Ich lag im Bett und starrte die weißgekalkte Decke an. Ich hatte es gut. Ich konnte nicht abstreiten, dass ich mich bei meinem ersten Kneipenbesuch allein einsam, ja, sogar etwas niedergeschlagen gefühlt hatte, aber aus Büchern wusste ich, dass das ganz normal war.
Aber jetzt sah die Welt etwas lichter aus. Meine Begegnung mit dem riesigen Hotel Admiral war zweifellos eine positive Überraschung gewesen. Alles war so gelaufen, wie der Prof es vorausgesagt hatte; es war kein Problem für mich, mich auf das Zimmer im dritten Stock zu schleichen. Und was für ein Zimmer! Aussicht auf den Hafen, durch ein Fenster mitten in einer fast meterdicken Mauer. Fernsehen mit Dutzenden von Programmen. Phantastisches Badezimmer. Und das Gebälk, von dem der Prof geredet hatte: Zwei gigantische Balken aus uraltem Holz zogen sich durch das ganze Zimmer und trafen sich über dem Bett, wo sie auf einem riesigen Y mit denselben gewaltigen Dimensionen ruhten; wie ein Baumstamm mitten im Zimmer, wie ein Baum mit Wurzeln, die wahrscheinlich bis in den Keller reichten.
»Ich glaube, ich möchte irgendein Geschäftsmann werden«, sagte ich. »Damit ich viel verreisen muss. muss doch ganz toll sein, immer wieder in solchen Zimmern zu wohnen. Vor allem, wenn die Firma bezahlt, was?«
Der Prof saß in einem Sessel, trank Fanta und schaute in die Glotze. Irgendeine HipHop-Band gurkte in einem roten Straßenkreuzer mit massenhaft Frauen im Schlepptau durch die Gegend.
»Die kriegen das sicher total satt«, meinte er. »Hast du dir schon überlegt, wie wir jetzt weiter vorgehen? Ich finde nämlich, das solltest du entscheiden. Schließlich spielt dein Vater hier den Kinderverführer, nicht meiner.« Er lachte wiehernd. »Das war vielleicht ein Anblick!«
»Wir müssen das ja wohl nicht komplizierter machen als notwendig«, sagte ich. »Ich klingele und zeig dem Alten meine Visage. Sage, ich wollte mit ihm reden. Aber ich will sicher sein, dass er in der Bude sitzt, ehe ich das mache. Er soll nicht vorher gewarnt sein, ich will ihn überraschen.«
»Doch, das klingt vernünftig«, sagte der Prof und drehte die Glotze ab. »Aber dann können wir doch auch gleich wieder ins Lord Nelson gehen. Vielleicht müssen wir da sogar verdammt lange sitzen.«
»Wir können uns ja ablösen«, schlug ich vor. »Mach einen Abstecher in die Stadt. Ich nehme die erste Schicht. Sagen wir, zwei Stunden?«
»Wird sicher ein bisschen langweilig, was? Ich komm jedenfalls erst mal mit dir und trinke eine Tasse Kaffee. Und dann sehen wir weiter.«
Inzwischen hatten sich ziemlich viele Gäste im Lord Nelson eingefunden. Vorhin war ich mit der Wirtin allein gewesen, jetzt hallte das enge Lokal von den verschiedenen Sprachen wider. Schweden und Dänen und Norweger natürlich. Aber auch Deutsche, Engländer und Amerikaner.
Aber kaum hatten wir Kaffee und Cola bestellt, da packte mich der Prof am Arm und sagte: »Da haben wir ihn ja, zum Kranich! Peter! Dein Vater!«
Und richtig. Auf der anderen Straßenseite kam Vater zusammen mit einer Frau in seinem Alter aus dem Torweg. Er sah aus wie immer, ungepflegt und mit zerzausten Haaren, die im Kopenhagener Wind nach allen Seiten abstanden. Die Frau sah eigentlich ziemlich fetzig aus, sie hatte dunkle kurze Haare und eine elegante Frisur, große Ohrringe, vielleicht aus Gold, wahrscheinlich aber nur Modeschmuck, und einen schwarzen Mantel, der teuer aussah. Sie ging mit kleinen, raschen Schritten und wich Pfützen und Hundekacke aus, während Vater wie üblich loslatschte, ohne Interesse dafür, wohin er seine Füße setzte. Er bog einen halben Meter vor ihr um die nächste Ecke, aber es war ganz klar, dass sie miteinander gingen, ganz offenbar waren sie in ein Gespräch vertieft.
