Jenseits der Gesetze

Es war bereits Viertel vor elf, als wir an diesem Abend durch den Schlosspark gingen. Leichter Niesel lag in der Luft, die elektrischen Laternen hatten einen blaugelben Heiligenschein, und mir floss die Feuchtigkeit von der Stirn. Übrigens gab es auch unter meinen Kleidern eine gewisse Feuchtigkeit. Ich hatte zwar nicht genug Angst, um mir in die Hose zu machen, aber mein Schweiß strömte, obwohl wir gar nicht so schnell gingen. Ich betete nicht so oft, aber jetzt betete ich. Ich betete darum, dass der Prof es nicht notwendig finden sollte, bei Terje und Jan einzubrechen. Warum ich ihm nicht einfach sagte, dass ich jedenfalls an keinem Einbruch teilnehmen würde, wusste ich auch nicht so genau. Hatte wohl Angst, mich lächerlich zu machen, nehme ich an. Meine Feigheit zu zeigen. Irgendwas drehte sich pausenlos in meinem Magen um, es wurde immer noch schlimmer, ich hatte nämlich fast nichts essen können.

»Wenn sie zu Hause sind«, sagte ich, »dann können wir doch nicht einbrechen? Außerdem kapiere ich nicht, warum du um jeden Preis da reinwillst.«

»Beweise«, antwortete der Prof kurz. »Wenn das alles stimmt, was wir uns so gedacht haben, dann finden wir bei ihnen sicher genau die Broschüren, die die Bullerei bei deinem Vater erwischt hat.«

»Ach ja?« meinte ich und merkte, dass ich wütend wurde. »Diese verdammten Pamphlete sind also plötzlich zu Beweisen geworden?«

»Aber nicht doch. Reg dich ab. Wenn wir einen Karton voll finden, dann zeigt das doch in eine bestimmte Richtung, nicht wahr? Aber das Wichtigste ist natürlich dein Vater. Wenn wir ihn durchs Fenster sehen, ist der Fall ja gelöst, dann spazierst du einfach rein und redest mit ihm. Aber wenn nicht, dann müssen wir uns nach Spuren umsehen. Nach Anzeichen dafür, dass er dort gewesen ist.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, was wir machen, wenn die beiden Heinis im Wohnzimmer sitzen und Karten spielen oder in die Glotze stieren«, sagte ich.

»Uns wird schon was einfallen, nehme ich an. Im Grunde reicht es ja, dass du oder ich zur nächsten Telefonzelle gehen und kurz ein anonymes Gespräch mit ihnen führen. Ihnen sagen, dass ihre Kiste aufgeflogen und die Bullerei unterwegs ist. Das sollte sie in Trab bringen. Wenn diese Jungs bei den Blauen Wölfen sind, wohlgemerkt. Wenn sie nicht reagieren, dann können wir wohl nach Hause latschen, dann haben wir danebengehauen.«

»Es gibt einen Zusammenhang zwischen dieser Adresse und Vater«, sagte ich. »Vergiss das nicht.«

»Ich finde, du bist heute Abend ein bisschen komisch, Peter! Im einen Moment scheinst du überhaupt kein Interesse daran zu haben, in diesem Fall Klarheit zu schaffen, und im nächsten soll ich nicht vergessen, dass wir deinem Vater auf der Spur sind. Natürlich vergesse ich das nicht!«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin heute Abend ziemlich daneben. Total nervös, um ehrlich zu sein. Hab’ Schiss vor diesem Bruch!«

»Ich auch.«

»Du auch? Kommt mir aber gar nicht so vor.«

»Darfst dein Gesicht nicht verlieren, weißt du. In mir toben gewaltige Kämpfe.«

Wir prusteten gleichzeitig los. Das lockerte den Druck ein bisschen.

»Nein, ganz ehrlich«, sagte der Prof. »So gefährlich ist das wirklich nicht. Ich hab ja auch keine Erfahrung mit Einbrüchen, aber ich glaube, ich weiß, was wir zu tun haben.«

»Aber es muss nicht unbedingt so glattgehen wie in den Büchern, mit denen du dir die Birne vollstopfst.«

»In den Büchern geht in der Regel etwas schief«, widersprach er. »In der Wirklichkeit klappen Brüche wie der hier tadellos. Die Bullerei klärt vielleicht zehn Prozent davon auf. Das heißt in der Praxis, dass sie die erwischen, die aus lauter Suff am Tatort einpennen. Wir haben jedenfalls die Statistik auf unserer Seite, um es mal so zu sagen.«

»Schön«, sagte ich. »Das wird meine Mutter sicher sehr trösten, wenn die Bullen mich in Handschellen anschleppen.«

Der Prof blieb stehen und sah mich genervt an. »Machst du mit, oder machst du nicht mit? Du musst dich jetzt sofort entscheiden, wir können nicht in diesem verdammten Garten diskutieren. Okay?«

Ich schluckte. »Okay. Ich mache mit.«

Und dann standen wir plötzlich mitten in dem verdammten Garten. Es war stockfinster, und Überfall standen Fliederbüsche und Berberitzen, und ich beruhigte mich irgendwie ein bisschen. Mein Herz schlug natürlich auf Hochtouren, aber langsam glaubte ich, dass es dieses Tempo aushalten könnte.

