Beschatten

Am nächsten Morgen versuchte ich, so gut ich konnte, normal zu spielen. Ich stand wie immer auf, frühstückte und versuchte, Mutter zu trösten. Seltsamerweise hatte ich schlafen können, im Gegensatz zu ihr. Sie saß mit blauen Schatten unter den Augen erschöpft am Küchentisch. Wie immer ging ich um zehn nach acht, mit dem Schulsack über der Schulter. Dass als einziges Buch Agatha Christies »Tod auf dem Nil« darin steckte, wusste jedoch nur ich.

Der Prof war fertig. Er wartete im ersten Stock in der Tür auf mich.

»Hast du ihn angerufen?«

Ich schüttelte den Kopf und lief nach unten. »Wollte ich nicht riskieren. Mutter war doch wach. Konnte nicht riskieren, dass sie sich in alles einmischt. Aber reg dich ab, ich erwische ihn auf jeden Fall. Leffy steht morgens nur auf, wenn das unbedingt sein muss.«

»Und wenn das mit dem Auto nicht klappt?«

»Dann treffen wir uns nach der Schule im Haus der Künstler.«

»Alles klar. Soll ich in der Schule irgendwas sagen? Hermansen ist im Grunde ja ziemlich in Ordnung. Er kapiert sicher …«

»Genau das tut er. Deshalb brauchst du überhaupt nichts zu sagen. Ich werde so bald wie möglich selber mit ihm reden.«

 

Ragnhild öffnete mir die Tür. Sie war genauso angezogen wie neulich, nur hatte sie das Hemd gewechselt.

»Himmel«, sagte sie. »Der Sohn der Prominenz!«

»Ich hoffe, du verzeihst mir«, sagte ich. »Aber ich bin heute einfach nicht zu Späßen aufgelegt. Ist Leffy zu Hause?«

»Tut mir leid, da hab ich den Schnabel zu weit aufgerissen. Ja, der liegt auf der Bärenhaut und träumt. Ich muss jetzt zur Arbeit, aber in der Küche gibt's heißen Kaffee und Tee. Bedien dich.«

Während sie in ihre Hose stieg und in der Diele ihre Haare in Ordnung brachte, ging ich in die Küche und goss Tee in eine und Kaffee in eine andere Tasse. »Weißt du, ob Leffy den Wagen hat?«

»Glaub schon«, sagte sie und trug noch mehr Lippenstift auf. »Steht wohl um die Ecke. Wieso?«

»Lange Geschichte«, antwortete ich. »Zu lang.«

»Tja, für lange Geschichten habe ich keine Zeit. Wenn ich nicht in einer Viertelstunde spätestens beim Job bin, dann bin ich arbeitslos.« Sie riss Mantel und Tasche an sich. »Mach's gut!«

Weg war sie.

Ich ging mit den beiden Tassen ins Wohnzimmer. Ragnhild hatte die Vorhänge des Schlafalkovens geöffnet, und ich konnte sehen, dass Leffy auf dem Rücken lag und mit offenem Mund schlief.

Ich stellte die Tasse mit dem dampfenden Kaffee auf die breite Bettkante und schüttelte ihn. »Aufwachen, Leffy!«

Er wurde wach und sah mich verwirrt an. »Peter! Wann immer ich mich für einen Moment aufs Ohr haue, kommst du und schüttelst mich, ist dir das klar? Erst bei deinem Vater im Atelier, und jetzt...«

»Du musst mir helfen«, sagte ich. »Sonst, fürchte ich, war all eure Schufterei im Atelier umsonst. Hast du gestern Abend die Nachrichten gesehen?«

Er gähnte. »Nein, aber ich habe alles gehört. Ragnhild hatte ausnahmsweise mal die Glotze eingeschaltet. Meine Fresse, der muss doch total ausgetickt sein, oder was meinst du?«

»Bin nicht ganz sicher. Aber ich muss ihn jedenfalls finden, ehe er noch tiefer in diese Scheiße hineinrutscht.«

Leffy schlürfte vorsichtig einen Schluck Kaffee. Dann stellte er die Tasse weg und fragte energisch: »Glaubst du wirklich, ich hätte Quatsch geredet, als du zuletzt hier warst? Glaubst du das? Ich weiß nicht, wo dein Vater ist, kapier das doch endlich.«