Der Prof warf einen Fünfziger auf den Tresen. »Los, Mann! Oder willst du ihn um jeden Preis in der Wohnung stellen?«
Wir liefen los, hielten uns in ausreichender Entfernung. Zu unserem Glück brach ein ordentliches Mistwetter los, Regen und Wind; so ein Wetter, bei dem alle mit gesenktem Kopf loslaufen, statt sich umzusehen.
Sie gingen ungefähr denselben Weg wie der Prof und ich am Morgen, aber als sie die Fußgängerzone halb durchquert hatten, blieben sie plötzlich stehen und redeten noch eine Minute. Dann klopfte die Frau Vater leicht auf die Schulter und verschwand in Richtung Rathausplatz, während Vater nach rechts abbog.
Es war immer noch leicht, ihm zu folgen. Er ging, als ob er sich in seiner eigenen Welt befände, und ich dachte, dass das vielleicht immer so gewesen war. Kannte ich Rolf Pettersen, meinen Vater? Ich wusste es nicht. Mir ging plötzlich auf, dass er einsam sein musste, auch wenn er Mutter und My und mich hatte. Wir drei hatten jedenfalls nichts von den Ideen kapiert, die er jetzt in seiner Ausstellung in die Wirklichkeit umgesetzt hatte. Hatten wir ihn irgendwann mal ermuntert? Nein, hatten wir nicht. Wir hatten, um ehrlich zu sein, Geduld mit ihm gehabt, hatten ihm nach dem Munde geredet, wie einem großen langhaarigen Kind mit Bart, das uns stolz sein neuestes Plastelinprodukt vorführt. Ob er das satt gehabt hatte? Hatte ihn das vielleicht in Maritas wartende Arme getrieben? Vielleicht verstand sie seine Kunst und bewunderte ihn als Mann, der wirklich etwas leistete? Ich fühlte mich so traurig, ja, fast ein bisschen verbrecherisch, als ich ihn jetzt verfolgte.
Ich nahm mich zusammen. Zum Henker! Eine Unterredung, so von Mann zu Mann, musste er ja wohl hinnehmen können! Und wenn wir uns ihm gegenüber noch so idiotisch benommen hatten, hieß das noch lange nicht, dass er sich wie ein Mistkerl aufführen durfte - und das hatte er meiner Meinung nach getan.
An einer Ecke blieb er kurz stehen, während er sich eine Zigarette drehte und anzündete. Dann lief er eine Kellertreppe hinunter und war verschwunden.
Der Keller hatte einen Namen. Die kleine Apotheke hieß der Keller und war in Wirklichkeit ein Restaurant. Man konnte weder hinein- noch hinaussehen, denn in den Fenstern saßen bunte Butzenscheiben, aber eine Speisekarte in einem Schaukasten verriet, dass es hier alles gab, von Heringsgerichten über Tatar und gebackene Schollenfilets bis zu lun leverpostei, was der Prof mit verträumtem Blick mit ‘warme Leberpastete’ übersetzte.
»Ich schlage vor, wir warten«, sagte er. »Er soll sich erst setzen und bestellen, dann ist das Risiko nicht so groß, dass er einfach aufspringt und abhaut.«
»So verrückt ist er ja wohl doch nicht«, meinte ich. »Aber von mir aus!«
»Teufel!« sagte der Prof plötzlich. »Komm her!« Er packte mich am Arm und zog mich in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Ich riss mich los. »Was hast du?«
Der Prof schlüpfte in einen Ladeneingang und zog mich hinter sich her. »Die blonde Pest«, sagte er dramatisch. »Ich habe sie unten auf der Straße gesehen. Und es ist ja wohl nicht sehr schwer zu erraten, wohin sie unterwegs ist.«
»Marita?«
»Genau.«
»Im Grunde ist das ausgezeichnet«, sagte ich. »Sie kann sich gern anhören, was ich zu sagen habe.«
Die Kleine Apotheke erwies sich als Restaurant mit mehreren Räumen. Die Wände waren dunkelgrün und braun gestrichen, und das schuf zusammen mit der niedrigen Decke eine Atmosphäre, die der Prof wahrscheinlich als intim bezeichnet hätte.
Aber ich war ja nicht hergekommen, um Lokale zu bewundern. Ich lief durch das erste Zimmer, wo eine Bande von jungen Typen saß, und ging dann ins zweite. Und da in einer Ecke saßen Vater und Marita, vertieft in ein lebhaftes Gespräch.
Beide blickten gleichzeitig auf. Vater sah aus, als ob ihm unerwartet das Finanzamt auf die Bude gerückt wäre, während Marita ihre Reaktion für sich behielt.
