4
Der Weg zur Festung
»O Tearling, mein Tearling,
Die Jahre flogen dahin,
Du harrtest aus, du hast gelitten,
Dich gesehnt nach einer Königin.«
Klagegesang der Mütter, anonym
elsea erwachte mit Kopfschmerzen und einem trockenen Mund. Dass sie einen Kater hatte, begriff sie allerdings erst beim Frühstück. Trotz ihres Unwohlseins war sie geradezu entzückt über diese Erfahrung, die sie bisher nur aus Büchern kannte. Wenn aus einem Leseerlebnis Wirklichkeit wurde, fiel ein rebellierender Magen nicht weiter ins Gewicht. Das Fest hatte bis weit in die Nacht gedauert, und Kelsea hatte keine Ahnung, wie viel Met sie getrunken hatte. Ein schmackhaftes Gebräu. In Zukunft sollte sie wohl lieber die Finger davon lassen.
Als sie sich angezogen hatte, brachte ihr der Fetch einen Rasierspiegel, damit sie den langen, hässlichen Schnitt begutachten konnte, der sich rechts über ihren Hals zog und den er mit einem schwarzen Faden fein säuberlich genäht hatte.
»Gute Arbeit«, lobte Kelsea. »Aber das gibt trotzdem eine Narbe, nicht wahr?«
Der Fetch nickte. »Leider bin ich weder Gott noch der Leibarzt Ihrer Majestät.« Spöttisch verneigte er sich vor ihr. »Zumindest wird die Wunde nicht eitern, und Ihr könnt den Leuten erzählen, Ihr hättet sie Euch im Kampf zugezogen.«
Nicht ohne Genugtuung stellte Kelsea fest, dass er sie nicht länger duzte. Vielleicht, weil er endlich eine Königin in ihr sah? Sie schluckte und antwortete dann: »In einem Kampf?«
»Na ja, Euch die Rüstung abzunehmen war tatsächlich ein ziemlicher Kampf, und ich beabsichtige, die Welt davon in Kenntnis zu setzen.«
Lächelnd legte Kelsea den Spiegel beiseite und wandte sich zum Fetch um. »Danke, Sir. Ihr habt mir viele Gefälligkeiten erwiesen. Ich verdanke Euch mein Leben. Wenn ich erst auf dem Thron sitze, werde ich Euch begnadigen.«
Belustigt funkelte er sie an.
»Was ist, liegt Euch nichts daran?«
Er lächelte weiter, und Kelsea staunte über seine Wandlungsfähigkeit. Der grimmige Mann von gestern Abend schien mit dem Sonnenaufgang verschwunden. »Selbst wenn Ihr mir meine Strafe erlasst, Tearkönigin, würde ich Eure Gunst doch nur wieder verspielen. Ihr wisst doch, dass ich gerne stehle.«
»Habt Ihr Euch denn nie nach einem anderen Leben gesehnt?«
»Es gibt kein anderes Leben für mich. Und abgesehen davon: Eine Begnadigung könnte Eure Schuld nicht annähernd begleichen. Mein Geschenk an Euch ist größer, als Ihr ahnt.«
»Welches Geschenk?«
»Das werdet Ihr schon noch herausfinden. Aber als Gegenleistung erwarte ich, dass Ihr gut darauf aufpasst.«
Kelsea griff erneut nach dem Spiegel. »Großer Gott, Ihr habt mich doch nicht etwa im Schlaf geschwängert?«
Der Fetch warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Kameradschaftlich legte er ihr eine Hand auf den Rücken. Ihre Haut kribbelte unter seiner Berührung.
»Tearkönigin, entweder seid Ihr in einer Woche mausetot oder die furchterregendste Herrscherin, die dieses Königreich je gesehen hat. Wenn Ihr mich fragt – dazwischen gibt es nichts.«
Kelsea betrachtete sich prüfend im Spiegel, während sie mit einem Kamm durch ihr Haar fuhr. Zwar hatte sie schon am Teich im Wald einen Blick auf ihr Antlitz erhascht, aber das hier war trotzdem etwas völlig anderes. Zum ersten Mal begriff sie, wie sie wirklich aussah. In allen Einzelheiten. Und die waren nach wie vor nicht gerade umwerfend. Gut, ihre Augen waren zugegebenermaßen recht hübsch, mandelförmig und von einem leuchtenden Grün. Ein Erbe der Raleighs, wie sie von Carlin wusste. Alle aus ihrer Familie mütterlicherseits hatten denselben katzengrünen Blick. Aber ihr Gesicht … Es war rund, tomatenrot und – man konnte es nicht anders nennen – gewöhnlich.