»Ich glaub dir ja«, antwortete ich. »Ich hab dir auch neulich geglaubt. Aber der Prof und ich haben eine Spur. Eine Adresse unten in Incognitogata. Irgendwie hat Vater was mit dieser Adresse zu tun, und deshalb wollte ich das Haus ein bisschen im Auge behalten.«

»Gute Idee. Aber dann begreif ich nicht so recht, was du hier treibst!«

»Ich bin hier, weil ich mich natürlich nicht einfach so vor dem Haus aufstellen kann. Vielleicht muss ich doch stundenlang warten. Deshalb wollte ich dich fragen, ob ich in deinem Lastwagen sitzen darf.«

Er sah mich verwirrt an. »Aber meine Karre steht doch hier um die Ecke?«

»Natürlich«, antwortete ich. »Aber Incognitogata ist wirklich nicht weit. Also kannst du genauso gut da parken. Wo du heute doch ohnehin frei hast, meine ich.«

Er stand auf und machte sich in Unterhosen auf die Suche nach seinem Tabak. »Du bist manchmal die reine Plage, Peter Pettersen. Wie dein Vater, von dem hast du das wohl. Warum könnt ihr beiden nicht raffen, dass ich keine Lust habe, in euren Privatkram hineingezogen zu werden? Er verordnet mir auf der einen Seite Schweigepflicht - und auf der anderen stehst du und ziehst und zerrst an mir! Das macht mich noch total nervös! Ich hab gern meine Ruhe! Tage, an denen nichts passiert! Und jetzt hat er sogar noch die Bullerei mit reingezogen. Und mit den Jungs bin ich schon seit Jahren fertig.«

»Jetzt übertreib nicht«, sagte ich. »Jedenfalls bist nicht du derjenige, der sich in dieser Sache den Hintern verbrennt.«

Er fing an, sich eine fadendünne Kippe zu drehen. »Nein, da hast du recht. Werd ihn wohl im Knast besuchen müssen.« Er gab sich Feuer und inhalierte. »Meinst du denn, er würde meine Mühle nicht sofort erkennen?«

»Das müssen wir riskieren«, antwortete ich. »Außerdem weiß ich nicht, ob das so schlimm wäre. Ich will doch nur kurz mit ihm reden.«

Ich erwähnte nicht, dass ich überhaupt nicht damit rechnete, ihn da unten zu sehen, und dass ich eigentlich wegen zwei ganz anderen Leuten das Haus überwachen wollte. Kein Sinn, so früh am Morgen Leffys verwirrte Birne damit zu belasten.

»Nun sag schon ja«, bat ich. »Ich respektiere ja, dass du über gewisse Dinge, die Vater dir erzählt hat, die Klappe hältst. Und da kannst du mir doch auch ein bisschen helfen.«

»Natürlich sage ich ja«, antwortete Leffy müde. »Aber jetzt schau, dass du in die Küche kommst, und mach dir ordentlich Proviant zurecht. Mal sehen, ob ich irgendwo eine Thermoskanne hab, dann kannst du den restlichen Tee mitnehmen.«

»Du bist in Ordnung, Leffy.«

»Ja, das bin ich allerdings, du verdammter Störenfried. Und wenn du wüsstest, worüber ich hier die Klappe halte … Himmel, du würdest dich kringelig lachen, glaube ich. Dein Vater ist so ungeschickt und kindisch, dass ich … nein, ich werd nicht schlau aus ihm!«

Wir hatten Glück. Als wir gerade mit Leffys Lastwagen angefahren kamen, machte sich ein Privatauto davon, und das brachte uns einen Parkplatz zwischen einem Audi und einem Volvo. Leffy bugsierte seine Karre hinein und stellte den Motor ab.

