Ich hatte mehr als genug zu bedenken, als ich wieder in der Straßenbahn saß. Aber ich muss zugeben, dass eine gewisse Blondine die Blauen Wölfe weit in den Hintergrund gedrängt hatte. Vater hatte nichts gesagt, als ich gegangen war, aber er hatte mich mit einem Blick angesehen, der mich geradezu anflehte, Mutter gegenüber nichts zu erwähnen. Das hatte ich auch nicht vor. Aber wie sollte ich ihr da in die Augen sehen? Sollte ich einfach sagen, ich hätte Vater im Atelier angetroffen? Nein. Ich wusste immerhin, dass Lügen sich nur lohnten, wenn es absolut notwendig war. Ich würde sagen, dass ich ihn im Haus gefunden hatte, und ich würde so tun, als ob ich an seinem Tisch auch nicht ein einziges blondes Haar gesehen hätte. Und dass Leffy behauptet hatte, dass nicht er letzte Nacht Vater angerufen hätte, wollte ich auch für mich behalten.
Nicht mein Problem, dachte ich. Immer werde ich in Probleme verwickelt, in denen andere gerade stecken. Aber wenn diese Sache so übel ist, wie sie aussieht, dann hänge verdammt noch mal auch ich mit in der Soße.
Und wer hält dann zu Peter Pettersen?
Der Prof?
Sicher. Aber genauso sicher war, dass der Prof in der nächsten Zukunft hauptsächlich auf Wolfsjagd gehen würde.
Ich fühlte mich einsam. Ich wusste nicht, zu wem ich mit diesem Gefühl gehen sollte.
Der Prof spritzte gerade den Hof, als ich nach Hause kam. Er stand da in Gummistiefeln und Regenhose und richtete den harten Strahl erbarmungslos auf jedes Blatt und jedes Staubkorn, die der Wind zu uns hereingefegt hatte.
»Hallo, wo hast du denn gesteckt?« Er ging zum Hahn hinüber und drehte das Wasser ab.
Ich erzählte es ihm. Ich lieferte ihm die Version, die ich für Mutter zurechtgelegt hatte. »Muss sofort die Schlüssel raufbringen. Sie kaut sicher schon Nägel.« Ich sah auf die Uhr. »In einer Stunde muss sie an der Kasse sitzen.«
»Komm danach zu mir runter. Ich muss dir was zeigen.«
»Tu nicht so geheimnisvoll, du Pappnase! Gibt’s was Neues über die Wölfe?«
»Jawohl. Jetzt haben sie ihre Schnauzen aus dem Bau gesteckt. VG hat einen Artikel über sie. Die Abendausgabe von Aftenposten. Zehn Minuten. Ich roll bloß schnell den Schlauch auf.«
Verdammt, dachte ich. Jetzt geht’s richtig los.
Der Inhalt der drei Artikel war ungefähr derselbe. Drei verschiedene Frauen waren in der Gegend von Majorstua/Frogner überfallen worden. Alle im Pelz, alle mit blauer Farbe besprüht. Bei allen war ihr voller Name angegeben, und VG brachte ein Foto von einer von ihnen. Sie stand mit offenem Mund auf der Straße und zeigte dem Journalisten und dem Fotografen ihren ruinierten Nerz. Kurz nach dem letzten Überfall hatte eine Gruppe, die sich die Blauen Wölfe nannte, bei VG angerufen und sich zu dieser Aktion bekannt. Sie wollten die Öffentlichkeit auf die entsetzlichen Verhältnisse aufmerksam machen, unter denen Pelztiere lebten. Nerze und Blaufüchse und andere Tiere, die in engen Käfigen gezüchtet und durch elektrische Stöße in den Hintern umgebracht wurden. Aber die Blauen Wölfe waren genauso sauer auf Leute, die in Pelzen von freilebenden Tierarten herumstolzierten. Viele von diesen Arten waren durch die Eitelkeit der Leute vom Aussterben bedroht.
Beide Zeitungen stellten die Frage, ob es jetzt auch bei uns sogenannten ‚Umwelt-Terrorismus‘ geben würde. In Deutschland, das erzählte VG, hatten verschiedene Gruppen bereits eine Reihe von Sabotageaktionen gegen umweltgefährdende Objekte ausgeführt. Außerdem berichteten sie auch von dem Fall, den der Prof erwähnt hatte, nämlich von der misslungenen Aktion in England, bei der eine Tierschutzgruppe ein Baby getötet hatte. Außerdem hatte VG eine kurze Telefonumfrage bei allerlei Norwegern veranstaltet, die in solchen Fällen immer irgendeine Meinung hatten. Alle hatten Verständnis für das ‚Engagement der Jugend‘, und alle distanzierten sich aufs Schärfste davon, Pelze mit Farbe zu besprühen.
