf die Schliche gekommen. Er hat in jedem Dorf seine Leute. Und denen entgeht so gut wie nichts.«
»Ist er meinem Onkel sehr zugetan?«
»Er ist ein Geschäftsmann, Lady. Er dreht sein Fähnchen nach dem Wind.«
»Und wohin weht der gerade?«
»Nach Mortmesne.«
»Dann sollten wir ein Auge auf Thorne haben.«
»Ich habe immer mindestens ein Auge auf ihn, Lady.«
»Wie ist meine Mutter eigentlich gestorben? Das hat Carlin mir nie gesagt.«
»Man sagt, sie sei vergiftet worden, Lady. Und das Gift soll ihr Herz allmählich geschwächt haben, bis sie ein paar Jahre darauf verstorben ist.«
»Man sagt. Was sagt Ihr, Lazarus?«
Ausdruckslos blickte er sie an. »Ich sage nichts, Lady. Genau deshalb bin ich ein Teil der Königinnen-Garde.«
Enttäuscht verbrachte Kelsea den Rest des Tages damit, den Trakt der Königin zu inspizieren und anschließend ihren neuen Stab kennenzulernen.
Da war zum einen Milla, eine überaus zierliche, blonde junge Frau. Wie sie ihren mittlerweile vierjährigen Sohn zur Welt gebracht hatte, mochte Kelsea sich gar nicht vorstellen. In jedem Fall musste sie einem sehr unschönen Broterwerb nachgegangen sein. Als sie ihr mitteilte, dass sie von nun an nur noch fürs Kochen zuständig sei – wenn auch für mehr als zwanzig Personen, denn so viele Bewohner hatte der Trakt mittlerweile –, als sie ihr das also auf Anraten von Mace mitteilte, freute sich Milla derart unbändig, dass Kelsea ihre Hände in den Falten ihres Kleids verbarg. Sie fürchtete, dass die junge Frau sonst noch auf die Idee gekommen wäre, sie zu küssen.
Carlotta, die nach ihr in den Audienzraum kam, war älter, hatte ein rundes Gesicht und leuchtend rote Wangen. Sie wirkte verängstigt und räumte erst nach mehrmaligem Nachfragen ein, einigermaßen anständig nähen zu können. Als Kelsea bat, ihr ein paar schwarze Kleider anzufertigen, willigte sie ein.
»Es wäre besser, wenn ich Eure Maße nehmen könnte, Majestät«, stieß sie zaghaft hervor, obwohl sie schon beim bloßen Gedanken daran zu erschrecken schien. Zwar fand Kelsea die Vorstellung, vermessen zu werden, mindestens ebenso angsteinflößend, doch sie nickte lächelnd, um ihr ein wenig von ihrer Befangenheit zu nehmen.
Im Anschluss empfing sie drei Gardisten, die sie damals nicht zur Festung eskortiert hatten. Zunächst begrüßte sie Caelan, einen grobschlächtigen Kerl, der von allen nur Cae genannt wurde, und dann die Bogenschützen Tom und Wellmer. Obwohl sich Wellmer redlich bemühte, genauso gelassen dreinzublicken wie seine Kollegen, wirkte er zappelig und verlagerte sein Gewicht alle paar Sekunden von einem Bein aufs andere. Für einen Gardisten schien er viel zu jung.
»Wie alt ist der Junge?«, fragte Kelsea flüsternd.
»Wellmer? Zwanzig«, erwiderte Mace.
»Und wo habt Ihr ihn her? Von der Brust einer Amme, oder was?«
»Lady, die meisten von uns waren gerade mal im Teenageralter, als sie rekrutiert wurden. Macht Euch wegen Wellmer keine Sorgen. Gebt ihm einen Bogen, und er trifft noch im trübsten Fackelschein Euer linkes Auge.«
Kelsea versuchte, Mace‘ Beschreibungen mit dem zappeligen, bleichen Jungen in Einklang zu bringen, gab es jedoch bald auf. Als die Gardisten wieder ihre Posten bezogen hatten, folgte sie Mace in einen Raum, den man zu einem Spielzimmer umfunktioniert hatte und der als einer der wenigen Räume hier Fenster besaß. Das einfallende Licht machte ihn hell und freundlich. Das gesamte Mobiliar war an die Wand gerückt worden, und überall auf dem Boden lag provisorisches Spielzeug. Kelsea erblickte ausgestopfte Lumpenpuppen, denen das Stroh aus den Flicken quoll, Spielzeugschwerter und sogar einen kleinen Krämerladen aus Holz.
In der Mitte des Spielzimmers scharten sich ein paar Kinder im Halbkreis um eine hübsche, rothaarige Frau und hörten ihr wie gebannt zu. Sie erzählte von einem Mädchen mit außergewöhnlich langem Haar, das in einem Turm gefangen war. Unbemerkt lehnte sich Kelsea in den Türrahmen. Die Frau hatte einen deutlichen Mortakzent, doch ihre Stimme war wohltönend, und sie verstand es, Spannung zu erzeugen. Als der Prinz von der bösen Hexe in einen Hinterhalt gelockt wurde, sanken ihre Mundwinkel nach unten, und ein trauriger Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. Jetzt erst erkannte Kelsea sie wieder. Überrascht wandte sie sich zu Mace um.
Er zog sie von der Tür weg und sagte leise: »Sie ist toll mit Kindern. Die anderen Frauen lassen ihre Sprösslinge während der Arbeit gern bei ihr. Sogar Andalie ist damit einverstanden. Wirklich ein unerwarteter Segen, andernfalls wären uns die Kleinen ständig im Weg.«
»Stört es die Frauen nicht, dass sie eine Mort ist?«
»Allem Anschein nach nicht.«
Kelsea lugte wieder in das Spielzimmer, wo die Rothaarige gerade pantomimisch darstellte, wie die Augen des Prinzen heilten. Zwischen der strahlenden Frau und dem jämmerlichen Geschöpf, das vor Kurzem noch vor dem Thron gehockt hatte, lagen Welten.
»Was hat er ihr angetan?«
»Ich habe sie nicht nach ihrem Leben beim Regenten gefragt, Lady, denn ich finde, das ist ihre Privatangelegenheit. Aber wenn ich raten sollte …« Wieder senkte er die Stimme. »Sie war das Lieblingsspielzeug Eures Onkels. Und er wollte nicht, dass sie schwanger wird, denn das hätte ihm den ganzen Spaß verdorben.«
»Wie bitte?«
Mace breitete die Arme aus. »Lady, sie wollte unbedingt ein Kind, und wenn es sein musste auch vom Regenten, daraus hat sie keinen Hehl gemacht. Seine anderen Frauen haben ihre Verhütungsmittel bereitwillig geschluckt – sie nicht. Es heißt, man habe ihr das Zeug ins Essen mischen müssen. Und der Regent hat geschworen, jedes Kind, das sie zur Welt bringt, töten zu lassen. Das habe ich mit eigenen Ohren gehört.«
»Verstehe.« Kelsea nickte ruhig, obwohl sie innerlich kochte. Nach einem letzten Blick auf die Frau und die Kinderschar fragte sie: »Wie heißt sie?«
»Marguerite.«
»Wie ist mein Onkel an eine Mortsklavin gekommen?«
»In Mortmesne sind Rothaarige noch seltener als in Tearling. Marguerite war ein Geschenk der Roten Königin, ein Zeichen ihrer Gunst.«
Kelsea legte den Kopf an die Wand des Gangs. Ihre Schulter begann zu pochen. »Dies ist ein durch und durch verdorbener Ort, Lazarus.«
»Es hätte eine führende Hand gebraucht, Lady. Aber wir hatten keine.«
»Hättet nicht Ihr das Reich regieren können?«
»Gewiss nicht.« Mace deutete auf die offene Tür. »Ich hätte Eurem Onkel sein Spielzeug gelassen. Und ich hätte mich mit der Roten Königin geeinigt, bevor ich die Lieferung unterbunden hätte.«
»Ja, das habe ich vorhin schon begriffen.«
»Ich weiß. Bitte versteht mich nicht falsch, Lady. Ich sage nicht, dass Eure Entscheidung richtig oder falsch war, sondern nur, dass es schon eher jemanden wie Euch gebraucht hätte. Aber Ihr wart eben nicht da.«
In seiner Stimme lag kein Vorwurf. Kelseas Ärger verflüchtigte sich, doch ihre Schulter pochte wieder, heftiger als zuvor. Wie um alles in der Welt konnte es schlimmer werden, wenn sie hier einfach nur rumstand? »Ich muss mich setzen.«
In nur fünf Minuten hatten ihre Gardisten den großen, bequemen Sessel aus Kelseas Schlafzimmer in den Audienzraum verfrachtet, wo sie ihn sicher vor einer Wand postierten.
