Auf dem Weg nach Torshov konnte ich den Prof nicht anzapfen. Ich versuchte es auch gar nicht erst richtig. Ich kannte ihn fast so gut wie mich selber, und ich wusste genau, in welcher Stimmung er jetzt war. Wenn der Prof seine Stirn zu einer Ziehharmonika zusammenzieht und starr vor sich hin glotzt, dann bedeutet das, dass er die kleinen Grauen in Betrieb genommen hat. Und dann lässt er sich nur von Erdbeben und Atombomben stören. Ich ging davon aus, dass er irgendetwas wusste, das meiner Aufmerksamkeit entgangen war, und das nervte mich natürlich - aber ich konnte nichts daran ändern. Der Prof brütete, und das Küken würde erst ausschlüpfen, wenn die Zeit um war. Also stopfte ich die Hände in die Tasche und versuchte, lieber an Mädchen zu denken, während wir durch den Regen stapften.
Er hatte sein Zimmer total umgeräumt. Hatte ein neues Bücherregal von IKEA aufgestellt und den Schreibtisch vors Fenster gerückt. Alle Bücher, die auf dem Boden verstreut und an den Wänden aufgestapelt gewesen waren, weil das alte Regal nur hundert Büchern Platz bot, standen jetzt nach dem Alphabet aufmarschiert.
Ich ließ mich aufs Sofa fallen und stieß einen Pfiff aus. »Aufklärung in der Bibliothek? Heißen so nicht die letzten Kapitel in den Krimis von Agatha Christie? Aber echt, du hast deine Bude wirklich gut in Schwung gebracht, Prof! Man kann ja fast schon sehen, dass auf dem Boden ein Teppich liegt!«
Er grunzte eine Antwort und warf sich in den Sessel. In den letzten beiden Jahren war der unbenutzbar gewesen, da er von Zeitungsausschnitten und Zeitschriften überhäuft gewesen war. Sein Archiv. Jetzt hatte der Prof das Archiv offenbar in einen Pappkarton oder so umgeräumt.
»Hab ziemlich Schiss, dass wir noch nicht beim letzten Kapitel angekommen sind«, sagte er mit gedankenschwerer Stimme. »Aber zwei Dinge stehen zumindest fest. Glaube ich wenigstens.«
»Nämlich?«
»Dieses Geräusch, von dem Tante Edith geredet hat.«
»Was soll daran so klar sein?«
»Denk doch mal nach! Diese Typen laufen an Tante Edith vorbei, und gleichzeitig hört sie ein Sausen. Und dann stellen wir fest, dass jemand ein X auf den Rücken ihres Mantels gemalt hat. Ich bezweifle, dass sie lange mit diesem X durch die Gegend gerannt ist.«
»Natürlich!«, sagte ich. »Diese Jungs haben sie mit Farbe besprüht. Und das Sausen kam von der Sprühdose!«
»Nett, dass du auch schon so weit bist.«
»Aber warum hat sie kein Wort davon gesagt, als wir bei ihr waren?«
»Weil sie diesen Zusammenhang nicht kannte. Es muss so gewesen sein: Als sie das Sausen hört, dreht sie sich um.«
»Und kriegt eine reingesemmelt«, fügte ich hinzu.
»Genau. Ob sie sie nun zu Boden schlagen wollten oder nicht. Die Blumen und diese seltsame Karte weisen ja darauf hin, dass das ein Versehen war. Aber jedenfalls fällt sie um, und ich verwette meine Uhr darauf, dass sie auf dem Rücken liegengeblieben ist, bis der Krankenwagen sie holen kam. Die Träger reißen ihr den Mantel vom Leib, ehe sie sie auf die Bahre packen, oder sie legen sie einfach im Mantel darauf. Und in der Eile unten auf der Unfallstation fällt das auch niemandem auf. Die haben doch was anderes zu tun, als zu jammern, weil die Mäntel der Patienten beim Unfall ruiniert worden sind.«
»Alles klar«, sagte ich. »Sagen wir also, es war ein Versehen, dass sie sie zusammengefaltet haben. Vielleicht hat sie sich einfach zu schnell umgedreht und einen Ellbogen auf die Nase gekriegt. Das passiert schnell. Aber das mit dem versauten Mantel war sicher kein Versehen.«
»Nein, war es nicht.«
»Und dann die Frage: warum? Und wer zum Kranich sind die Blauen Wölfe?«
»Genau. Wir haben eine ganze Fragenserie auf zwei reduzieren können. Und da ich glaube, die Antwort auf eine davon zu haben, sitzen wir wohl nur noch mit einer da, der letzten nämlich. Also, wer diese Leute sind.«
»Sag nichts«, bat ich. »Lass mich nachdenken. Du meinst also, du weißt warum?«
»Ja. Denk los! Ich glaube, ich habe einen interessanten Artikel in meinem Archiv.« Er stand auf und zog einen großen Karton voller Artikel und Zeitschriften hervor.