Der Fetch hatte ihr wunderschöne, mit Amethysten besetzte Haarnadeln geschenkt, die wie Schmetterlinge aussahen. Eigentlich hätte Kelsea schon wieder eine Haarwäsche nötig gehabt, doch der Schmuck machte einiges wett. Hatte der Fetch ihn vom Kopf einer Edelfrau geklaut? Sein Lächeln im Spiegel wurde breiter, und Kelsea wusste, dass er ihre Gedanken gelesen hatte. »Ihr seid ein Ganove«, schimpfte sie, während sie die letzte Nadel feststeckte. »Ich sollte das Kopfgeld, das auf Euch ausgesetzt ist, erhöhen.«
»Nur zu. So steigert Ihr meinen Ruhm.«
»Was für ein Leben habt Ihr vorher geführt? Eure Grammatikkenntnisse sind besser als meine, und auch Euer Wortschatz wirkt nuancierter. Dabei habe ich eine so strenge Ausbildung genossen.«
Der Fetch antwortete in schönstem Cadarese: »Was Tear betrifft, mögt Ihr recht haben. Aber in Mort und Cadarese seid Ihr mir zweifellos überlegen. Beide Sprachen habe ich erst spät gelernt und spreche sie nicht akzentfrei.«
»Nun weicht mir doch nicht aus! Wenn ich erst auf der Festung bin, werde ich sowieso alles herausfinden, was ich wissen muss.«
Betrübt lächelnd, wechselte er ins Tear: »Dann habe ich erst recht keinen Grund, wertvolle Energien auf Erklärungen zu verschwenden. Übrigens weiß ich nicht mehr, wie man ›Energie‹ auf Caderese sagt. Ich bin eindeutig aus der Übung.«
Kelsea neigte den Kopf und blickte ihn fragend an. »Kann ich wirklich nichts für Euch oder Eure Männer tun? Nicht das Geringste?«
»Mir fällt nichts ein. Abgesehen davon liegt eine gewaltige Aufgabe vor Euch, Lady. Da würde ich Euch ungern eine zusätzliche Last aufbürden.«
»Wenn Ihr mir schon nicht gestattet, Eurer drohenden Enthauptung Einhalt zu gebieten, wäre es wahrscheinlich erst recht albern, mich um ein paar Schafe oder eine neue Armbrust zu bitten.«
»Eines Tages werde ich meine Schulden eintreiben, Tearkönigin, verlasst Euch darauf. Und mein Preis wird kein geringer sein.«
Kelsea musterte ihn scharf, doch sein Blick war bereits nach draußen gerichtet, in weite Ferne, über die gelben Hügel hinweg zur Festung.
Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie künftig alles daransetzen sollte, ihn zu meiden. Er war ein Verbrecher, ein Gesetzloser und zweifellos eine Gefahr für den Rechtsstaat, den sie in ihrem Reich errichten wollte. Und doch wusste sie nicht, ob sie je den Willen aufbringen würde, ihn ins Gefängnis zu werfen oder gar zum Tode zu verurteilen, wie es wohl angebracht gewesen wäre.
Ich muss einem anderen Mann begegnen, der mich von ihm ablenkt. Jemandem, der akzeptabler ist.
Sie legte den Spiegel endgültig beiseite. »Kann ich jetzt gehen?«
Mace (so hatte der Fetch berichtet) hatte in der Nacht zwei Fluchtversuche unternommen, und als ihn die Männer heute endlich aus dem Zelt lassen wollten, hatte er seine Beine schon wieder aus den Fesseln gelöst. Trotz der Augenbinde gelang es ihm, Alain einen gemeinen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen, woraufhin dieser fluchend zu Boden ging. Howell und Morgan, die Mace in den Sattel heben sollten, kamen einigermaßen glimpflich davon. Seine Hände blieben gefesselt, und noch mitsamt der Augenbinde war die Mordlust in seinem Gesicht nicht zu übersehen.