»Mein Thron«, murmelte Kelsea.
»Den Thronsaal können wir im Moment nicht überwachen, Lady«, erwiderte Mace. »Er hat zu viele Eingänge, und wir bräuchten viel mehr Gardisten als wir haben, um diese zweimal verfluchte Empore zu sichern. Aber wenn Ihr wollt, könnten wir euren Thron fürs Erste hierherbringen lassen.«
»Das käme mir ziemlich sinnlos vor.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Krone auf Eurem Kopf ist auch ziemlich sinnlos, und dennoch habt Ihr ihre Bedeutung erkannt. Der Thron könnte denselben Zweck erfüllen.«
Nachdenklich neigte Kelsea den Kopf. »Ihr meintet vorhin, ich müsse eine Audienz abhalten.«
»Ja.«
»Schätze, in einem Sessel geht das schlecht.«
»Es ginge schon«, antwortete Mace. Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. »Aber für die Raleigh-Monarchie wäre es eher ungewöhnlich. Für welche Sitzgelegenheit Ihr Euch auch entscheidet – diesen Saal hier können wir am leichtesten sichern, denn zum Trakt der Königin gibt es nur einen öffentlichen Zugangsweg. Einen langen Tunnel ohne abgehende Türen. Ihr habt ihn gesehen, als wir Euch hergebracht haben.«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Verständlich. Als wir Euch da durchgeschleift haben, wart Ihr beide Male halb bewusstlos. In diesen Trakt münden jede Menge Geheimgänge, aber sie sind allesamt gut bewacht, und nur ich kenne wirklich alle. Die Kontrolle des Zugangswegs verschafft uns einen guten Überblick über alle Bewegungen in der Festung.«
»Gut.« Vorsichtig ließ sich Kelsea in den Sessel sinken. »Blute ich wieder?« Sie beugte sich vor, um Mace unter ihren Verband schauen zu lassen.
»Nein, kein Blut.«
»Ich habe das Gefühl, als müsste ich bald wieder schlafen.«
»Noch nicht, Lady«, erwiderte Mace. »Ihr solltet alle am gleichen Tag empfangen, um niemanden zu brüskieren.« Er bedeutete Mhurn, der am Eingang des Saals Wache hielt, näher zu kommen. »Hol Venner und Fell.«
Mhurn verschwand, und Kelsea lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Wie aus dem Nichts tauchte Andalie auf und stellte sich neben einen der Gardisten an die Wand. Sie schien bleiben zu wollen. Kelsea fragte sich, ob Mace etwas dagegen haben würde, doch er übersah die Zofe geflissentlich. Von ihr schien das Gleiche erwartet zu werden. Nachdem sie jahrelang mit Barty und Carlin gelebt hatte, waren nun ständig eine Menge Leute um sie herum. Und anscheinend hatten einige von ihnen unsichtbar zu sein. »Wann können wir Barty und Carlin holen lassen?«
Mace zuckte die Schultern. »In ein paar Wochen, vielleicht. Könnte eine Weile dauern, bis wir sie finden.«
»Sie sind in Petaluma, einem Dorf an der Grenze zu Cadare.«
»Nun, das vereinfacht die Sache.«
»Ich will sie bei mir haben«, sagte Kelsea. Das tat sie wirklich. Bis gerade eben war ihr nicht klar gewesen, wie sehr ihr Barty fehlte. Eine plötzliche, heftige Sehnsucht überkam sie. Nach seinem sauberen, ledrigen Geruch und seinen Augenbrauen, die sich so nett kräuselten, wenn er lächelte. Und Carlin … gut, nach der sehnte sie sich eigentlich nicht. Genaugenommen graute ihr vor dem Moment, wenn sie ihr gegenüberstehen und Rechenschaft über ihre Handlungen würde ablegen müssen. Aber Carlin und Barty gab es eben nur im Doppelpack. »Ich möchte, dass sie so schnell wie möglich herkommen.«
»Für so was ist Dyer der Richtige, Lady. Sobald er wieder da ist, leite ich alles in die Wege.«
»Wieder da von wo?«
»Nun, ich habe ihm schon einen anderen Auftrag erteilt.«
»Was denn für einen Auftrag?«
Seufzend schloss Mace die Augen. »Tut mir einen Gefallen, Majestät, und lasst mich in Frieden meine Arbeit machen.«
Es ärgerte Kelsea, dass er ihr erneut den Mund verbot, doch sie verkniff sich jede weitere Frage. Stattdessen musterte sie die vier Gardisten, die an den Wänden des Audienzraumes standen. Einer von ihnen war Galen. Kelsea hatte ihn noch nie ohne seinen Helm gesehen. Er war schon vollkommen ergraut, und seltsamerweise fielen seine Falten im Schein der Fackel noch mehr auf als damals im Wald. Er musste mindestens fünfundvierzig sein. Bestimmt diente er schon lange in der Königinnen-Garde. Kelsea dachte noch einen Moment darüber nach, bevor sie sich den anderen drei zuwandte.
Elston, Kibb und Coryn – sie alle hatten sie auf ihrer Reise begleitet. Zwar waren die drei nicht so alt wie Galen, aber immer noch deutlich älter als Kelsea. Manchmal wünschte sie, ihre Garde wäre ein kleines bisschen jünger, damit sie sich nicht immer so schrecklich deplatziert fühlen müsste. Alle vier Wachen mieden ihren Blick, was wahrscheinlich durchaus üblich war, aber Kelsea fand es trotzdem entwürdigend. Nach ungefähr einer Minute hatte sie es satt, ignoriert zu werden, und rief quer durch den Raum: »Kibb, wie geht’s deiner Hand?«
Er wandte den Kopf, hielt den Blick jedoch gesenkt. »Gut, Lady.«
»Lasst ihn in Ruhe«, flüsterte Mace.
Vom Korridor her näherten sich Schritte. Zwei Männer betraten den Saal, beide in das Grau der Königinnen-Garde gekleidet. Einer war groß und dünn, der andere klein und kräftig. Sie bewegten sich mit der mühelosen Geschmeidigkeit geübter Kämpfer, die Kelsea vor allem von Mace kannte. Im Gleichschritt und mit perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungen liefen sie nebeneinander her. Auch ihre Verneigung schien einer einstudierten Choreografie zu folgen. Wäre der Größere nicht mindestens zehn Jahre älter gewesen als der andere, man hätte die beiden für Zwillingsbrüder halten können.
Mhurn, der den Männern gefolgt war, postierte sich wieder vor dem Zugang zum Korridor. Seit über einer Woche waren sie nun schon auf der Festung. Sorgenvoll bemerkte Kelsea, dass Mhurn immer noch genauso abgespannt aussah wie auf seinem Ritt hierher. Sein Gesicht, ein bleiches Oval, leuchtete geisterhaft im Fackelschein, und sogar aus der Entfernung konnte sie die dunklen Ringe unter seinen Augen erkennen. Ob er nachts nicht schlief?