Ich dachte nach. Ich glaube sogar, dass ich sehr gut nachgedacht habe, aber das brachte nichts. Warum zwei Typen einen Mantel ruinieren sollten, konnte ich ganz einfach nicht raffen.
Der Prof wühlte in seinem Archiv.
Schließlich sagte ich: »Es kann doch auch so einfach sein, dass die beiden bloß zwei normale Rowdys sind, die gern Mist machen. Solche Typen gibt’s doch haufenweise.«
»Doch, da hast du schon recht. Aber es kommt verhältnismäßig selten vor, dass solche Rowdys ihren Opfern dann hinterher Blumen schicken. Und wenn es ihnen noch so leid tut. Deshalb glaube ich, dass diese Wölfe etwas ganz Besonderes vorhatten und dass es sie reichlich geschockt hat, was dann mit Tante Edith passiert ist. Und ihr Vorhaben hatte mit ihrem Mantel zu tun. Als Protest.«
»Als Protest? Die Bewegung zur Bekämpfung der Mäntel alter Damen schlägt zu, oder was?«
»Hier ist er«, sagte der Prof und fischte einen Artikel aus dem Archiv, den er offenbar aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. »Nein, so nicht. Diese Leute haben es nicht auf Mäntel allgemein abgesehen.«
Der Artikel war nicht besonders lang, aber mir wurde richtig schlecht von seinem Inhalt. Ganz zu schweigen von den Farbfotos, die es auch noch gab. Eins davon zeigte einen Saal mit Fliesen an der Wand, die mit Blut übersprüht waren. Und überall auf dem Boden lagen alle möglichen toten Tiere. Hunde und Katzen, zwei Schafe und etwas, das aussah wie ein Äffchen. Alle waren aufgeschlitzt oder in Stücke geschnitten. Das Bild hatte eine kanadische Organisation zur Bekämpfung von Tierversuchen aufgenommen, der es gelungen war, in ein Forschungslabor einzubrechen. Im Artikel stand, dass jedes Jahr über vierhundert Millionen Tiere zu Forschungszwecken verwendet werden und dass die meisten unter entsetzlichen Qualen sterben.
Ich gab dem Prof den Artikel zurück. »Ich weiß, worauf du hinaus willst. Das ist doch total zum Kotzen. Aber ist es nicht ein bisschen gewagt, einen Zusammenhang zwischen dem Einbruch dieser Kanadier und der Bemalung von Tante Ediths Pelzmantel zu konstruieren?«
»Doch, das ist schon klar. Aber ich habe einiges über dieses Thema gelesen, als ich vor einem halben Jahr einen Aufsatz darüber geschrieben habe. Bilder wie diese schlagen bei den meisten Leuten ja ein wie Bomben. Und das ist gut so. Überall auf der Welt schließen sich immer mehr Leute zusammen, um zahme und wilde Tiere vor Ausrottung und Misshandlung zu beschützen. Es gibt Hunderte von solchen Vereinen und Gruppen. Ich hab diesen Artikel nur herausgesucht, um dir eine Vorstellung davon zu geben, in welcher Perspektive wir diesen Fall zu sehen haben. Ich meine, ein Haufen von diesen Organisationen ist natürlich total in Ordnung.