Kelsea fiel der Abschied vom Fetch und seinen Männern merkwürdig schwer. Dankbar nahm sie zur Kenntnis, dass wenigstens Morgan ihren Weggang zu bedauern schien. Er schüttelte ihr auf eine männlich kumpelhafte Art die Hand und überreichte ihr ein Extrafläschchen des Betäubungsmittels, mit dem schon der Fetch ihren Hals behandelt hatte und das den Schmerz in Sekundenschnelle linderte.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Kelsea, als sie die Ampulle in ihrem Umhang verschwinden ließ. »Ziemlich gut für ein Schmerzmittel.«
»Opium.«
Kelsea zog die Augenbrauen hoch. »Flüssiges Opium? So was gibt’s?«
»Ihr habt ein behütetes Leben geführt, Lady.«
»Ich dachte, Opium ist in Tearling verboten.«
»Genau deswegen hat Gott den Schwarzmarkt erschaffen.«
Die ersten paar Kilometer ritt der Fetch noch neben ihnen her. Da Mace seine Fesseln samt Augenbinde anbehalten sollte, bis sie sich weit genug vom Lager entfernt hatten, musste Kelsea seinen Hengst führen. Seltsam, dass man ihnen die Pferde gelassen hatte. Rake war ja schon ganz ansehnlich, aber Mace‘ Wallach war schlichtweg eine Schönheit – eine Schönheit aus Cadare, die ein Vermögen wert sein musste. Kelsea wunderte sich über so viel Großzügigkeit, stellte aber keine Fragen.
Unter ihrem Umhang trug sie Pens schwere Rüstung, die sie nicht hatte zurücklassen wollen. Etwas verdrießlich stellte Kelsea fest, dass sie sich eine robustere Kondition zulegen musste, denn Rüstungen würden künftig wohl zu einem festen Bestandteil ihrer Garderobe werden.
Auf einer Böschung brachte der Fetch sein Pferd zum Stehen und deutete auf die vor ihnen liegende Landschaft, in der sich ein schmaler Weg durch braungelbe Hügel schlängelte. »Dies ist die einzige Hauptstraße der Gegend. Sie mündet in die Mortstraße, die direkt nach Neulondon führt. Ob Ihr sie nehmt oder nicht, bleibt Euch überlassen, aber in jedem Fall solltet Ihr Euch nicht zu weit von ihr entfernen. Spät in der Nacht werdet Ihr in ein Sumpfgebiet kommen, und ohne einen Anhaltspunkt könnte es gut sein, dass Ihr auf ewig im Morast herumirrt.«
Kelsea überblickte das Land. Die ersten Hügel verstellten die Sicht auf die Straße, doch dahinter kam die ockerfarbene Linie wieder zum Vorschein. Sauber trennte sie die Ackerflächen voneinander und lief auf die nächste braune Hügelkette zu, an deren Hänge sich Hunderte Gebäude schmiegten. Und das alles überschattete ein gigantischer grauer Monolith. Die Festung.
»Würdet Ihr die Straße denn nehmen?«, fragte Kelsea an den Fetch gewandt.
Er überlegte kurz und sagte dann: »Ja, würde ich. Mein Leben ist vielleicht nicht so bedroht wie Eures, aber dennoch glaube ich, dass der direkte Weg oft der beste ist, auch wenn man den Grund dafür zunächst nicht kennt.«
»Wenn er mir nur die dämliche Augenbinde abnehmen würde«, knurrte Mace. »Dann könnte ich selbst entscheiden, welcher Weg der beste ist, und den Kerl zum Teufel schicken.«
»Ihr lasst die Augenbinde gefälligst an, bis ich weg bin«, erwiderte der Fetch.
Neugierig blickte Kelsea ihn an. »Hegt Ihr einen Groll gegeneinander?«
Der Fetch lächelte, doch sein auf die Festung gerichteter Blick wurde hart. »Nicht so, wie Ihr denkt.«
Er wendete sein Pferd und hielt ihr die Hand hin. Was folgte, war ein sachlicher, fester Händedruck, und doch wusste Kelsea, dass sie diesen Moment nie vergessen würde, gleichgültig, ob sie den Fetch nun wiedersah oder nicht.
»Noch etwas, Lady.« Er griff in sein Hemd und holte ihre zweite Halskette hervor, an die sie überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Wieder überkam sie das dringende Bedürfnis, sich von ihm loszureißen. Nur weg von diesem Mann, der sie alles, Gewöhnliches und Wichtiges, vergessen ließ.
»Die Kette gehört Euch, und ich will sie Euch nicht wegnehmen. Trotzdem ist es besser, wenn ich sie noch eine Weile behalte.«
»Bis wann?«
»Bis Ihr sie Euch verdient habt.«
Kelsea öffnete den Mund, um zu widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren und schloss ihn wieder. Dieser Mann tat nichts aus einem spontanen Impuls heraus. Jede seiner Taten war wohlüberlegt, und wenn sie glaubte, ihn allein durch Worte umstimmen zu können, standen ihre Chancen denkbar schlecht.
»Viel Glück, Tearkönigin. Ich werde Euer Tun mit Interesse verfolgen.«
Nach einem letzten wohlwollenden Lächeln ritt er davon. Sein Pferd legte hangabwärts an Tempo zu und passierte im Handumdrehen den nächsten Hügel.