»Venner und Fell, Lady.« Mace‘ Worte lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Männer vor ihr. »Eure Waffenmeister.«
Kelsea streckte ihnen die Hand entgegen, die diese überrascht ergriffen. Fell, der Kleinere von beiden, hatte eine hässliche Narbe auf der Wange. Die Wunde war entweder schlecht oder überhaupt nicht genäht worden. Kelsea dachte daran, wie unbeholfen sich Mace an ihrem Hals zu schaffen gemacht hatte, und schüttelte den Kopf, wie um den unliebsamen Gedanken zu vertreiben. Ihre Schulter pochte unablässig und erinnerte sie einmal mehr daran, dass sie sich schlafen legen sollte.
Mace erwartet, dass ich wach bleibe, dachte sie störrisch. Und das werde ich auch.
»Nun, Waffenmeister, was genau ist Eure Aufgabe?«
Die beiden Männer wechselten einen Blick. Fell ergriff als Erster das Wort: »Ich kümmere mich um die Waffen und Rüstungen der Garde Eurer Majestät.«
»Und ich leite das Training«, fügte Venner hinzu.
»Könnt Ihr mir ein Schwert besorgen?«
»Ja, natürlich. Wir haben einige Schwerter, aus denen Ihr Euch eins aussuchen könnt, Majestät«, erwiderte Fell.
»Nein, kein Zeremonieschwert, obwohl ich mir das wahrscheinlich auch zulegen muss. Ich meine ein Schwert zum Kämpfen, eins, das zu meiner Statur passt.«
Verständnislos glotzten die Männer sie an. Ihr Blick wanderte automatisch zu Mace, was Kelsea so sehr in Rage versetzte, dass sie ihre Nägel in den weichen Stoff des Sessels bohrte. Doch Mace zuckte nur die Schultern.
»Zum Kämpfen, Majestät?«
Sie dachte an Carlin, an die Enttäuschung in ihrem Blick, wenn ihr Schützling die Beherrschung verlor. Kelsea biss sich heftig in die Wange. »Ich brauche ein Schwert und eine Rüstung, die auf meine Körpergröße abgestimmt sind. Und ich möchte trainiert werden.«
»Im Schwertkampf, Majestät?«, fragte Venner mit unverhohlenem Entsetzen.
»Ja, Venner, im Schwertkampf. Mit einem Messer kann ich mich verteidigen, das habe ich gelernt. Aber mit einem Schwert kann ich nicht umgehen.«
Ihr Blick wanderte zu Mace, um zu sehen, wie er ihren Vorschlag aufnahm. Er nickte, und ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Zustimmung beruhigte Kelseas Wut, und es gelang ihr, einen milderen Tonfall anzuschlagen: »Ich kann meine Männer nicht bitten, für mich zu sterben, während ich tatenlos herumsitze und zuschaue. Warum sollte ich nicht auch lernen, wie man kämpft?«
Beide Männer öffneten den Mund, um etwas zu erwidern, und schlossen ihn dann wieder. Mit einer Handbewegung ermutigte Kelsea sie zum Sprechen, und Feller sagte schließlich: »Es geht nur um den Schein, Lady, aber der ist wichtig. Ein Schwert zu führen hat … nichts Königinnenhaftes.«
»Wenn ich tot bin, habe ich auch nichts Königinnenhaftes mehr. Und da ich mich in letzter Zeit allzu oft verteidigen musste, wird mir ein Messer nicht mehr reichen.«
»Wir werden Eure Maße nehmen müssen, Lady«, antwortete Fell mürrisch.
»Und es könnte eine Weile dauern, bis wir einen Schmied finden, der bereit ist, eine Rüstung für eine Frau anzufertigen.«
»Dann macht Euch lieber schnell auf die Suche. Ihr könnt gehen.«
Die Männer verneigten sich. Bevor sie aus Kelseas Sichtfeld verschwanden, flüsterte Venner Fell etwas zu. Mace schnaubte.
»Was ist? Was hat er gesagt?«
»Dass Ihr Eurer Mutter nicht unähnlicher sein könntet.«
Kelsea verzog den Mund zu einem müden Lächeln. »Schätze, das wird sich erst noch rausstellen. Wer fehlt noch?«
»Arliss, Euer Schatzmeister. Und der Regent liegt uns permanent in den Ohren, dass er Euch sprechen will. Eine echte Nervensäge. Wäre gut, ihn loszuwerden.«
Seufzend dachte Kelsea an ihr weiches Bett und eine heiße Tasse Tee mit Sahne …
Sie schreckte hoch. Offenbar war sie eingenickt. Andalie war fort, aber Mace wartete noch immer geduldig auf eine Anweisung von ihr. Kelsea setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Lasst uns erst den Regenten und dann den Schatzmeister empfangen.«
Mace schnippte nach Coryn, der mit einem Nicken in Richtung Küche verschwand.
»Wo wir gerade von Eurem Onkel sprechen … In den letzten Tagen hat er wesentlich weniger komfortabel gelebt als zuvor.«
»Mir blutet das Herz.«
Leise trat Andalie neben sie und überreichte ihr eine dampfende Tasse mit einer milchigen Flüssigkeit. Vorsichtig schnupperte Kelsea daran. Der Geruch von schwarzem Tee mit Sahne stieg ihr in die Nase. Erstaunt sah sie ihre Zofe an, die sich wieder an der Wand postierte und den Blick gleichmütig in die Ferne richtete.
»Was ich damit meine«, fuhr Mace fort, »ist, dass sich der Regent wahrscheinlich ungerecht behandelt fühlt. Ich habe einen Großteil seines Eigentums konfisziert.«
»In meinem Namen?«
»Na ja, Ihr habt geschlafen.«
»Trotzdem habt Ihr in meinem Namen gehandelt. Seid doch bitte so nett, und wartet das nächste Mal, bis ich wieder wach bin.«
Mace musterte sie. Er hielt das Ganze für einen ihrer Puppen-und-Kleidchen-Momente, das merkte Kelsea genau. Sie seufzte. »Was genau habt Ihr denn konfisziert?«
»Schmuck, Whiskey, geschmacklose Statuen, ein paar außerordentlich hässliche Bilder, einen Haufen goldener Teller …«
»Schon gut, Lazarus. Ich lasse Euch das in Ruhe erledigen, wie es Euer Wunsch ist.« Sie spähte zu ihm auf. »Dafür solltet Ihr mir danken.«
Mace verneigte sich. »Meinen ergebensten Dank, Eure glorreiche …«
»Spart Euch das.«
Er grinste und wartete schweigend ab, bis ein dumpfes Klopfen an der Doppeltür der Westwand ertönte. Die Tür war fast sechs Meter hoch und nicht nur abgeschlossen, sondern auf Knie- und Kopfhöhe zusätzlich mit schweren Eichenriegeln gesichert. Während Elston nun seinerseits zweimal an die linke Tür klopfte, öffnete Kibb ein kleines Guckloch in der rechten. Wieder ertönte ein dreimaliges Klopfzeichen, das an der Ostwand des Saals widerhallte, worauf Elston mit einem erneuten Klopfzeichen antwortete. Endlich schien er zufrieden und schickte sich gemeinsam mit Kibb an, die schweren Riegel zurückzuschieben. Die reinste Herkulesaufgabe. Selbst von hier aus konnte Kelsea die Adern auf ihren kräftigen Unterarmen hervortreten sehen.
»Ein gutes System«, sagte sie an Mace gewandt. »Ich nehme, an, Ihr habt Euch das ausgedacht?«
»Nur die Details, die eigentliche Idee stammt von Carroll. Wir ändern das Zeichen jeden Tag.«
»Ziemlich viel Aufwand für einen einzigen Besucher. Warum kann er nicht auf demselben Weg hereingebracht werden, den Coryn eben genommen hat?«
Mace warf ihr einen seiner vielsagenden Blicke zu.