»Okay, Peter. Hals- und Beinbruch oder so! Und wenn dein verrückter Vater angelatscht kommt, dann sag ihm, dass ich ihm auch gern dies und jenes sagen würde! Dieser Trip, auf dem er jetzt ist, taugt einfach nichts, weißt du. Hat keinen Sinn, in einem Land mit vier Millionen Menschen, die miteinander verwandt sind, unter die Erde zu gehen. Wenn du abhaust, dann schließ ab. Ich nehm' die Schlüssel mit, du brauchst bloß die Tür fest zuzuziehen. Alles klar?«

»Alles. Und vielen Dank.«

»Weiß deine Mutter, dass du blaumachst?«

»Ich dachte, es hätte keinen Sinn, sie darüber zu informieren. Ich glaube, sie hat genug andere Sorgen.«

»Vernünftig von dir. Mach's gut!«

Er machte sich auf den Weg, und ich sah seinen gebeugten Rücken am Ende der Straße verschwinden.

Von Leffys Karre aus hatte ich das Haus gut im Blick. Und besser noch: Da die Sonne voll in meine Richtung schien, würden die Leute mich wegen der Reflexe auf der Windschutzscheibe wohl kaum sehen können.

Das einzige Problem war, dass es einfach nichts zu sehen gab. Nachdem Leffy verschwunden war, lag die Straße leer da. Und in den Fenstern im Haus war nicht die kleinste Bewegung zu entdecken. Langweilige Geschichte, mit anderen Worten. Ich versuchte, ein bisschen zu lesen, aber es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, ich saß irgendwie die ganze Zeit auf dem Sprung und musste dieselbe Seite immer wieder lesen.

Zwei Stunden saß ich so da und glotzte, ohne dass irgendwas passiert wäre. Erst gegen halb eins bekam ich einen Hinweis darauf, dass die ganze Warterei vielleicht doch nicht vergeudete Zeit gewesen sein könnte. Die Haustür öffnete sich, und ein Typ erschien, den ich kannte. Es war der Knabe, den ich neulich vor dem Fenster im Haus gesehen hatte. Der, mit dem Marita im Park verschwunden war! Er trug dasselbe wie damals. Jeans und Jacke und ziemlich abgelatschte Cowboystiefel. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihm folgen sollte, aber dann schminkte ich mir das lieber ab. Ich dachte, wenn ich hier eine interessante Beobachtung gemacht hätte, dann könnten doch noch weitere folgen, und wenn ich jetzt hinter mir die Autotür ins Schloss zog, dann hatte ich keine Möglichkeit, später zurückzukommen. Wohin der Heini jetzt unterwegs war, war ohnehin nicht besonders interessant, wichtig war, dass er etwas mit dieser geheimnisvollen Adresse zu tun hatte.

Als er verschwunden war, musterte ich die Fenster im Haus noch einmal. Keine Bewegung, kein Lebenszeichen, abgesehen von hier und da einer Topfblume. Wohnte der Typ hier? Und wenn ja, wohnte er hier allein? Und hatte er das Bild von Vater gekauft oder vielleicht auch geschenkt bekommen? Oder war er ganz einfach Kontaktperson für jemanden in Kopenhagen? Die Fragen standen Schlange, und sie drängelten sich aneinander vorbei und schufen ein Chaos in meinem Kopf.

Noch eine halbe Stunde verstrich. Und dann passierte etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hätte! Der blonde Kerl kam zurück, mit zwei großen Tragetüten voller Lebensmittel und mit einem Typ in seinem Alter, einem Mann mit kohlschwarzer Matte! Und zwanzig Meter hinter ihnen: Prof in ziemlichem Tempo.

War der Mann mit den schwarzen Haaren auch der Mann mit dem Halstuch? Und was zum Kranich machte der Prof hier? Der sollte doch in der Schule sein, aber das sollte im Grunde ja auch ich. War dem Prof klar, wer hier vor ihm ging?

Die beiden hielten aufs Haus zu, und ich kurbelte das Fenster herunter und gab dem Prof ein Zeichen, ihnen zu folgen. Wenn es derselbe Schwarzschopf war wie auf der Vernissage, dann bestand immerhin die Möglichkeit, dass er den Prof erkennen könnte, wenn er sich umdrehte, aber ich fand, das Risiko müsste er eingehen, wenn wir dadurch nur ein bisschen Fortschritt in die Sache brachten. Das wenigste, was wir durch die vielen öden Wartestunden erfahren mussten, war doch, in welcher Wohnung der Typ wohnte. Den nächsten Zug konnten wir dann diskutieren.