Auch als er ihrem Blick längst entschwunden war, sah Kelsea ihm noch nach. Um Mace scherte sie sich nicht – was er nicht wusste, brauchte ihn auch nicht zu kümmern. Erst als sich irgendwann die letzten Staubwolken gelegt hatten, die der Fetch hinter sich hergezogen hatte, lenkte Kelsea ihr Pferd neben seines und löste die Knoten um seine Handgelenke. Sofort riss er sich die Augenbinde herunter und blinzelte heftig. »Himmel, ist das hell.«
»Ihr habt eine bemerkenswerte Zurückhaltung an den Tag gelegt, Lazarus. Bei dem Ruf, der Euch vorauseilt, hätte ich gedacht, Ihr würdet Eure Fesseln durchbeißen und ein paar Männern den Garaus machen.«
Statt einer Antwort rieb sich Mace die Handgelenke, auf denen sich die tiefen Einschnitte der Seile abzeichneten.
»Am Fluss habt Ihr Euch beeindruckend geschlagen«, fuhr Kelsea fort. »Wo habt Ihr so kämpfen gelernt?«
»Wir sollten weiterreiten.«
Kelsea musterte ihn einen Augenblick lang und wandte sich dann der Stadt zu. »Ich weiß, Ihr habt geschworen, mich sicher zur Festung zu bringen. Doch jetzt entbinde ich Euch von Eurem Wort. Ihr habt genug für mich getan.«
»Mein Schwur galt einer Frau, die mittlerweile tot ist, Lady. Davon könnt Ihr mich nicht entbinden.«
»Und was, wenn wir in den Tod reiten?«
»Dann wären wir ein echtes Fey-Paar.«
Kelsea hatte keinen Schimmer, was das bedeuten sollte, doch sie hakte nicht nach, sondern hielt ihr Gesicht in den sanften Wind. »Wenn Ihr keine bessere Idee habt, nehmen wir die Straße.«
Mace ließ seinen Blick über die Landschaft und das ferne Neulondon schweifen und nickte schließlich. »Wir nehmen die Straße.«
Kelsea gab ihrem Pferd die Sporen, und schon preschten sie den Hügel hinab.
Nachdem sie einige Stunden zügig geritten waren, mündete der schmale Weg, wie der Fetch es ihnen gezeigt hatte, in die Mortstraße, eine großzügig angelegte, ungefähr fünfzehn Meter breite Allee, die in erster Linie dem Handelsverkehr zwischen Tearling und Mortmesne diente. Der Boden war so festgetrampelt, dass kaum Staub aufwirbelte. Es herrschte ein reges Treiben, und Kelsea war froh, in ihren dunkelroten Umhang gehüllt zu sein, den der Fetch ihr gegeben hatte. Mace trug nicht länger das Grau der Königinnen-Garde, sondern einen langen schwarzen Umhang. Seinen Morgenstern, den er nach wie vor mit sich führte (zumindest hoffte Kelsea das), hatte er so befestigt, dass man ihn nicht sah. Die meisten Passanten, die sich zur Festung aufgemacht hatten, waren ebenfalls in Umhänge und Kapuzen gehüllt, und jeder schien darauf bedacht, für sich zu bleiben. Kelsea hielt nach Mitgliedern der Caden und nach dem Grau der Königinnen-Garde Ausschau. Doch irgendwann wurde das Gedränge derart dicht, dass sie sich auf nichts mehr konzentrieren konnte. Abgesehen davon hatte Mace sowieso das feinere Gespür für verborgene Gefahren. Also beschloss sie, auf seinen scharfen Blick zu vertrauen, und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Der Fetch hatte gesagt, Neulondon sei problemlos in zwei Tagen zu erreichen. Kelsea zog in Erwägung, die Strecke in einem einzigen Ritt zurückzulegen, doch bei Sonnenuntergang verwarf sie die Idee wieder. Sie war müde, und ihre Wunde begann zu schmerzen. Als sie Mace leise darauf ansprach, nickte er.
»Ich schlafe ohnehin nicht, Lady. Ihr könnt Euch gerne ein wenig ausruhen.«
»Aber Ihr müsst doch auch irgendwann einmal schlafen.«
»Dafür ist die Welt zu gefährlich.«
»Und als Ihr ein Kind wart?«
»Ich war nie ein Kind.«
Ein Mann stieß gegen Kelseas Pferd und murmelte im Vorbeigehen: »Verzeihung, Sir.« Inzwischen war die Straße gerammelt voll. Von allen Seiten drängten Menschen herbei. Der Gestank nach ungewaschenen Körpern stieg Kelsea schwallartig in die Nase. Aber klar, die Straße kam aus dem Süden, und dort gab es kein Wasser.