»Oh.«
»Ein paar Leute mögen einige der Gänge kennen, Lady, aber es würde mich geradezu schockieren, wenn ausgerechnet der Regent seinem Bett lange genug ferngeblieben wäre, um auch nur ein Viertel von dem zu erkunden, was ich hier so kenne.«
»Verstehe. Kann jemand die Tür zum Spielzimmer schließen? Ich möchte nicht, dass Marguerite die Unterredung mit anhört.«
Mace schnippte mit den Fingern, worauf sich Mhurn sofort Richtung Tür wandte. Kelsea hätte diese Art Befehl als entwürdigend empfunden, doch die Gardisten schienen nichts dagegen zu haben. Im Gegenteil, offensichtlich waren sie sogar stolz, dass Mace ihnen keine expliziten Anweisungen erteilen musste. Elston und Kibb stemmten nun ihre Schultern gegen die Türen. Kelsea erblickte einen breiten, von zahlreichen Fackeln erleuchteten Tunnel, der für einige Hundert Meter leicht abfiel, bevor er schließlich um eine Ecke zu biegen schien. Dort also hatte Mace sie hinaufschleifen müssen. Warum nur schuf jemand innerhalb eines Gebäudes einen künstlichen Hügel?
Um Feinde abzuwehren natürlich, erwiderte Carlin in ihrem Kopf. Denk nach, Kelsea. Der Aufgang soll dich schützen, wenn sie mit Forken die Festung stürmen, um dir den Kopf abzuschlagen.
»Reizend«, raunte Kelsea. »Danke.«
»Wie bitte, Lady?«
»Nichts.«
In diesem Moment trat der Regent in Begleitung von Coryn durch die Tür. Die lässige Haltung des Gardisten sprach Bände. Er schien nicht zu erwarten, dass Kelseas Onkel Ärger machte, ja, er hatte nicht einmal sein Schwert gezogen.
Der Regent wirkte erschöpft. Sein Hemd und die dazu passende Hose waren vom gleichen grässlichen Purpurrot wie das Gewand, das er anlässlich ihrer Krönung getragen hatte. Je weiter er sich ihr näherte, desto sicherer war Kelsea, dass seine Kleider schon seit einiger Zeit nicht mehr gewaschen worden waren. Auf Höhe seines aufgedunsenen Bauchs klebten eingetrocknete Essensreste, und oben auf seiner Brust prangten mehrere Spritzer, die nach Wein aussahen. Mit seinem Bart hingegen schien er sich große Mühe gegeben zu haben, denn er kringelte sich zu jener bauschig-unnatürlichen Lockenpracht, die man normalerweise nur mithilfe eines glühenden Eisens hinbekam.
Etwa fünf Meter vor Kelseas Sessel packte ihn Coryn am Oberarm. »Keinen Schritt weiter, verstanden?«
Der Regent nickte. Plötzlich fiel Kelsea sein Taufname ein, der so gar nicht zu dem Mann passen wollte, der da vor ihr stand: Thomas – so hießen Chöre und Engel. Es war ein biblischer Name, aber doch keiner für ihren Onkel, dessen Augen so verschlagen leuchteten und der sich offensichtlich einen Plan zurechtgelegt hatte, bevor er sie heute aufgesucht hatte.
Als sie vierzehn war, hatte ihr Carlin ohne Vorwarnung und ohne jede Erklärung befohlen, ihre Hausaufgaben beiseitezulegen und die Bibel zu lesen, was Kelsea über alle Maßen überrascht hatte. Ihre Ziehmutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr sie die Kirche verachtete, und im gesamten Cottage fand sich kein einziges religiöses Symbol. Aber da es ihr nun mal aufgetragen worden war, quälte sich Kelsea pflichtschuldigst durch die dicke, staubige King-James-Bibel, die normalerweise in der hintersten Ecke des letzten Regals abgestellt war. Sie brauchte fünf Tage und nahm an, das Thema sei damit ein für alle Mal erledigt. Doch weit gefehlt: Den Rest der Woche (die sich auf ewig als »Bibelwoche« in Kelseas Hirn einbrennen sollte) verbrachte Carlin damit, sie zur Handlung und zur Botschaft des Textes auszufragen, und Kelsea musste das Buch gleich mehrfach wieder aus dem Regal ziehen. Irgendwann, nach einer endlos scheinenden Studienzeit, war Carlin schließlich doch zufrieden und erlaubte ihr, den Wälzer endgültig wegzustellen.
»Warum haben wir eigentlich eine so schöne Bibel?«, fragte Kelsea.
»Weil das ein Buch ist, das die Menschheit seit Tausenden von Jahren beeinflusst. Und wie bei jedem bedeutenden Buch sollte man dafür sorgen, dass wenigstens eine wertvolle Ausgabe erhalten bleibt.«
»Glaubst du, dass die Geschichten darin wahr sind?«
»Nein.«
»Warum muss ich sie dann lesen?«, fragte Kelsea verärgert. Das Buch war nicht sonderlich spannend und zudem wirklich schwer. Tagelang hatte sie das verdammte Ding von Zimmer zu Zimmer geschleppt. »Was sollte das?«
»Man muss seine Feinde kennen. Auch ein Buch kann in den falschen Händen zur Gefahr werden. In einem solchen Fall sollte man die Hände verurteilen. Aber das Buch, das liest man.«
Kelsea hatte Carlin damals nicht verstanden, doch nach einem Blick auf das goldene Kreuz des Arvath war ihr ein Licht aufgegangen. Sie bezweifelte, dass ihr Onkel die Bibel je gelesen hatte, und als sie ihn jetzt so musterte, fiel ihr noch ein weiteres Detail aus ihrer Bibelwoche ein.
Thomas – das war nicht nur der Apostel, sondern auch der Ungläubige. Als Königin Arla ihren Sohn zum ersten Mal im Arm gehalten hatte, war ihr wahrscheinlich aufgefallen, was auch Kelsea jetzt sah: Schwäche. Eine Schwäche, die umso gefährlicher war, als sie mit Anspruchsdenken einherging.
Er ist dein letzter lebender Verwandter, protestierte eine Stimme in ihrem Kopf, die sogleich von einer plötzlich aufbrandenden Zorneswelle weggespült wurde. Jeder Familiensinn und jede Neugier schrumpfte zu einem Nichts zusammen. Denn Kelsea konnte rechnen. Ihre Mutter war vor sechzehn Jahren gestorben. Seitdem hatte der Regent auf dem Thron gesessen. Sechzehn mal dreitausend, das waren achtundvierzigtausend Einwohner, die ihr Onkel hatte verschiffen lassen, um seine Haut zu retten. Und in seinem Gesicht sah sie kein Zeichen von Reue, kein noch so leises Bedauern. Nur der verwirrte Ausdruck eines Mannes, der den Eindruck hatte, ihm sei schreckliches Unrecht widerfahren. Was für ein erbärmliches Geschöpf. Und noch immer ging er davon aus, dass die Welt ihm etwas schuldete. Dass der Schaden, den er erlitten hatte, wiedergutgemacht werden müsse.
Weshalb kann ich auf einmal so viel sehen?, fragte sich Kelsea. Wie um ihr zu antworten, begann der Saphir zu zittern und eine Wärme abzustrahlen, die durch ihre Brust in ihr Inneres einzudringen schien. Kelsea erschrak, doch sie geriet nicht so aus der Fassung wie noch vor ein paar Tagen auf dem Festungsrasen. Vielleicht machte sie sich etwas vor, doch allmählich glaubte sie, den Stein zu verstehen, und sei es auch nur ein kleines bisschen. Sie hatte bereits einige Male gemerkt, wie er auf ihre Stimmungen reagierte oder einfach nur ihre Aufmerksamkeit einforderte. Jetzt gerade hätte sie schwören können, dass er sie zur Konzentration mahnte.