»Sei jetzt nicht zu brutal«, flüsterte der Prof warnend hinter mir.
Ich setzte mich an den Nachbartisch. Die Tische waren hier so klein, dass an jedem nur zwei Leute Platz hatten, aber sie standen so dicht nebeneinander, dass es keine Kontaktprobleme geben würde.
Vater schüttelte den Kopf, und einen Moment lang glaubte ich, in seinem einen Mundwinkel den Schatten eines Lächelns zu sehen. »Das hätte ich mir ja denken können«, murmelte er und schüttelte aus einer zerknüllten Prince-Packung eine Zigarette.
»Hast du … habt ihr … nein, das ist fast zu stark!«
»Ja, nicht wahr?« antwortete ich. »Aber das Allerstärkste war ja doch dein Auftritt in den Nachrichten. Auch die Bullerei war tief beeindruckt darüber, wie schnell du achthundert Meter laufen kannst. Schade, dass wir das nicht auf Video aufnehmen konnten. Aber vielleicht haben die Eltern vom Prof ja schnell genug reagiert.«
Ein Kellner brachte einen Halben und ein Glas Rotwein. Vater nahm einen tiefen Schluck Bier. Der Kellner glotzte mich und den Prof, der immer noch stand, blöde an. »Zwei Cola«, sagte ich.
»Hör mal«, begann Marita.
»Du hältst die Klappe!« fiel ich ihr ins Wort. »Der Prof und ich haben unsere Bankkonten nicht geleert, um uns dein Gesabbel anzuhören. Ich habe meinem Vater einiges zu sagen, es dauert nicht lange, und du kannst dich solange mit Rotwein vollschütten.«
»Du meine Güte!« sagte Vater.
»Genau! Du benimmst dich doch wie ein Teenager! Wenn du mit Mutter fertig bist, dann kann ich nicht viel daran ändern. Aber ich verlange, dass das Ganze ein bisschen anders abläuft. Du kannst nicht einfach ohne ein Wort verschwinden. Was ist mit My? Willst du ihr nicht wenigstens Wiedersehen sagen? Sie fragt dauernd nach dir, und mir fallen einfach keine guten Lügengeschichten mehr ein!« Ich wandte mich jetzt an Marita, und obwohl ich sie gebeten hatte, die Klappe zu halten, fragte ich: »Und was ist mit dir? Was bringt dir das denn, dich so in unsere Familie einzudrängen? Ich sag dir eins: Als Vater noch zu Hause im Keller saß und an Totempfählen herumschnitzte, die kein Mensch haben wollte, haben sich ihm nicht viele Blondinen an den Hals geworfen!«
»O Herrgott!« stöhnte Vater. »Ich muss wohl die Karten auf den Tisch legen, das seh' ich schon.«
Marita trank aus und erhob sich. »Ja. Das hab ich dir ja schon die ganze Zeit gesagt! Du kannst einfach nicht die ganze Welt bluffen, Rolf! Und du hast keinen Grund dazu. Ich hau’ jetzt ab, und ich nehm’ den da mit!« Sie nickte dem Prof zu, der total handlungsunfähig wirkte.
»Ich weiß nicht ...« murmelte er.
»Aber das weiß ich!« sagte sie. Lächelnd fügte sie hinzu: »Versteh doch, die Karten, die Rolf hier gleich hinblättern wird, gehen vor allem Peter was an. Ich kenne hier um die Ecke ein nettes Café. Die beste Lasagne in der Stadt. Nach dem Essen kommen wir wieder her.«
»Tja«, sagte der Prof. »Ich hab ja schon eine Weile nichts mehr in den Bauch bekommen. Und italienisch … was meinst du, Peter?«
»Hau ruhig ab! Wenn du Bock hast, mit der da deine Zeit totzuschlagen, dann ist das zum Glück nicht mein Problem!«
»Also jetzt gehst du zu weit, zum Teufel!« Marita schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du bist gleich so klein mit Hut, das kann ich dir garantieren! Komm!« Sie packte den Prof am Arm.
»Haut ab!« sagte ich.
Sie hauten ab; der Prof mit einem ängstlichen Blick zurück über die Schulter.
Verräter! dachte ich. Judas! Und du willst nicht mal dreißig Silberlinge, dir genügt eine italienische Mantschpasta für dreißig dänische Eier!
»Eins muss hier mal klar sein«, sagte Vater und winkte dem Kellner. »Den Ton da kannst du dir abschminken, wenn du mit deiner Schwester redest!«
Weit weg hörte ich, dass er noch ein Bier bestellte. Und einen doppelten Gammel Dansk.