Ich sah, dass der Prof mich verstanden hatte. Er rümpfte die Nase, machte aber, was ich sagte. Zum Glück hatte die Haustür kein Schnappschloss, und deshalb konnte er einige Sekunden warten, ehe er hinter den beiden im Eingang verschwand.

Er blieb höchsten fünf Sekunden weg, dann kam er wieder heraus und überquerte die Straße so, dass er hinter dem Wagen verschwand. Gleich darauf klopfte er an die Tür, die nicht dem Haus zugekehrt war. Ich öffnete. »Hätte dich gar nicht so früh erwartet. Komm rein!«

Er sprang neben mich auf den Vordersitz und schloss hinter sich die Tür. »Letzte Stunde Sport, und da müssen wir garantiert wieder Geräteturnen, verstehst du? Dachte, wenn du den ganzen Tag blaumachst, dann könnte ich ja wohl eine miese Stunde überspringen.«

»Genau«, sagte ich. »Besser, als den Bock zu überspringen.«

Er schnitt eine Grimasse. »Ich weiß, dass ich im Turnen ein Versager bin. Aber was mir am meisten auf den Keks geht, ist, hinter Olsens verdammter Pfeife her zu tanzen. Komm mir vor wie ein dressiertes Viech. Ist hier was passiert?«

»Das Allerdramatischste war wohl dein Erscheinen. Hast du sie verfolgt, oder war das nur ein Zufall?«

»Es war ein Zufall, dass ich sie verfolgt habe, um das mal so zu sagen. Ich bin ziemlich sicher, dass dieser Dunkelhaarige auf der Vernissage war.«

»Der Mann mit dem Halstuch?«

»Gut möglich. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, ob er es umhatte.«

»Der andere Typ ist jedenfalls der, der Marita im Haus der Künstler abgeholt hat.«

Der Prof stieß einen Pfiff aus. »Sicher?«

»Hundert Prozent. Ich finde, das nimmt doch langsam Formen an, oder?«

»Gibt immer noch genügend lose Enden, wenn du mich fragst. Hast du aus Leffy mehr rausholen können?«

»Nix da. Hab's aber auch nicht besonders versucht. Um ganz ehrlich zu sein, finde ich es in Ordnung, dass er die Klappe hält, auch wenn uns das im Moment nicht so gelegen kommt. Und ich bin ganz sicher, dass er nicht weiß, wo Vater steckt. Aber erzähl mir, wo diese Jungs geblieben sind. Ich hab jedenfalls gehofft, dass du das rausfinden würdest, als ich dir vorhin Zeichen gegeben habe. Höchste Zeit, dass wir erfahren, wo sie in diesem Haus herumhängen.«

»Erdgeschoß«, antwortete der Prof. »In den wenigen Sekunden, bis ich ihnen gefolgt bin, können sie nicht weiter gekommen sein. Sie waren spurlos verschwunden. Im Erdgeschoß gibt es ja nur zwei Möglichkeiten. Eine Wohnung schaut auf die Straße, die andere auf den Garten. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in der hinteren Wohnung. Auf dem Namensschild der vorderen steht nämlich nur ein Name, Ågot Larsen.«

»Und auf dem anderen?«

»Terje und Jan Bergli. Das passt doch besser zu unseren Jungs, was?«

»Aber klar doch. Aber was machen wir jetzt? Bleiben wir bis heute Abend hier sitzen?«

»Glaub nicht, dass das was bringt. Aber wir sollten unbedingt einen genaueren Blick auf die Bude da drinnen werfen. Die Frage ist bloß, wie?«

»Wir können ums Haus herumgehen«, sagte ich. »Der Garten führt doch ums ganze Haus. Und da ihre Wohnung im Erdgeschoß liegt, müssten wir doch hineinsehen können.«

»Ich glaube, einfach hineinsehen reicht nicht«, meinte der Prof. »Aber wir müssen jedenfalls warten, bis es dunkel wird.«

»Was meinst du damit, dass hineinsehen nicht reicht?« Ich spürte ein Ziehen im Bauch.

»Einbruch natürlich«, antwortete der Prof, als ob er sich damit vier Abende pro Woche amüsierte. »Aber jetzt können wir nach Hause gehen, damit wir was in den Bauch kriegen.«

Ich suchte wirklich, konnte aber in mir keine Spur von Hunger entdecken.