»Was wollt Ihr, Onkel?«
»Ich komme, um Eure Majestät zu bitten, mich weiterhin in der Festung wohnen zu lassen«, erwiderte der Regent. Seine nasale Stimme hallte durch den Saal. Es war offensichtlich, dass er die Rede vorbereitet hatte. Die Blicke der Wachen waren nicht länger ins Leere gerichtet. Besonders Mhurn musterte den Regenten mit zusammengekniffenen Augen und dem abwartenden Ausdruck eines hungrigen Hundes. »Ich empfinde meine Verbannung nicht nur als ungerecht, sondern auch als reichlich unüberlegt. Zudem wurde mein Eigentum so klammheimlich konfisziert, dass ich keinerlei Gelegenheit hatte, irgendwelche Einwände vorzubringen.«
Kelseas Augenbrauen schossen in die Höhe. Das förmliche Vokabular ihres Onkels erstaunte sie. Langsam beugte sie sich zu Mace hinüber und fragte: »Was soll ich jetzt tun?«
»Was Ihr wollt, Lady. Gott weiß, ich könnte ein bisschen Unterhaltung gebrauchen.«
Kelsea wandte sich wieder an ihren Onkel: »Und die wären?«
»Bitte was?«
»Ihr sagtet, Ihr hättet keine Gelegenheit gehabt, Eure Einwände vorzubringen. Welche wären das?«
»Die meisten Gegenstände, die Eure Wachen mitgenommen haben, sind Geschenke. Persönliche Geschenke.«
»Ja und?«
»Das heißt, dass die Krone kein Recht darauf hat.«
Mace unterbrach ihn: »Die Krone hat ein Recht auf alles, was sich innerhalb der Festungsmauern befindet.«
Das war neu für Kelsea, doch sie nickte zustimmend. »Korrekt, Onkel. Und da ist Euer ganzer Mortplunder mit dabei.«
»Das war nicht nur Plunder, werte Nichte. Ihr habt mir auch meine Lieblingsfrau entführt.«
»Marguerite steht ab jetzt unter meinem Schutz.«
»Aber sie war ein Geschenk. Ein sehr wertvolles noch dazu.«
»Da bin ich ganz Eurer Meinung«, erwiderte Kelsea mit einem breiten Lächeln. »Sie ist sogar von unschätzbarem Wert. Ich habe keinen Zweifel, dass sie mir hervorragende Dienste leisten wird.«
Der Regent bekam rote Flecken am Hals, die langsam, aber stetig zu seinem Kinn hinaufkrochen. Carlin hatte immer gesagt, die meisten Männer seien wie Hunde. Ein Urteil, dem Kelsea nichts hatte abgewinnen können – es gab einfach zu viele gute Bücher, die von Männern verfasst worden waren. Doch ganz unrecht schien sie nicht gehabt zu haben. »Sollte ich irgendwann genug von Marguerite haben, schenke ich ihr vielleicht die Freiheit. Aber im Moment ist sie glücklich hier.«
Der Regent blickte ungläubig auf. »Blödsinn!«
»Ich versichere Euch, sie ist wirklich gern hier«, entgegnete Kelsea unbekümmert. »Und stellt Euch vor, ich muss sie nicht mal anleinen!«
Elston und Kibb kicherten.
»Diese Schlampe könnte nirgendwo glücklich sein!«, zischte der Regent. Von seinen Lippen regnete es Spucketröpfchen.
»Hütet Eure Zunge vor der Königin!«, donnerte Mace. »Sonst binde ich Euch eine rote Schleife um, und schmeiße Euch gleich hochkant aus der Festung. Ich bin sicher, der Fetch könnte Eure Knochen gut als Tafelbesteck gebrauchen!«
»Ich nehme an, Ihr wolltet nur die Sache mit Marguerite zur Sprache bringen?«, fiel Kelsea ein. »Denn über Eure spektakulär stümperhaften Kunstobjekte werdet Ihr ja wohl nicht ernsthaft diskutieren wollen, oder?«
Dem Regenten klappte die Kinnlade herunter. »Das sind Gemälde von Powell!«
»Wer ist Powell?«, fragte Kelsea.
Keine Antwort.
»Ein bekannter Maler aus Jenner«, erwiderte der Regent schließlich. »Ich musste sie einfach haben.«
»Nun, Ihr könnt ja vielleicht ein Gebot auf die unverkäuflichen Bilder abgeben.«
»Und was ist mit meinen Statuen?«
Jetzt meldete sich Coryn zu Wort: »Die werden sich garantiert verkaufen, Majestät. Sie sind zwar abgrundtief scheußlich, aber aus einem kostbaren Material. Schätze, man könnte sie einschmelzen.«
Der Regent blickte gekränkt drein. »Mir wurde versichert, sie würden im Wert steigen.«
»Von wem wurde Euch das versichert?«, fragte Kelsea. »Vom Verkäufer?«
Der Regent öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Ungeduldig rutschte Kelsea auf ihrem Sessel hin und her. So langsam machte das Ganze hier keinen Spaß mehr. Außerdem wurde sie wieder müde. Aber immerhin war es ihr gelungen, ihre Gardisten für einen Moment aufzuheitern, und das war ja schon mal etwas. Während Coryn noch versuchte, sich das Lächeln zu verkneifen, wurde das unverhohlene Grinsen von Elston und Kibb immer breiter. Selbst Mhurn sah zum ersten Mal hellwach aus.
»Ich werde Euren Krempel behalten, Onkel. Und offen gestanden kann ich mir nicht vorstellen, welchen Einwand Ihr gegen Eure Verbannung vorbringen könntet. Aber solltet Ihr doch einen haben – ich bin ganz Ohr.«
»Ich könnte Euch nützlich sein, Nichte«, erwiderte der Regent so prompt, dass Kelsea sich fragte, ob er nicht schon die ganze Zeit um den heißen Brei herumgeredet hatte.
»Inwiefern?«
»Ich weiß eine Menge Dinge. Und glaubt mir, Ihr würdet sie auch gerne wissen.«
»Jetzt wird es töricht, Majestät«, unterbrach Mace. »Erlaubt mir bitte, ihn aus der Festung zu werfen.«
»Wartet.« Kelsea hob die Hand. »Was wisst Ihr, Onkel?«
»Ich weiß, wer Euer Vater ist.«
»Gar nichts weiß er, Lady«, knurrte Mace.
»Und wie ich das tue, werte Nichte. Abgesehen davon habe ich so einige Informationen über Eure Mutter, die Euch interessieren dürften. Die Typen da werden nichts rauslassen. Sie haben es geschworen. Aber ich bin kein Gardist. Was auch immer Ihr über Königin Elyssa erfahren wollt, ich kann es Euch sagen.«
Wären die Blicke der Wachen Dolche gewesen, sie hätten ihren Onkel durchbohrt. Als Kelsea sich zu Mace umwandte, sah sie seinen gequälten Gesichtsausdruck. Kein schöner Anblick.
Ich will es aber wissen. Ja, sie wollte unbedingt erfahren, welcher der offenbar unzähligen Liebhaber ihrer Mutter sie gezeugt hatte. Sie wollte die wahre Elyssa kennenlernen. Vielleicht war ja doch alles ganz anders, als es den Anschein hatte. Einen Moment lang klammerte sich Kelsea an die Vorstellung, dass ihre Mutter auch gute Eigenschaften besessen hatte; Eigenschaften, von denen niemand etwas wusste. Trotzdem, sich auf das Angebot ihres Onkels einzulassen barg Gefahren. Kelsea musterte ihn kühl. »Was wollt Ihr, Scheherazade? Asyl in der Festung?«
»Nein, aber ich will ins Tagesgeschäft mit einbezogen werden, einen Beitrag leisten und regieren. Ich habe viele Informationen über die Rote Königin.«
»Und Ihr findet wirklich, dass wir dieses Spiel spielen sollten? Ihr wolltet mich töten lassen, Onkel. Es hat nicht funktioniert, also sei’s drum. Aber wie Ihr Euch sicher vorstellen könnt, bin ich Euch nicht besonders zugetan.«
»Wo sind Eure Beweise?«
Mace trat einen Schritt vor. »Zwei Eurer Wachen haben gestanden und Euch belastet. Idiot.«
Der Regent riss die Augen auf, doch Mace war noch nicht fertig: »Mal ganz zu schweigen von den Caden, die Ihr vor drei Monaten damit beauftragt habt, die Königin aufzuspüren.«
»Die Caden geben ihren Auftraggeber nie preis.«
»Tun sie wohl, elender Dummkopf. Man muss sie nur im richtigen Moment erwischen und ihnen genug Ale einflößen. Ich habe alle Beweise, die ich brauche. Ihr könnt von Glück sagen, dass Ihr überhaupt noch hier steht.«
»Und warum stehe ich noch hier?«
Mace wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Kelsea ihm niedergeschlagen mit einer Handbewegung Einhalt gebot. Egal, wie gerne sie auch über ihre Mutter Bescheid gewusst hätte, sie konnte das Angebot nicht annehmen. Ihr Onkel würde sich zurückholen wollen, was er verloren hatte. Das war schon daran zu erkennen, wie seine Augen in einem fort durch den Raum huschten. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht, und doch war es ein Leichtes, ihn zu durchschauen. Er würde nie aufhören, Ränke zu schmieden. Man konnte ihm nicht trauen.
»Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, Onkel – Ihr seid mir nicht wichtig genug, dass ich Euch ins Gefängnis sperren lassen würde. Zum Glück gibt es Männer, die von einem ganz anderen Format sind als Ihr. Nehmen wir zum Beispiel Coryn«, sagte Kelsea und deutete auf ihren Gardisten.
Verblüfft, als hätte er völlig vergessen, dass der Wachmann neben ihm stand, wandte der Regent den Kopf. Auch Coryn wirkte ziemlich erstaunt.
»Ich könnte ihm alles nehmen, was er besitzt, seine Kleider, Geld, Waffen und alle Frauen, die er womöglich irgendwo versteckt hält …«
»Und das sind einige«, warf Coryn vergnügt ein.
Kelsea lächelte nachsichtig, ehe sie fortfuhr: »Und trotzdem wäre er immer noch Coryn, ein ehrbarer Mann, der wertvolle Dienste leistet.« Sie machte eine Pause. »Und jetzt schaut Euch selbst an, Onkel. Ohne Kleider, Frauen und Wachen seid Ihr nichts als ein Verräter. Und alle Welt weiß um Eure Verbrechen. Euch einzusperren hieße eine Zelle zu verschwenden. Ihr seid ein Nichts.«
Der Regent wirbelte so plötzlich herum, dass Mace vor Kelsea sprang und sein Schwert zog. Doch ihr Onkel wandte ihnen einfach nur den Rücken zu und rührte sich nicht vom Fleck. Seine Schultern hoben und senkten sich.
»Mein Urteil steht, Onkel. Ihr habt noch fünfundzwanzig Tage, um aus der Festung zu verschwinden. Coryn, bringt ihn zurück ihn seine Gemächer.«
»Eure Eskorte brauche ich nicht«, giftete der Regent, während er sich noch einmal zu ihr umdrehte. Seine Augen waren zornig aufgerissen, doch Kelsea sah auch Schmerz darin. Einen tiefen Schmerz, etwas, das sie nicht gewollt hatte. Sie verspürte das absurde Verlangen, sich zu entschuldigen, das sich jedoch rasch wieder verflüchtigte, als der Regent fortfuhr: »Du treibst in tiefen Gewässern, Mädchen, und ich glaube, nicht mal dein Mace begreift, wie tief sie wirklich sind. Die Rote Königin weiß, was du getan hast – ich selbst habe ihr einen Boten gesandt. Du hast dich in den Sklavenhandel der Mort eingemischt. Und glaub mir, sie wird kommen und dieses Land ausnehmen wie ein Schlachter seine Mastsau.«
Sein Blick richtete sich auf etwas neben Kelsea. Er verstummte, und seine Augen weiteten sich entsetzt.
Kelsea folgte seinem Blick und sah, dass Marguerite unbemerkt in den Saal gekommen und neben sie getreten war. Dort, wo die Leine um ihren Hals gelegen hatte, zeichneten sich immer noch deutliche Striemen ab, die sich tief violett verfärbt hatten und selbst im Fackellicht deutlich zu sehen waren. Sie trug ein formloses, braunes Kleid – der eindeutige Beweis dafür, dass ihre Schönheit nicht von ihrer Kleidung abhing. Marguerite war eine Helena von Troja, groß, imposant, mit flammend rotem Haar. Unbewegt starrte sie den Regenten an. Kelsea bekam Gänsehaut.
»Marguerite?«, fragte ihr Onkel. Keine Spur mehr von dem dramatischen Gehabe, das er bis eben noch an den Tag gelegt hatte. Er musterte sie mit einer derart unverhohlenen Sehnsucht, dass er aussah wie ein Kalb. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich weiß nicht, wo Ihr die Dreistigkeit hernehmt, das Wort an sie zu richten«, fuhr Kelsea ihn an. »Aber das macht Ihr nicht noch mal, es sei denn, ich erlaube es Euch.«
Das Gesicht des Regenten verdüsterte sich, und er schwieg, wandte den Blick aber nicht von Marguerite ab. Auch sie fixierte ihn und trat dann einen Schritt vor. Sowohl Mace als auch Coryn legten eine Hand an ihre Schwerter. Ohne von ihnen Notiz zu nehmen, ließ sich Marguerite zu Kelseas Füßen nieder.
Mit schockstarrer Miene betrachtete der Regent die Szene einen Moment lang, dann verzog sich sein Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze. »Was habt Ihr ihr gegeben?«
»Nichts.«
»Wie habt Ihr sie dann für Euch gewonnen?«
»Zunächst einmal habe ich ihr keine Leine um den Hals gelegt.«
»Na dann, viel Spaß mit ihr. Die Schlampe ist fähig, Euch mit einem Lächeln auf den Lippen die Gurgel durchzuschneiden.« Wütend starrte er Marguerite an. »Fahr zur Hölle, Mort-
hure.«
»Deine Flüche jagen niemandem Angst ein, Tearschwein«, entgegnete Marguerite auf Mort. »Du hast dich selbst verflucht.«
Verständnislos glotzte er Marguerite an. Kelsea schüttelte angewidert den Kopf. Nicht mal Mort sprach er. »Wir haben nichts mehr hinzuzufügen, Onkel. Geht jetzt. Und viel Glück bei Eurer Wanderung durch das Land.«
Mit einem letzten gequälten Blick auf seine ehemalige Sklavin wandte sich der Regent ab und stürmte, dicht gefolgt von Coryn, davon. Elston und Kibb öffneten die Türflügel gerade weit genug, um den Regenten hindurchzulassen. Marguerite erhob sich und sagte in raschem Mort: »Ich muss zu den Kindern zurück, Majestät.«
Kelsea nickte. Sie hätte noch ein paar Fragen an sie gehabt, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie sah zu, wie die junge Frau über den Korridor eilte, und ließ sich dann in ihrem Sessel zurücksinken. »Sagt mir, dass das alles war.«
»Der Schatzmeister, Lady«, erinnerte sie Mace. »Ihr habt versprochen, ihn zu empfangen.«
»Ihr seid ein Menschenschinder, Lazarus.«
»Holt Arliss!«, rief Mace. »Nur ein paar Minuten, Majestät. Es ist wichtig. Wer persönliche Verbindungen hat, kann auf die Loyalität seiner Leute hoffen.«
»Aber wir können doch keinem Schatzmeister trauen, der für meinen Onkel gearbeitet hat!«
»Ich bitte Euch, Lady. Der Regent hatte keinen Schatzmeister, sondern nur einen Haufen Söldner. Und die waren die meiste Zeit betrunken.«
»Wer ist dann dieser Arliss?«
»Ich habe ihn selbst ausgesucht.«
»Und wer ist er?«
Mace wandte den Blick ab. »Ein Geschäftsmann aus der Gegend, der sehr gut mit Geld umgehen kann.«
»Was für ein Geschäftsmann?«
Mace verschränkte die Arme; eine recht zimperliche Geste für einen sonst so derben Mann. »Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt, Lady – er ist ein Buchmacher.«
»Ein Buchmacher?« Kelsea war völlig perplex, doch nach einem Moment machte ihre Verwunderung Aufregung Platz. »Aber Ihr habt doch gesagt, es gäbe keine Druckmaschinen mehr. Wie stellt dieser Arliss seine Bücher dann her? Von Hand?«
Mace sah sie verständnislos an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Jetzt wusste Kelsea, warum er so selten lachte. Er klang wie eine Hyäne, wie ein kreischendes Tier. Mace schlug sich die Hand vor den Mund, und Kelsea spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Ich bin es nicht gewöhnt, dass man mich auslacht, dachte sie und versuchte, ihren Mund zu so etwas wie einem Lächeln zu verziehen. »Was ist daran so lustig?«