Auf einem Karren vor ihnen saß eine Familie mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, beide nicht älter als acht Jahre alt. Sie hatten Gras und Wurzeln gesammelt und spielten Kochen. Kelsea beobachtete sie fasziniert. Wenn sie früher gespielt hatte, dann immer allein, und natürlich war sie in ihrer Vorstellung stets die Heldin gewesen. Die jubelnde Menge und sogar ihre Freunde hatte sie sich erträumen müssen. In all der Zeit war der Wunsch, mit anderen Kindern zusammen zu sein, nie verblasst. Sie hatte wohl zu lange auf den Karren gestarrt, denn irgendwann begann die Mutter der beiden ihr argwöhnische Blicke zuzuwerfen. Kelsea bat Mace flüsternd, etwas langsamer zu reiten.
»Warum ist die Straße so voller Menschen?«, fragte sie, als die Familie außer Sichtweite war.
»Weil es südlich des Crithe-Flusses keine andere direkte Verbindung nach Neulondon gibt und viele Pfade hierherführen.«
»Aber das ist doch eine Handelsstraße. Wie soll man da mit einer Karawane durch?«
»Es ist nicht immer so überfüllt, Lady.«
Sie ritten bis nach Sonnenuntergang und weit in die Nacht hinein, als die meisten anderen Reisenden längst ihr Lager aufgeschlagen hatten. Feuer säumten den Straßenrand, und im Vorbeireiten hörte Kelsea die Menschen plaudern und singen. Als die Flammen nach und nach erloschen und nichts als Rauch übrig blieb, glaubte sie, Pferdegetrappel in ihrem Rücken zu hören, doch ganz sicher war sie sich nicht. Drehte sie sich um, war dort nichts als Dunkelheit.
Sie beschloss, die Zeit zu nutzen und etwas über den Zustand ihres Reichs in Erfahrung zu bringen. Mace ging auf jede ihrer Fragen ein, doch sie merkte, dass er seine Antworten achtsam zensierte. Und das wahrscheinlich aus gutem Grund, denn schon die wenigen Informationen, die er sich entlocken ließ, zeichneten ein düsteres Bild.
Die meisten Bewohner von Tearling litten Hunger. Der Ackerbau, der in der Almontebene betrieben wurde, taugte allenfalls zur Bedarfswirtschaft. Sämtliche überschüssigen Nahrungsmittel gingen an den jeweiligen Landbesitzer, der sie entweder in Neulondon oder über den Schwarzmarkt nach Mortmesne verkaufte. Auf Gerechtigkeit konnten die Armen kaum hoffen. Weite Teile des Rechtssystems waren unter der vorherrschenden Korruption zusammengebrochen, und den wenigen ehrbaren Richtern, die noch übrig waren, hatte man inzwischen andere Regierungsarbeiten anvertraut. Kelsea begriff, dass sie schlecht vorbereitet war, und dieses Wissen lastete wie Blei auf ihren Schultern. Derlei Probleme erforderten eine schnelle Lösung, nur leider hatte sie keinen Schimmer, wie sie das bewerkstelligen sollte. Carlin hatte ihr so unendlich viel über Geschichte beigebracht und viel zu wenig über Politik. Wie sollte sie ihre Untertanen dazu bringen, ihr zu gehorchen?
»Du hast uns als Fey-Paar bezeichnet, Lazarus. Was heißt das? Ich kenne das Wort nicht.«
»Meine Vorfahren aus der Zeit vor der Überfahrt stammten aus Schottland. ›Fey‹ bedeutet, dass man dem Tod hocherhobenen Hauptes entgegentritt.«
»Klingt nicht nach mir.«
»Vielleicht meint Ihr das nur, Lady.«
Als sie um eine Wegbiegung ritten, glaubte Kelsea erneut, Hufgetrappel zu hören. Und tatsächlich, es war keine Einbildung. Mace brachte sein Pferd abrupt zum Stehen und wandte sich um.