Ich kapier verdammt noch mal nicht, wer es über sich bringt, einen Hund oder eine Katze zu Tode zu quälen. Könnte ohne Weiteres in eine Organisation wie diese kanadische eintreten. Aber es gibt auch reichlich bescheuerte Leute dabei. Vor einiger Zeit haben in England Leute von einer Tierschutzorganisation ein Baby in die Luft gesprengt. Eigentlich wollten sie die Karre von einem Wissenschaftsterroristen in die Luft hüpfen lassen. Aber zum Henker, wenn man mit Dynamit spielt, weiß man doch, dass so was passieren kann!«
»Geschenkt, geschenkt, geschenkt! Aber hier geht es doch um einen Pelz. Tante Edith ist bestimmt keine besonders aktive Tierquälerin. Sie hat doch sogar drei Katzen und einen schwachsinnigen Köter, und sie behandelt sie allesamt wie ihre Kinder.«
»Ja«, sagte der Prof. »Aber ich habe über Organisationen in anderen Ländern gelesen, die sich darauf spezialisiert haben, den Leuten ihre Pelze zu versauen. Sie finden, Tiere in kleinen Käfigen zu halten und sie nur in aller Eile groß zu füttern, um sie dann umbringen und zu Mänteln verarbeiten zu können, wäre dasselbe wie Tierquälerei.«
»Und da haben sie sicher auch recht«, sagte ich. »Und Greenpeace und solche Leute wollen den Robbenfang stoppen. Was hat sie denn eigentlich für einen Pelz?«
»Keine Ahnung. Ich kenn mich nicht aus mit Pelzen.«
»Ja, ja, das finden wir schon noch heraus. Aber du und ich, wir lesen doch beide pro Tag mindestens eine Zeitung, und ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, auch nur eine Zeile über diese Blauen Wölfe gelesen zu haben. Und solche Organisationen bekennen sich nachher doch immer zu ihren Aktionen. Um ihre Ziele bekanntzumachen, sozusagen.«
»Genau. Aber das hier kann ja etwas ganz Neues sein. Und weder du noch ich haben die Zeitungen von morgen schon gelesen.«
Ich schlug dem Prof vor, seinen Bruder anzurufen. Gøran, der beim Dagbladet arbeitete, war aber wegen einer anderen Sache in Thailand.
»Außerdem können wir heute Abend ohnehin nicht mehr viel tun.«
»Tun?«, fragte ich. »Jetzt haben wir die Nuss doch geknackt. Was sollen wir denn jetzt noch machen?«
Er sah mich überrascht an. »Diese Leute finden, natürlich. Sie haben Tante Edith auf offener Straße niedergeschlagen. Haben ihr das Knie zermatscht. Und du fragst, was wir machen sollen? Himmel!«
Ich sagte nichts dazu. Der Prof und ich hatten zweifellos einige Nüsse zusammen geknackt, waren in Sachen hineingeschlittert, die sogar die Aufmerksamkeit der Presse erweckt hatten. Aber diesmal würde es schwieriger sein als sonst, eine Lösung zu finden. Und ich war gar nicht sicher, ob ich diese Typen unbedingt finden wollte. Das mit Tante Edith war natürlich übel. Aber warum zum Henker sollen Massen von Tieren im Gefängnis sitzen, damit sie im Pelz herumstolzieren konnte? Konnte sie nicht genauso gut etwas anderes anziehen? Wenn die beiden Typen ihren Mantel ruiniert hatten, um die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass auf der ganzen Welt Tiere zu Tode gequält wurden, dann … zum Henker, ich konnte sie verstehen! Und ich war mir ziemlich sicher, dass der Prof mir total zugestimmt hätte, wenn nicht gerade seine Tante so böse auf die Nase gefallen wäre.
Aber ich sagte nichts. Ein einziger Blick auf den Prof verriet mir schon, dass er sich voll in die Idee verbissen hatte, diese beiden Typen zu finden. Und wenn ich mir das überlegte, dann bestand ja doch nur eine minimale Chance, dass uns das gelingen könnte. Oslo ist ja trotz allem etwas größer als irgendein Kaff, in dem jeder jeden kennt.
Jeden kennt … irgendetwas an diesen Worten brachte mich auf etwas äußerst Wichtiges. Etwas, das der Prof bei seiner reichlich aufgeblasenen Aufklärung ganz übersehen hatte. Ich sagte: »Ich geh ins Bett. Aber wir haben etwas Wichtiges vergessen. Eine Frage gibt es jedenfalls noch, die geklärt werden muss.«
Er glotzte mich an. Er hörte nur ungern, dass ausgerechnet Prof Erlandsen etwas vergessen haben könnte. »Was meinst du?«
Ich stand auf. »Wie haben diese Typen Tante Ediths Namen herausgefunden? Und wie zum Henker haben sie festgestellt, in welchem Krankenhaus sie liegt? Letzteres wäre ja nicht so schwer gewesen, wenn sie sie gekannt hätten, dann hätten sie ja einfach herumtelefonieren können. Aber sie kannten sie nicht. Jedenfalls kannte Tante Edith die Typen nicht. Meinst du, sie können schon längere Zeit hinter ihr her spioniert haben, bloß wegen einer so einfachen Operation? Das wirkt überhaupt nicht wahrscheinlich.«
Der Prof schüttelte langsam den Kopf. »Richtig, Peter. Es wirkt geradezu unwahrscheinlich, dass sie ihr nachspioniert haben. Da hast du mir wirklich eine Nuss gegeben, mit der ich mich heute Nacht amüsieren kann.«