»Er verlegt keine Bücher, Lady. Er ist ein Buchmacher. Das heißt, er offeriert Wetten.«
»Wetten?«, fragte Kelsea und vergaß ihre Verlegenheit. »Ich soll einem Berufsspieler die Schlüssel zu unserer Schatzkammer in die Hand drücken?«
»Habt Ihr eine bessere Idee?«
»Da muss es doch noch jemand anderen geben!«
»Niemanden, der so gut mit Geld umgehen kann, das versichere ich Euch. Offen gestanden musste ich Arliss ziemlich bearbeiten, damit er überhaupt hier auftaucht, also seid nett zu ihm. Sein Kopf funktioniert wie einer der Taschenrechner aus der Zeit vor der Überfahrt, und er hasst Euren Onkel. Ein ganz guter Anfang, dachte ich.«
»Aber wie könnt Ihr sicher sein, dass er sich ehrlich verhalten wird?«
»Das werde ich nicht«, krächzte eine raue Stimme. Ein alter, runzliger Mann bog aus dem Gang in den Audienzraum. Obwohl er gebeugt ging und sein linkes Bein nachzog, war er so flink, dass sich Kibb beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Auch Arliss‘ linker Arm schien gelähmt, denn er hielt ihn wie ein Baby an seinen unteren Rippenbogen gepresst. Unter seiner Achsel klemmte ein Papierstapel. Das wenige, das von seinem weißen Haar noch übrig war, schien ihm überwiegend aus den Ohren zu wachsen. Seine Augäpfel hatten einen Gelbstich, die Unterlider hingen herunter und entblößten einen Hautlappen, den das Alter zu einem faden Rosa gebleicht hatte. Er war wirklich das hässlichste Geschöpf, das Kelsea je gesehen hatte.
Endlich jemand, neben dem ich gut aussehe, dachte sie und bereute es sogleich wieder.
Der alte Mann hielt ihr seine unversehrte Hand hin. Kelsea drückte sie vorsichtig. Sie fühlte sich an wie Papier: glatt, kühl und leblos. Er roch schrecklich, säuerlich irgendwie, aber das war wohl seinem Alter zuzuschreiben.
»Ich bin nicht ehrlich«, wiederholte der Alte keuchend. Kelsea konnte seinen Akzent – breit und näselnd zugleich – nicht zuordnen. In jedem Fall war es kein Hochtear. »Aber man kann mir vertrauen.«
»Zwei recht widersprüchliche Aussagen«, erwiderte Kelsea.
Arliss blickte sie aus funkelnden Augen an. »Und doch bin ich hier.«
»Man kann ihm trauen, Lady«, sagte Mace. »Und ich denke …«
»Eins nach dem anderen«, unterbrach ihn Arliss. »Wer ist Euer Vater, kleine Königin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Verdammt. Mace hier will es mir nicht verraten. Aber wenn das Geheimnis erst gelüftet ist, kassiere ich so richtig ab.« Er beugte sich vor und starrte auf ihre Brust. »Herrlich.«
Empört wich Kelsea zurück, bis sie begriff, dass er ihren Saphir musterte. Sein Blick war der eines gierigen Sammlers. »Ich nehme an, er ist echt?«, fragte sie.
»Das kann man wohl sagen, Majestät. Ein reiner Saphir im Achtkantschliff, nicht der kleinste Makel, wunderschön. Die Fassung ist auch nicht schlecht, aber der Stein … Ich könnte einen hohen Preis für Euch aushandeln.«
Kelsea beugte sich vor. Plötzlich war sie überhaupt nicht mehr müde. »Wisst Ihr etwas über seine Herkunft?«
»Nur Gerüchte, kleine Königin. Schwer zu sagen, ob da was Wahres dran ist. Es heißt, William Tear habe die Halskette des Königs gleich nach der Überfahrt angefertigt. Als Jonathan Tear das nicht reichte, sollten ihm seine eigenen Leute einen zweiten Stein beschaffen, einen für den Thronfolger. Viel gebracht hat’s ihm nicht. Nur ein paar Jahre später wurde der arme Bastard ermordet.«
»Wo hatten sie die Steine her?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach aus Cadare. So was Edles gibt es in Tearling oder Mortmesne nicht. Vielleicht ist sie deshalb so wild darauf.«
»Wer?«
»Die Rote Königin, Lady. Meine Informanten sagen, dass sie mindestens so sehr nach den Steinen giert wie nach Euch.«
»Aber sie könnte sich doch jeden Edelstein, den ihr Herz begehrt, als Abgabe von den Cadare entrichten lassen.«
»Mag sein.« Arliss musterte sie verstohlen unter seinen buschigen Augenbrauen. »Aber Eure Saphire sollen magische Kräfte besitzen.«
»Das ist mehr als unwahrscheinlich«, knurrte Mace. »Königin Elyssa waren sie nie von Nutzen.«
»Wo ist der andere Stein?«
»Wollten wir nicht eigentlich über die Schatzkammer sprechen, Arliss?«
»Ah, ja.« Arliss schaltete sofort, zog den Papierstapel unter seinem linken Arm hervor und nahm seine Zähne zu Hilfe, um die Papiere so lange durchzublättern, bis er das gewünschte Dokument fand. »Ich habe den Besitz Eures Onkels inventarisiert, kleine Königin. Ich weiß, wo man die wertvollen Sachen verhökern kann. Außerdem kenne ich ein paar ausgemachte Narren, bei denen wir den Plunder loswerden können. Der ganze Scheiß, den Euer Onkel für Kunst hielt, bringt Euch mindestens fünfzigtausend Pfund, und auf dem offenen Markt dürfte der Hurenschmuck noch mal doppelt so viel wert ein.«
»Hütet Eure Zunge, Arliss«, blaffte Mace.
»Verzeiht, verzeiht.« Arliss wischte den Einwand weg, und auch Kelsea störte sich nicht an seiner vulgären Ausdrucksweise, im Gegenteil, sie passte irgendwie zu ihm. »In der Schatzkammer war ich noch nicht. Ob Ihr’s glaubt oder nicht, ich bin immer noch auf der Suche nach jemandem, der einen Schlüssel dazu hat. Aber ich kann mir ziemlich genau vorstellen, wie es dort aussieht. Ach, übrigens, die Kammer braucht zwei neue Wächter.«
»Offensichtlich«, antwortete Kelsea. Ihre Schulter pochte immer heftiger, doch sie ignorierte den Schmerz. Sie war fast ein bisschen überwältigt von der Energie des alten Mannes.
»Aus den Steuereinnahmen bleiben Tearling nach Abzug der Zensusanteile ungefähr fünfzigtausend Pfund. Seit dem Tod Eurer Mutter hat Euer Onkel weit über eine Million verprasst. Ich würde mal schätzen – und bei sowas liege ich für gewöhnlich richtig –, dass noch zirka hunderttausend in der Staatskasse sind, nicht mehr. Mit anderen Worten, Ihr seid pleite.«
»Hervorragend.«
»Aber«, fuhr Arliss mit blitzenden Augen fort, »ich habe schon ein paar Ideen, wie man Eure Einnahmen erhöhen könnte.«
»Was denn für Ideen?«
»Kommt drauf an, Majestät. Bin ich eingestellt? Umsonst mache ich nämlich nichts.«
Kelsea blickte Mace an, ein stummer Appell. Doch der zog nur die Augenbrauen hoch, als wolle er sie herausfordern, Arliss wegzuschicken. »Ihr seid nicht ehrlich, aber vertrauenswürdig?«, fragte Kelsea schließlich.
