Das Bild

Die großen Blutbuchen ließen gerade die ersten bunten Blätter fallen, als der Prof und ich am nächsten Tag die Galerie Hagen erreichten. Das weiße Haus wirkte öde und verlassen, es war schwer sich vorzustellen, dass Vater hier vor nur wenigen Wochen das Fest seines Lebens gefeiert hatte. Damals war die Terrasse von Geschrei und Gewühl und Menschen in Feststimmung erfüllt gewesen. Jetzt konnte ich als einziges Lebewesen ein kleines Rotkehlchen sehen, das auf der Verandabrüstung saß und piepste. Es regnete ein bisschen, und zwischen Büschen und Bäumen schwebten gespenstische Nebelschwaden.

»Vielleicht ist ja keiner zu Hause«, sagte der Prof. »Licht brennt jedenfalls nicht. Ist die Ausstellung schon vorbei?«

»Nein, aber sie öffnen nur mittwochs, samstags und sonntags. Dass kein Licht brennt, hat nichts zu sagen. Franzens Büro liegt auf der anderen Seite.«

Wir gingen zum Haupteingang und klingelten. Es dauerte und dauerte, aber nach einer Weile wurde drinnen im Flur das Licht eingeschaltet. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und Franzen persönlich schaute heraus.

»Meine Güte! Was für unerwarteter Besuch!«

»Hast du zehn Minuten Zeit?«, fragte ich. »Ich wollte dich nur kurz was fragen.«

»Ja, sicher. Kommt rein. Ich sitz hier an der Buchführung und langweile mich zu Tode.« Er grinste. »Das macht am wenigsten Spaß an der ganzen Galerie.«

Er führte uns in ein ziemlich chaotisches Büro. Der Schreibtisch war übersät mit Katalogstapeln und Ordnern und losen Blättern. Und an allen vier Wänden lehnten Bilder und leere Rahmen und aufgerollte Drucke.

»Wie geht’s Rolf?« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

»Das weiß nur er allein«, antwortete ich. »Deswegen kommen wir zum Teil auch. Er ist verschwunden. Hast du etwas von ihm gehört?«

»Verschwunden?« Franzen runzelte die Stirn. »Rolf Pettersen soll verschwunden sein?«

»Ja, versteh das nicht falsch«, sagte ich. »Ich meine nicht, er wäre entführt worden oder so was. Wir glauben, er ist mit einer Frau durchgebrannt. Ich will dir natürlich nicht mit unseren Familienproblemen auf die Eier gehen, aber ich muss einfach mit meinem Vater reden. Und dann haben der Prof und ich uns ein bisschen unsere Gedanken gemacht, und wir haben herausgefunden, dass du uns vielleicht ein paar Fragen beantworten kannst.«

»Die uns zu Peters Vater führen können«, fügte der Prof erklärend hinzu.

»Ja, äh. Wenn ich euch helfen kann, dann tu ich das natürlich gern. Aber ich wusste das alles ja noch gar nicht. Rolf hat weder angerufen noch vorbeigeschaut.«

Ich hatte keine Lust, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, und deshalb war es mir egal, dass er den Zusammenhang nicht raffen würde. Ich kam gleich zur Sache: »Eins von den Bildern dieser Ausstellung heißt, wenn ich mich nicht irre, Die Blauen Wölfe. Können wir das mal sehen?«

»Wie … Ja, natürlich, kommt mit. Eine seiner stärksten Arbeiten, das finde ich wenigstens. Ja, von seinen Bildern wenigstens.«

Wir gingen alle drei in den Ausstellungssaal, und Franzen schaltete das Deckenlicht ein.

Alles war wie neulich. Abgesehen davon, dass etliche neue Zettel aufgetaucht waren. Und Alk und Kanapees waren natürlich verschwunden. Zusammen mit den vielen Menschen.

Der Prof und ich stürzten zu ‚unserem‘ Bild der zähnefletschenden Tiere hinüber. Das Bild trug die Nummer 23, wir hatten also recht gehabt mit unserer Vermutung. Die Blauen Wölfe.

»Alle neune!«, flüsterte der Prof. »Jetzt haben wir immerhin einen Faden zu verfolgen.«

Er drehte sich zu Franzen um. »Warum ist ausgerechnet dieses Bild nicht zu verkaufen?«

Franzen zündete sich eine Prince Mild an und redete mit der Kippe im Mund. »Ja, das war ein kleiner Patzer. Pettersen hatte einfach verschwitzt, dass er es schon verschenkt hatte. Das ist ihm erst auf der Vernissage wieder eingefallen. Ich war ja nicht so begeistert davon, ich lebe schließlich von den Prozenten aus dem Verkauf, aber so etwas kommt eben vor.« Er zuckte die Schultern. »Und der Verkauf hier läuft ja trotzdem gut.«

»Wie läuft so was eigentlich?«, fragte ich. »Wenn jemand hier in der Galerie ein Bild kauft?«

»Dann schreibst du deinen Namen und deine Adresse auf eine Liste. Und wenn die Ausstellung vorbei ist, dann überweist du den Kaufpreis auf ein Konto oder blechst bar hier im Büro.«

»Und nimmst das Bild gleich mit?«, erkundigte sich der Prof.

»Ja, das kommt darauf an. Für Leute, die hier in Oslo wohnen, ist es ja oft am einfachsten, ihr Bild selber zu holen. Aber wir schicken denen, die das lieber mögen, auch die Bilder. Dann müssen sie noch das Porto bezahlen, das ist der ganze Unterschied.«

»Aber Die Blauen Wölfe stehen wohl kaum auf der Liste?«, fragte der Prof.