»Da ist jemand. Mehrere Reiter.«
Kelsea sah nichts, nur den blassen Mond am Himmel, aber das musste nichts heißen, denn in der Nacht hatte sie noch nie besonders gut gesehen – ganz im Gegensatz zu Barty, der sich in der Dunkelheit immer wesentlich besser zurechtgefunden hatte. »Wie weit sind sie weg?«
»Ein, zwei Kilometer vielleicht«, antwortete Mace. Seine Finger trommelten auf den Sattel. »Hier gibt es keinen Schutz durch Bäume. Es ist sicherer, wenn wir die Nacht durchreiten und uns morgen früh ausruhen. Aber sollten die Reiter näher kommen, müssen wir die Straße hinter uns lassen. Kommt, lasst uns einen Zahn zulegen.«
Er gab seinem Pferd die Sporen. Kelsea folgte ihm. »Wäre es nicht besser, die Straße schon jetzt zu verlassen und zu warten, bis sie vorbeigeritten sind?«
»Sollten wir wirklich verfolgt werden, wäre das ziemlich riskant, Lady. Allerdings glaube ich nicht, dass wir es mit Caden oder gar Mort zu tun haben. Von Habichten weit und breit keine Spur. Ich schätze, die Männer haben unsere Spur verloren. Euer Retter, wer auch immer das sein mag, hat ganze Arbeit geleistet.«
Der Fetch … Bei seiner Erwähnung zuckte Kelsea zusammen. Nicht ohne Genugtuung registrierte sie, dass sie in den letzten paar Stunden nicht an ihn gedacht hatte. In ihrem Inneren entbrannte ein heftiger Kampf: Einerseits hätte sie nur zu gerne etwas über ihn in Erfahrung gebracht, andererseits wollte sie seine Identität nicht preisgeben. Sie sollte ihr Geheimnis bleiben. Kelsea ärgerte sich über sich selbst, als schließlich ihre Neugier siegte. »Er sagte mir, dass er der Fetch genannt wird.«
Mace kicherte. »Das hatte ich trotz Augenbinde vermutet.«
»Ist er wirklich ein so überragender Dieb, wie er behauptet?«
»Überragend ist gar kein Ausdruck, Lady. In Tearlings Geschichte gibt es Gesetzlose wie Sand am Meer, aber mit dem Fetch kann es keiner aufnehmen. Allein Eurem Onkel hat er mehr gestohlen, als ich je besessen habe.«
»Er sagte, auf seinen Kopf stünde eine hohe Belohnung.«
»Zuletzt waren es fünfzigtausend Pfund.«
»Aber wer ist er?«
»Das weiß niemand, Lady. Vor zwanzig Jahren ist er zum ersten Mal wie aus dem Nichts mit seiner Maske hier aufgetaucht.«
»Vor zwanzig Jahren?«
»Aye, Lady. Vor exakt zwanzig Jahren. Und das weiß ich so genau, weil er damals eine der Lieblingsfrauen Eures Onkels entführt hat, als sie zum Einkaufen in die Stadt ging. Nur wenige Monate später hat Eure Mutter ihre Schwangerschaft bekanntgegeben.« Mace gluckste. »Für den Regenten muss es das schlimmste Jahr seines Lebens gewesen sein.«
Kelsea dachte nach. Demnach musste der Fetch viel älter sein, als er wirkte. »Aber warum hat man ihn nicht gefasst, Lazarus? Solche Kunststückchen hätten jedem das Genick gebrochen, selbst solchen, die das Glück gepachtet haben.«
»Nun, für das gemeine Volk ist er ein Held, Lady. Wenn der Regent oder ein Adeliger ausgeraubt werden, heißt es, nur der Fetch könne dahinterstecken. Jedes einzelne Stück, das er den Reichen abluchst, lässt ihn im Ansehen der Armen steigen.«
»Verteilt er das Geld denn unter ihnen?«
»Nein, Lady.«
Enttäuscht blickte Kelsea ihn an.
»Und hat er viel erbeutet?«
»Das kann man wohl sagen. Diebesgut im Wert von Hunderttausenden von Pfund.«
»Aber was macht er mit den ganzen Reichtümern? Im Lager hat man jedenfalls nichts davon gesehen. Die Männer leben in Zelten, und auch ihre Kleidung dürfte schon bessere Zeiten gesehen haben. Ich weiß nicht mal, ob …«
Mace packte sie so abrupt am Arm, dass sie mitten im Satz abbrach.