»Richtig.«
»Ich denke, Ihr seid weit mehr als nur ein Buchmacher.«
Arliss grinste. Sein schütteres, stacheliges Haar stand ihm vom Kopf ab, als sei er vom Blitz getroffen worden. »Könnte sein.«
»Warum wollt Ihr dann unbedingt für mich arbeiten? Egal, wie viel wir Euch auch bezahlen, es dürfte nicht an Eure nächtlichen Verdienste heranreichen, oder?«
Arliss kicherte. Es klang, als würde Luft aus einem Akkordeon entweichen. »Nun, vermutlich bin ich tatsächlich reicher als Ihr, kleine Königin.«
»Warum dann diese Position?«
Sein Gesicht wurde ernst, und er blickte Kelsea prüfend an. »Auf den Straßen kursieren Lieder über Euch, wusstest Ihr das? Die ganze Stadt ist wie gelähmt vor Angst, weil uns eine Invasion bevorsteht, und trotzdem besingt man Eure Tat. Sie nennen Euch die ›Wahrhafte Königin‹.«
Mace nickte, als Kelsea ihn fragend anblickte.
»Keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher«, fuhr Arliss fort. »Es ist nie verkehrt, auf der Siegerseite zu stehen.«
»Und wenn ich nicht die bin, für die das Volk mich hält?«
»Dann habe ich immer noch genug Geld, um mich freizukaufen.«
»Wie viel wollt Ihr als Lohn haben?«
»Auf die Details haben Mace und ich uns bereits geeinigt. Ihr könnt mich Euch leisten, kleine Königin. Ihr müsst nur noch Ja sagen.«
»Würde das bedeuten, dass ich vor Euren übrigen Geschäften die Augen verschließen muss?«
»Das besprechen wir, wenn es so weit ist.«
Glitschig wie ein Aal, dachte Kelsea und wandte sich wieder an Mace: »Lazarus?«
»Ihr werdet in ganz Tearling keinen besseren Finanzmann finden, Lady, und das ist nur eine seiner vielen Qualitäten. Es wird einige Anstrengung erfordern, den Schaden wiedergutzumachen, den Euer Onkel über die Jahre angerichtet hat. Und dies hier ist der Mann, den ich dafür aussuchen würde. Auch wenn er sich in Eurer Gegenwart einen respektvolleren Ton angewöhnen muss.« Mace warf Arliss einen scharfen Blick zu.
Arliss feixte und entblößte einen Mund voller schiefer gelber Zähne.
Kelsea seufzte. Wie ein Mantel schien sich das Unvermeidliche über sie zu legen. Sie begriff, dass dies erst einer von vielen Kompromissen war, die sie würde eingehen müssen. Ein unbehagliches Gefühl, als würde man auf einem reißenden Fluss in ein Boot steigen, ohne jede Möglichkeit, wieder an Land zu gehen. »Gut, Ihr seid eingestellt. Und bitte seid so nett, eine Gegenüberstellung aller Einnahmen und Ausgaben für mich vorzubereiten.«
Der Alte verneigte sich und hinkte rückwärts Richtung Ausgang. »Sobald Ihr ein bisschen Zeit habt, sprechen wir weiter, kleine Königin. Erlaubt Ihr mir, in der Zwischenzeit Eure Schatzkammer zu inspizieren?«
Kelsea lächelte und spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. »Ich bezweifle, dass Ihr dafür meine Erlaubnis braucht, Arliss. Aber ja, Ihr habt sie.«
Sie wollte sich gerade in ihrem Sessel zurücklehnen, als sie ein Stich in ihrer Schulter wieder nach vorne schnellen ließ. »Jetzt muss ich mich wirklich ausruhen, Lazarus.«
Mace nickte und bedeutete Arliss zu gehen. Der Schatzmeister wich in seinem seltsamen Krebsgang zurück, bis er endlich den Korridor erreicht hatte. Mace und Andalie legten jeweils einen Arm unter Kelseas Achseln, zogen sie hoch und schleiften sie buchstäblich in Richtung ihres Gemachs.
»Wird Arliss bei uns in der Festung wohnen?«, fragte Kelsea.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Mace. »Er ist schon seit ein paar Tagen hier, aber bisher hat er nur die Sachen Eures Onkels inventarisiert. Seine Schlupflöcher sind über die ganze Stadt verteilt. Ich schätze, er wird in der Festung ein und aus gehen, wie es ihm gefällt.«
»Womit verdient er sein Geld?«
»Schwarzmarkthandel.«
»Geht’s auch etwas genauer, Lazarus?«
»Sagen wir, er kümmert sich um die Beschaffung exotischer Waren, Lady. Lassen wir es dabei.«
»Waren im Sinne von … Menschen?«
»Nein, Lady. Ich weiß, dass Ihr so etwas nie dulden würdet.« Mace drehte sich um, damit Andalie Kelsea beim Entkleiden helfen konnte. Während er im Raum auf und ab lief, löschte er die Fackeln. »Was haltet Ihr von Venner und Fell?«
Wer?, dachte Kelsea, als ihr die beiden Waffenmeister wieder einfielen. »Die würden gut daran tun, mir das Kämpfen beizubringen, sonst sorge ich dafür, dass sie es bereuen.«
»Es sind tüchtige Männer. Habt Geduld mit ihnen. Eure Mutter konnte nicht mal den Anblick einer Waffe ertragen.«
Kelsea verzog das Gesicht und dachte an Carlin, an jenen verhängnisvollen Tag, als sie das Kleid aus ihrem Schrank entwendet hatte. »Meine Mutter war eine eitle Närrin.«
»Und doch ist das alles hier ihr Vermächtnis«, murmelte Andalie unerwartet, während sie ein paar Haarnadeln aus Kelseas Frisur entfernte.
Nachdem ihrer Zofe das Kunststück gelungen war, sie zu entkleiden, ohne ihre Verletzungen weiter aufzureißen, kletterte Kelsea ins Bett. Sie war so müde, dass sie kaum registrierte, wie kühl und weich sich ihre neuen Laken anfühlten.
Wie konnte das Bettzeug so schnell ausgewechselt werden?, fragte sie sich schläfrig. Aus irgendeinem Grund schienen die frischen Bezüge noch magischer als alles, was sie bislang erlebt hatte. Sie wandte den Kopf, um Mace und Andalie Gute Nacht zu sagen, doch sie waren bereits gegangen und hatten die Tür leise hinter sich geschlossen.
Da Kelsea nicht auf dem Rücken liegen konnte, drehte sie sich behutsam im Bett herum und versuchte, eine bequeme Position zu finden. Schließlich blieb sie auf der Seite liegen, mit dem Gesicht zu den leeren Bücherregalen, und sah sich erschöpft um. Es gab noch so viel zu tun.
Du hast schon viel geschafft, flüsterte Bartys Stimme in ihrem Kopf.
Bilder drängten an die Oberfläche. Die brennenden Käfige. Marguerite, angeleint, vor dem Thron ihres Onkels. Die alte Frau in der Menge, die auf dem Boden gelegen und geweint hatte. Die schreiende Andalie vor den Käfigen. Die Kinder im Spielzimmer. Kelsea wälzte sich von einer Seite auf die andere, unfähig, Ruhe zu finden. Sie fühlte ihr Königreich – um sich herum, unter sich. Ein Reich, das sich endlos in alle Richtungen ausdehnte. Dessen Volk in großer Gefahr schwebte. Und am Horizont zog bereits eine düstere Mortwolke auf. Sie wusste, dass ihr erster Eindruck richtig gewesen war.
Es reicht nicht, dachte sie bedrückt. Nicht mal annähernd.