»Nein, ich nehme an, dass Pettersen sie zurückhaben will. Oder dass der Besitzer es hier holen kommt. Das können wir ja sofort feststellen, die Listen liegen im Büro.«

Also gingen wir zurück dorthin. Franzen tauchte in seine Schreibtischschublade und zog einen großen Bogen hervor. »Mal sehen, mal sehen, mal sehen … hier! Nein, das ist aber seltsam!«

»Stimmt was nicht?«, fragte ich. Ich spürte, wie es mich im Bauch kribbelte.

»Nein, alles in Ordnung. Nur steht hier, dass das Bild zusammen mit den anderen geschickt werden soll. Das ist ja nicht ganz korrekt, da es nicht hier verkauft worden ist, aber es ist ja doch nur eine Bagatelle.«

Mein Herz schlug jetzt ziemlich wild und unkontrolliert. Ich warf dem Prof einen Blick zu.

Er reagierte schneller. »Wohin geht denn das Bild? Haben Sie eine Adresse?«

»Kopenhagen, steht hier. Toldbodgade. Mia Knutsen.«

Mia Knutsen? Wer zum Henker war Mia Knutsen?

»Sonst nichts?«, fragte der Prof. Ich konnte sehen, dass er nachdachte, dass ihm der Schädel qualmte. Hätte Mia Knutsen mit Vornamen Marita geheißen, dann wäre jetzt alles in Ordnung. Und jetzt waren wir genauso schlau wie vorher.

»Eine Telefonnummer«, sagte Franzen. »Nein, zwei. Ja, ich bitte die Kunden immer um eine Telefonnummer, falls es irgendwelche Probleme gibt.«

»Kann ich mal sehen?«, fragte ich.

Er gab mir die Liste. Der Prof und ich steckten die Köpfe zusammen.

Das einzige, was ich feststellen konnte, war, dass mein Vater Mia Knutsens Namen und Adresse aufgeschrieben hatte. Und ihre Telefonnummer. Oder ihre Nummern, denn hier standen zwei.

»Tja«, sagte ich. »Daraus werden wir ja auch nicht weiter schlau.«

»Nein.« Der Prof gab Franzen die Liste zurück. »Aber den Versuch war es ja wert.«

Ich war so enttäuscht, ich hätte … ich weiß nicht, was ich gekonnt hätte.

Franzen legte die Liste zurück in die Schublade und sagte: »Ich weiß ja, dass du in einer schwierigen Lage bist, Peter. Aber ich bin sicher, dass sich alles irgendwie findet. Du weißt, Künstler sind oft Menschen, die … was soll ich sagen? Sie sind impulsiv. Gefühlsmenschen. Und Erfolg zu haben, und dein Vater hat jetzt Erfolg, ist oft genauso schwer zu verdauen wie ein Fiasko. Nun kennst du natürlich deinen Vater viel besser als ich, aber es würde mich nicht wundern, wenn es einen Zusammenhang zwischen all der Aufmerksamkeit gibt, die jetzt auf ihn gerichtet war, und der Tatsache, dass er sich zurückgezogen hat. Versuche ein bisschen die Ruhe zu bewahren. Ich kann dir jedenfalls erzählen, dass ich in den Jahren, seit ich diese Galerie habe, schon öfter Ähnliches erlebt habe. Und um es ganz offen zu sagen, am häufigsten kommt es vor, dass der Künstler ganz einfach ein oder zwei Wochen durchsäuft. Vielleicht fällt es anderen schwer, das zu verstehen, aber eine so große Ausstellung wie die deines Vaters ist oft eine ganz schöne Belastung.«

Ich mochte Franzen. Er gab sich alle Mühe, mich aufzumuntern. Und er redete ganz offen. Deshalb nickte ich nur und verabschiedete mich, statt zu sagen, dass mein Vater zwar einen Haufen Fehler und Mängel aufwies, aber dass es doch nicht seine Art war, wochenlang durchzusaufen. Ein paar Bier, ab und zu eine Flasche Rotwein, das gefiel ihm. Aber er war einfach nicht der Typ, der sich zusammen mit ein paar Fässern Alk in einem Hotelzimmer einschließt.

Andererseits war er durchaus der Typ, der sich mit einem Frauenzimmer in einem Hotelzimmer einschließt. Das war natürlich gesünder, aber so, wie die Dinge so lagen, war das irgendwie auch kein Trost.

 

»Ja, ja«, sagte ich, als wir wieder draußen im regennassen Garten standen. »Aus ist’s mit der Spur.«

»Niemals von dieser Mia Knutsen gehört?«

»Niemals. Aber sie muss Vater ja kennen, sonst hätte er ihr doch nicht schon vor der Ausstellung Die Blauen Wölfe verkauft oder geschenkt. Ich kann ja Mutter fragen.«

»Nein, lass das. Zieh sie noch nicht mit rein. Unsere Spur ist nämlich nicht verloren.«

»Nicht? Wie meinst du das? Sollen wir nach Kopenhagen fahren und uns Mia Knutsen mal vorknöpfen?«

»Das nicht. Aber es ist doch seltsam. Wir sehen uns zu dritt diese Liste an, aber nur ich sehe, was darauf steht!«

»Ich hab dasselbe gesehen wie du«, widersprach ich. »Einen Namen. Eine Adresse in Kopenhagen. Und zwei Telefonnummern.«

»Spitze. Die eine Nummer war eine Kopenhagener Nummer. Aber die andere war eine schnöde 02-Nummer. Oslo eben! Ich glaub sogar, ich weiß ungefähr, wo in der Stadt das dazugehörige Telefon steht. Ich tippe auf Majorstua, und dann können wir ja sehen, wie sehr ich mich verhauen habe.«

»Ich fass es nicht!«, sagte ich. »Und du hast dir diese Nummer gemerkt? Hast sie in der Birne?«

»Was für eine Frage. Alle beide!«