»Gut, gut, gut!« sagte der Prof und schlug einige halbtrockene Zweige beiseite. »Sieh dir das an!«

Ich sah diese beiden Typen, die wahrscheinlich Terje und Jan hießen und offenbar in ihrer Wohnung in eine ziemlich heftige Diskussion vertieft waren. Sie fuchtelten mit den Armen, richteten die Zeigefinger aufeinander. Da es so dunkel war, wurden die beiden Fenster zum Garten und zu uns die reinen Fernsehschirme. Von Vorhängen hatten diese beiden Genies wohl nie was gehört.

»Soso«, sagte ich. »Du kannst anrufen gehen. Ich kann einfach nicht solche Lügen von mir geben.«

»Nein, du bist ein Heiliger!« sagte der Prof mit dem Mund voller Drops. »Aber ich schlage vor, noch ein bisschen zu warten. Dass die beiden sich streiten, braucht ja nicht zu bedeuten, dass sie alleine sind. Dein Vater und diese Marita können ja trotzdem im anderen Zimmer sein!«

»Halt die Klappe!« sagte ich.

Das tat er. Und auch ich hielt meine Klappe. Wir saßen ganz still in der Dunkelheit und glotzten die beiden Typen an, die zwar rauchten und Bier in sich hineingössen, aber noch immer genauso vertieft in ihr Gespräch waren wie vorhin.

Nach einer Dreiviertelstunde kam dem Prof das Gähnen. »Ich glaube, ich geh jetzt anrufen. Sieht ja nicht so aus, als ob sie in nächster Zeit weggehen wollten. Wir können doch nicht die ganze Nacht hier rumsitzen, dann ticken meine Alten aus. Aber sieh dir die Glastür zum Garten an. Wenn wir da nicht unbemerkt reinkommen, können wir in den nächsten Jahren nicht vom Einbrechen leben.«

Ich hatte keinen Nerv, ihm zu erzählen, dass er hier gerade Schwachsinn von sich gab. Wenn irgendwer in der Zukunft ganz andere Dinge als Brüche hinlegen würde, dann war das der Prof! Ich sah ihn schon auf irgendeiner Uni vor mir, als Spezialist für Energie oder irgendwas in der Art. Und ich war ziemlich sicher, dass er selber genau dieses Zukunftsbild hatte.

Aber er brauchte nicht zur nächsten Telefonzelle zu gehen. Denn gleichzeitig mit ihm erhoben sich auch die beiden Typen in der Wohnung. Und nur eine Minute später sahen wir, wie sie Stiefel und Jacken anzogen und wie das Licht in der Wohnung erlosch. Ich versuchte zu hören, ob die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fiel, aber mein Ohr registrierte nur den Lärm der Stadt und das hastige Atmen vom Prof.

»Geh nach vorn und schell mal bei denen«, sagte der Prof. »Jetzt wissen wir ja die richtige Klingel. Warte eine Minute. Wenn nichts passiert, dann sind wir ziemlich sicher.«

Ich tat, wie mir geheißen, ging ums Haus und drückte mit dem Zeigefinger auf die Klingel von Terje und Jan. Keine Reaktion, und darüber war ich natürlich froh. Wäre nicht leicht gewesen, irgendeine Ausrede zu finden.

Als ich zurückkam, packte der Prof gerade seine Taschen aus. Eine große Rolle Isolierband, ein Taschenmesser und eine Taschenlampe.

»Pass auf die anderen Fenster auf«, sagte er.

»Nirgendwo ein Schwein zu sehen«, erwiderte ich.

»Okay. Bringen wir's also hinter uns!«

Wir liefen über eine schmale Rasenfläche und standen plötzlich vor der Glastür, die der Prof mir gezeigt hatte. Ohne ein Wort beklebte er die ganze Glasscheibe kreuz und quer mit Isolierband. Mir fiel ein, dass er inzwischen Handschuhe angezogen hatte.