»Ihr habt das gesehen?«
»Was?«
»Man hat Euch nicht die Augen verbunden?«
»Na ja, ich bin ja kein so furchterregender Recke wie Ihr.«
»Habt Ihr sein Gesicht gesehen? Ich meine, das vom Fetch?«
»Ja, natürlich, ich bin doch nicht blind.«
»Ihr versteht nicht, Lady. Man hat mir die Augenbinde nicht angelegt, weil mir ein so schrecklicher Ruf vorauseilen würde. Es ging um etwas anderes. Euer Onkel bekommt den Fetch nicht zu fassen, weil weder er noch seine Männer wissen, wie er aussieht. Wenn ich mich recht entsinne, war der Fetch schon zweimal kurz davor, ihn zu töten. Und dennoch hat der Regent nicht einen Blick auf ihn erhaschen können. Niemand weiß, wie der Mann unter der Maske aussieht. Höchstens diejenigen, die ihn für kein Geld der Welt verraten würden.«
Kelsea blickte in die Sterne. Kleine, funkelnde Punkte, die den ganzen Himmel bedeckten. Nur schade, dass sie ihr keine Antwort gaben. Obwohl sie gerade noch schläfrig in ihrem Sattel hin und her geschwankt war, war sie jetzt mit einem Schlag hellwach. Eigentlich müsste sie sofort ein Bild vom Fetch anfertigen oder ihn jemandem beschreiben, der gut zeichnen konnte. Und doch würde sie keins von beidem tun, das wusste sie.
»Lady?«
Kelsea holte tief Luft. »Ich würde ihn auch für kein Geld der Welt verraten.«
»Du lieber Gott.« Mace hielt sein Pferd mitten auf der Straße an und verharrte reglos in seinem Sattel. Kelsea spürte seine Missbilligung. Sie fühlte sich wie früher, wenn sie sich in Carlins Bibliothek in einer Ecke zusammengekauert hatte, weil sie die Antwort auf eine ihrer Fragen nicht wusste. Wie Carlin wohl auf die derzeitigen Entwicklungen reagiert hätte? Kelsea beschloss, nicht darüber nachzudenken.
»Ich bin ja auch nicht stolz drauf«, murmelte sie entschuldigend. »Aber was bringt es, wenn ich es abstreite?«
»Wisst Ihr, was ein Fetch ist, Lady?«
»Ein Gauner.«
»Nein. Ein Fetch ist ein Geschöpf aus der Mythologie, ein Vorbote des Todes. Er mag ein Meisterdieb sein, aber viele seiner übrigen Taten sollte man lieber gar nicht erst näher betrachten.«
»Ich möchte jetzt wirklich nichts über die anderen Taten des Fetch hören, Lazarus«, sagte Kelsea ungehalten, obwohl sie in Wahrheit natürlich alles darüber wissen wollte. »Ich habe Euch das nur erzählt, damit Ihr Bescheid wisst.«
»Nun«, erwiderte Mace resigniert, »der Mann übt einen schlechten Einfluss aus. Vielleicht sollten wir nicht mehr über ihn sprechen.«
»Einverstanden.« Während Kelsea ihr Pferd antrieb, suchte sie nach einem neuen Gesprächsthema: »Mein Onkel ist nicht verheiratet, hat Carlin mir erzählt. Was also hat es mit dieser Lieblingsfrau auf sich?«
Widerstrebend berichtete Mace, dass sich der Regent die Herrscher von Cadare zum Vorbild genommen und nach einem Harem verlangt hatte. Die jungen Frauen stammten aus armen Verhältnissen und wurden von ihren Familien an die Festung verkauft. Kelsea war außer sich. Nicht genug damit, dass ihr Reich in Korruption ertrank, nein, jetzt bekam sie es auch noch mit einem Hurenhaus zu tun. Leider weigerte sich Mace, ihr ein paar Soldatenflüche beizubringen, und sie selbst kannte keine Schmähungen, die derb genug gewesen wären, um ihrem Ärger Luft zu machen. Gekaufte Frauen! Genau dieses Verbrechen hätte nach der Überfahrt Geschichte sein sollen.
»Sämtliche Taten des Regenten fallen auf meinen Thron zurück. Das ist so, als hätte ich den Frauenhandel selbst sanktioniert.«
»Das glaube ich nicht, Lady. Keiner kann Euren Onkel wirklich leiden.«
Seine Worte konnten Kelseas Zorn nicht lindern, doch unter all ihrer Wut verbarg sich auch eine tiefsitzende Unsicherheit. Mace‘ Schilderungen ließen darauf schließen, dass es bereits vor ihrer Geburt Frauenhandel gegeben hatte. Warum war ihre Mutter nicht dagegen vorgegangen? Sie wollte Mace schon fragen, überlegte es sich dann jedoch anders. Er würde ihr ja sowieso keine Antwort geben.
»Ich muss den Regenten loswerden«, sagte sie entschlossen.