»Tja«, sagte der Prof. »Mir fällt ja eins auf, wenn ich das hier lese.«
»Mir auch«, antwortete ich. »Nämlich, dass keine von diesen Frauen deine Tante ist.«
Er nickte. »Ich glaube, wir können daraus schließen, dass diese Leute Tante Edith absolut nicht verletzen wollten. Aber dann ist es eben passiert. Offenbar sind sie gar nicht scharf darauf, dass ihr Name mit dieser Aktion in Verbindung gebracht wird.«
»Das ist doch sympathisch, oder? Und ich pfeife auf versaute Pelze. Außerdem stimmt sicher alles, was sie über die Verhältnisse sagen, unter denen diese Viecher leben.«
»Ich finde, du denkst nicht weit genug«, sagte der Prof. »Ja, sei jetzt nicht sauer, ich meine nicht, du wärst blöd oder so. Aber wenn sich Tante Edith nun den Schädel gebrochen hätte statt der Kniescheibe? Gut, dann war sie tot, sagen wir’s mal so. Null Problem für sie. Aber was ist mit den Leuten, die daran schuld sind? Die werden dann eingebuchtet, genau wie die Nerze, die sie befreien wollen. Und sie sind wahrscheinlich bloß ein paar Jahre älter als wir, Peter. Ich glaube einfach nicht, dass denen richtig klar ist, was sie da tun. Jedenfalls nicht, was das für Folgen haben kann. Oder meinst du, ein Mensch hält es im Käfig besser aus als ein Blaufuchs?«
»Du hast ja sicher recht«, antwortete ich. »Aber was hast du eigentlich vor? Dass wir diese Wölfe aufspüren, um sie vor sich selber zu retten? Sollen wir wie zwei kühne Pfadfinder antanzen und ihnen was über Gesetz und Ordnung erzählen? Da würden sie sich vor Lachen doch in die Hose machen. Und ich bin auch gar nicht so sicher, ob mir diese Rolle passt.«
Er sah mich mit einem Blick an, den ich einfach nur unglücklich nennen kann. »Nein, da hast du schon recht. Es ist nur, dass …«
»Es ist nur, dass zufällig deine Tante unter ihnen leiden muss«, sagte ich hart.
»Nein, da irrst du dich, Peter! Ich meine … es war so. Zu Anfang. Jetzt … ich weiß nicht. Einerseits meine ich wirklich, dass diese Leute mit den falschen Mitteln kämpfen. Und andererseits … ja, ich finde das einfach total spannend.«
Wir prusteten beide gleichzeitig los.
Ich war erleichtert.
Und ich glaube, der Prof auch.
»Alles klar«, sagte ich. »Versuchen wir also herauszufinden, wer diese Wölfe sind. Aber wenn wir das schaffen, dann bedeutet das nicht, dass wir gleich Bullerei und Zeitungen anrufen.«
»Abgemacht. Wenn sie inzwischen noch niemanden abgemurkst haben, wohlgemerkt. Und wir haben etwas, das die Bullerei nicht hat. Wir haben Tante Edith.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber was zum Kranich wollen wir von der?«
»Als ich heute Zeitungen gelesen habe, hätte ich am liebsten VG angerufen und erzählt, dass Tante Edith wegen der Blauen Wölfe im Krankenhaus liegt. Aber zum Glück habe ich mir das anders überlegt - und damit die tausend Eier Belohnung für einen guten Tipp eingebüßt. Aber okay, das muss ich eben schlucken. Tante Edith hat das alles nicht gerafft. Ich habe ihren Mantel geholt, aber ich habe ihn hierher mitgenommen. Wir haben ihr nur erzählt, er sei ruiniert, und damit hat sie sich zufriedengegeben. Meine Eltern haben den Zusammenhang natürlich geschnallt, aber das spielt keine Rolle, die halten dicht. Mein Vater hat übrigens vorgeschlagen, Tante Edith lieber nichts zu sagen. Und wenn sie die Zeitungen gelesen und zwei und zwei zusammengezählt hat, dann spielt auch das keine Rolle. Wichtig ist, dass sie nicht die Art Mensch ist, die unbedingt ihr Gesicht in der Zeitung sehen will. Sie wird keinen Journalisten anrufen, um ihm zu erzählen, was ihr passiert ist. Und damit weiß auch die Bullerei nicht, ob Tante Edith etwas mit dem Fall zu tun hat. Sie waren zwar im Krankenhaus und haben ihre Aussage aufgenommen, aber wenn ich mich nicht sehr irre, dann liegt die ganz unten in einem riesigen Stapel von Papieren. Dass eine alte Dame eins auf die Mütze kriegt, ist in dieser Stadt hier ja nichts Besonderes, und da nicht mal eine müde Krone geklaut worden ist, bedeutet das wahrscheinlich, dass die Bullen die ganze Angelegenheit schon vergessen haben.«
»Immer muss ich dich bitten, zur Sache zu kommen«, sagte ich. »Immer musst du Vorträge halten. Was nützt uns das, was wir über Tante Edith wissen?«
»Das ist doch einfach.« Der Prof grinste. »Wir werden die Wölfe durch sie finden. Da sie sie durch ihren Namen ausfindig gemacht haben, muss es auch umgekehrt möglich sein. Diese Gruppe durch Tante Edith zu finden, meine ich. Irgendwo muss es einen Zusammenhang geben. Da haben sie ganz einfach einen dicken Patzer gemacht! Dieser Blumenstrauß wird ihnen den Hals brechen.«