»Besser, zu viel Band anzupappen als zu wenig«, sagte er. »Wenn wir jetzt die Scheibe einschlagen, dann wird fast nichts zu hören sein. Und keine Glasscherben splittern durch die Gegend. So. Ich glaube, das reicht. Willst du die Ehre haben, die Scheibe einzuschlagen? Hier!« Er durchwühlte seine Jackentasche und förderte ein weiteres Paar Handschuhe zutage. »Zieh die an.«

Als ich die Handschuhe übergestreift hatte, verpasste ich der Scheibe einen rechten Schwinger. Es ging nicht ganz so lautlos ab, wie der Prof behauptet hatte, aber jedenfalls fielen kaum Glassplitter auf den Boden. Vorsichtig fischten wir Glas und Isolierband aus dem Rahmen, und dann brauchten wir nur noch die Hand hineinzustecken und den Schlüssel innen umzudrehen. Lautlos öffnete sich die Tür.

»Nette Jungs«, sagte der Prof. »Haben sogar die Türangel geschmiert.« Er schaltete die Taschenlampe ein. Ein schmaler Strahl bohrte sich durch den dunklen Raum.

Ich war früher an diesem Abend entsetzlich nervös gewesen. Aber als wir jetzt im Zimmer standen, wurde ich aus irgendeinem Grunde ruhiger.

»Erst verschaffen wir uns einen Überblick über die Wohnung«, sagte ich.

»Das kannst du machen«, antwortete der Prof. »Und ich stelle fest, was hier für Bücher im Regal stehen. Wenn man wissen will, mit wem man es zu tun hat, dann lohnt es sich immer, die Bücherregale der Leute zu untersuchen.« Er richtete den Lichtstrahl auf die Buchrücken. »Fünf Freunde! Ich fass es nicht!«

Ich hatte keine Taschenlampe, aber das war kein Problem. Das große Wohnzimmer war das einzige Zimmer, das auf den Garten blickte, in die anderen Räume strömte das Licht der Straßenlaternen. Die Wohnung bestand aus fünf Zimmern: dem Wohnzimmer, einer Küche, einem Bad und zwei Schlafzimmern. Die Küche war altmodisch, aber frischgeputzt und aufgeräumt. Keine einzige schmutzige Tasse im Spülbecken. Ich untersuchte die Schränke, fand aber nur das, was sich normalerweise an solchen Orten versteckt, nämlich Konservendosen, Suppentüten und allerlei Gewürze. Die Mülltüte im Mülleimer war leer. Die beiden Schlafzimmer waren wüst. Das totale Chaos. Schmutzige Wäsche und Schuhe und Stiefel lagen überall herum, und die beiden Betten waren nicht gemacht. Ich warf einen Blick auf die Kleiderschränke. Im ersten Zimmer wurde der Kleiderschrank nur für Kleider benutzt, im zweiten aber fand ich genau das, wovon der Prof gefaselt hatte. Einen Pappkarton voller Pamphlete. Sie waren identisch mit denen, die mein Vater zu Hause gehabt hatte.

Ich ging zum Prof hinüber. »Ja, jetzt haben wir sie!« Ich zeigte ihm die Broschüren. »Die haben einen ganzen Karton davon im Kleiderschrank.«

Der Prof grunzte zufrieden. »Hab ich mir gedacht. Die Literatur, die hier aufgestapelt ist, hat nämlich auch hauptsächlich mit Tieren zu tun. Massenhaft englische Bücher über Tierversuche und so. Wir haben voll ins Schwarze getroffen. Hast du was von deinem Vater gesehen?«

»Der wälzt sich hier jedenfalls nicht rum, so wie du dir das vorgestellt hast. Aber drinnen liegen haufenweise Klamotten, ich muss also noch mal genauer nachsehen. Komm mit, ich brauche Licht. Oder willst du die Bücher etwa auch noch lesen?«

Wir gingen ins erste Schlafzimmer. Der Prof hielt die Taschenlampe, während ich die Kleiderstapel durchging, Stück für Stück. Es gab Pullover und Hemden, Hosen und Socken, aber nichts davon hatte ich je vorher gesehen. Wir wollten uns gerade an Schlafzimmer Nr. 2 machen, als wir die Eingangstür hörten. Es ging so schnell, dass von Flucht einfach keine Rede mehr sein konnte.

»Ganz schön undemokratisch von dir«, sagte ein Typ. »Immer willst du soviel Peperoni haben. Du weißt doch, dann hab ich die ganze Nacht tierisches Sodbrennen.«

»Verdammt!« flüsterte der Prof. »Verdammte Axt!«

Ich preßte ein zaghaftes »Ja« an einem dicken Kloß in meinem Hals vorbei. Nur, um zu zeigen, dass ich seiner Darstellung der Situation zustimmte.

Dann ging die Tür auf, und Terje und Jan knipsten das Licht an.