»Er ist Euer Onkel, Lady.«
»Das ist mir egal. Wenn ich erst auf dem Thron sitze, werfe ich ihn noch in derselben Sekunde aus der Festung.«
»Euer Onkel steht hoch in der Gunst der Roten Königin. Wenn Ihr ihm seine Macht entzieht, könnte das die Beziehungen zu Mortmesne gefährden.«
»Wieso denn gefährden? Ich dachte, wir hätten einen Vertrag.«
»Den haben wir, Lady.« Mace räusperte sich. »Aber der Friede mit Mortmesne steht auf tönernen Füßen. Jede offen ausgetragene Feindseligkeit könnte verheerende Folgen haben.«
»Warum?«
»Unser Königreich hat keine ausgebildeten Kämpfer, die es mit einer ganzen Armee aufnehmen könnten, geschweige denn mit der von Mortmesne. Und wir haben keinen Stahl.«
»Also brauchen wir Waffen und ein Heer.«
»Kein Heer der Welt wird sich mit Mortmesne anlegen, Lady. Ich bin nicht abergläubisch, aber den Gerüchten über die Rote Königin glaube ich, seit ich sie vor Jahren einmal selbst zu Gesicht bekommen habe …«
»Wie das?«
»Der Regent hatte eine Delegation nach Demesne entsandt, und ich sollte zu ihrem Schutz mitreisen. Zu diesem Zeitpunkt war die Rote Königin seit weit über einem Jahrhundert an der Macht, aber ich schwöre Euch, Lady, sie sah keinen Tag älter aus als Eure Mutter bei Eurer Geburt.«
»Nun gut, aber selbst wenn das Alter ihr nichts anhaben kann, ist sie doch nur eine Frau.« Kelsea sprach mit fester Stimme, doch innerlich war sie angespannt. Mitten in der Nacht auf einer gottverlassenen Straße über eine Hexenkönigin zu sprechen war keine besonders gute Idee. Die Feuer, die hier und da noch den Straßenrand gesprenkelt hatten, waren inzwischen vollends außer Sichtweite, und sie hatte das Gefühl, als wären sie und Mace ganz allein in der Dunkelheit. Ein süßlich fauliger Gestank lag über der Straße. Irgendwo in der Nähe musste es einen Sumpf geben.
»Seid vorsichtig, Lady. So ehrenvoll Eure Absichten auch sein mögen, der direkte Weg ist nicht immer der beste.«
»Und doch reiten wir nun hier auf dieser Straße, Lazarus.«
»Aus Mangel an Alternativen.«
Kurz vor Tagesanbruch machten sie Rast. Bis zur Stadt würden sie noch ungefähr vier bis fünf Stunden brauchen. Mace verbot Kelsea, ein Feuer zu machen, und als weitere Vorsichtsmaßnahme schlug er ihr Lager hinter einem großen Brombeerstrauch auf, damit es von der Straße aus nicht zu sehen war. Ihre Verfolger mussten sich ebenfalls zur Ruhe gelegt haben, denn das Hufgetrappel war verstummt. Mace nickte, als Kelsea ihn fragte, ob sie ihre Rüstung für die Nacht abnehmen dürfe.
»Aber morgen müsst Ihr sie wieder anlegen, Lady, denn wir werden die Stadt untertags erreichen. Eine Rüstung ohne Schwert taugt vielleicht nicht viel, ist aber besser als nichts.«
»Wie Ihr wünscht«, murmelte Kelsea, die trotz der pochenden Wunde an ihrem Hals schon halb eingeschlafen war. Und das war auch gut so. Auf den morgigen Tag kam alles an. Fey, dachte sie. Dem Tod entgegentreten. Sie glitt in den Schlaf und träumte von den endlosen Feldern der Almontebene, von Männern und Frauen, zerlumpten Gestalten, die den Boden bewirtschafteten. Hinter den Feldern ging die Sonne auf, und der Himmel stand in Flammen. In nicht allzu weiter Entfernung erblickte sie eine Bäuerin. Als die Frau sich umwandte, sah Kelsea, dass sie wunderschön war. Sie hatte einprägsame Züge, dunkles, wirres Haar und ein überraschend junges Gesicht. Sie streckte ihr ein Bündel Weizen entgegen, als wolle sie, dass Kelsea es prüfte.
»Rot«, flüsterte die Frau heiser. In ihren Augen leuchtete der Wahn. »Ganz rot.«
Kelsea blickte erneut auf das Bündel und sah, dass die Frau keine Weizengarbe, sondern den verstümmelten, blutenden Körper eines kleinen Mädchens hielt. Man hatte dem Kind die Augen ausgestochen, und in seinen Augenhöhlen sammelte sich Blut. Kelsea öffnete den Mund, um zu schreien, als Mace sie wachrüttelte.