Neue Spuren

Wir hatten uns für eine neue Runde mit Tante Edith entschieden, um noch mehr aus ihr herauszuschütteln. Vor allem der Prof bestand darauf, er meinte nämlich, dass man immer viel mehr beobachtet, als einem klar ist, wenn man in einen Kriminalfall verwickelt wird. Dazu hatte ich lieber nichts gesagt. Ich wusste, woher er diese Ansicht hatte, aus Kriminalromanen nämlich. In Krimis wuseln die Bullen immer auf Jagd nach Details durch die Gegend, also nach allem, was die Zeugen für unwichtig halten oder was überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat, was sich dann aber als entscheidend für die Aufklärung des Mysteriums erweist.

Und natürlich war es ja vielleicht auch in Wirklichkeit so, aber ich glaubte ehrlich gesagt nicht daran. Nach meiner Ansicht hatte Tante Edith uns alles erzählt, was sie wusste. Ich hatte vorgeschlagen, lieber einen Blick auf ihre Nachbarn zu werfen, herauszufinden zu versuchen, ob sie Tiere liebten, um es mal so zu sagen, aber der Prof hatte nur geschnaubt.

Ich hatte nachgeben müssen, denn schließlich hatte ich es für wenig wahrscheinlich gehalten, dass Tante Ediths Salto das Ergebnis von Planung oder Spionage gewesen war.

Aber ehe wir Tante Edith besuchten, warfen wir einen Blick auf die Tatorte. In Jacob Aalls gate wies nichts darauf hin, dass hier die Tante vom Prof auf die Nase gefallen war. Ich weiß auch nicht, was wir eigentlich suchten - es war trotz allem sehr wenig wahrscheinlich, dass sie im Fallen den Asphalt eingebeult hatte.

»Ist das nicht Zeitverschwendung?«, fragte ich. »Und kalt ist es auch.« Es war halb sechs Uhr abends, und ein Wind, der sich durch die Straße schlich, erzählte uns, dass der Winter bald zu Besuch kommen würde.

»Das kann man nie wissen«, sagte der Prof und zog sich den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch. »Natürlich gibt es hier nicht viel zu holen. Aber trotzdem weiß man nie … ich finde, es ist interessant sich anzusehen, wo etwas passiert ist. Man kann sich dann leichter hineinversetzen. Gehen wir doch mal zur Odinsgate. Da ist die andere Frau im Pelz doch fotografiert worden. Wir können von dort mit der Straßenbahn in die Stadt fahren.«

Wir gingen.

»Bisher haben sie nur hier im Westend zugeschlagen«, sagte ich. »Warum eigentlich?«

»Weiß nicht. Wahrscheinlich gibt’s hier mehr Pelze als in Ost-Oslo. Außerdem haben sie doch gerade erst angefangen. In diesem Herbst werden wir noch viel mehr von diesen Typen hören.«

 

Das Foto in VG war vor einem kleinen Lebensmittelladen in Odinsgate aufgenommen worden. Natürlich war auch hier rein gar nix zu sehen. Nur Straße, Bürgersteig, parkende Autos und einige wenige Menschen.

»Ja, ja«, sagte der Prof und kratzte sich am Kopf. »Das hat ja wohl nicht viel Sinn. Aber ich muss kurz in den Laden und mein Dropslager auffüllen, ehe wir in die Stadt fahren.«

Er hielt auf den Laden zu, und ich folgte ihm. Ich wollte ja nicht mal einen halben Kaugummi kaufen, aber ich hatte vor, jede Gelegenheit auszunutzen, um dem beißenden Wind zu entkommen.

Wir waren die einzigen Kunden. An der Kasse saß eine dürre, alte Frau.

Der Prof nahm sich eine Tüte Zitronendrops vom Ständer und wühlte in seinen Taschen nach Geld. »Wenig zu tun im Moment?«

Die Frau sah ihn blöde an.

»Vorgestern ist meiner Tante hier draußen ihr Pelz ruiniert worden«, log der Prof. »Meinen Sie, die Bullen kümmern sich um den Fall?«

Jetzt erwachte ihr Interesse. Geradezu hellwach.

»Die Polizei!«, schnaubte sie. »Bald kann man in dieser Stadt doch machen, was man will! Die Pöbelherrschaft nimmt überhand. War das wirklich deine Tante? Ja, ich habe alles gesehen. Das heißt … nachdem es passiert war. Die Arme, sie war ja ganz untröstlich. Der teure Pelz! Wir haben sie in den Laden gebracht, bis die Polizei kam. Ja, sie haben wohl eine Aussage aufgenommen, aber ich weiß nicht … wenn sie Rauschgift und Neger ins Land strömen lassen, ohne einen Finger zu rühren … ja, nicht, dass mich das etwas angeht, aber ...«

Genau, dachte ich.

»Wir würden diese Typen so gern zwischen die Finger kriegen«, sagte der Prof. »Sie haben nicht zufällig etwas gesehen, das … das vielleicht wichtig sein kann?«

»Nein. Das hat mich die Polizei ja auch schon gefragt, aber ich kann nur bedauern. Wenn ich hier an der Kasse sitze, kann ich meine Augen ja nicht überall haben. Wie gesagt, oft habe ich mehr als genug damit zu tun, zweifelhafte Gestalten im Auge zu behalten, die sonst vielleicht irgendwas in die Tasche stecken.« Sie sah leicht skeptisch zu mir herüber.

»Aber ich habe gehört, wie die arme Frau da draußen aufschrie. Und dann haben wir uns ja um sie gekümmert.«

»Waren viele Leute dabei, als es passiert ist?«, fragte der Prof.

»Nein. Sicher haben sie deshalb gerade hier zugeschlagen. Gegen zwei Uhr nachmittags ist hier nicht viel Verkehr.«

»Ja, ja«, sagte der Prof und warf ein Bonbon ein. »Wollen wir hoffen, dass die Bullerei tüchtiger ist, als Sie glauben. Vielen Dank für die Auskünfte.«

Wir gingen hinaus. Irgendwer hatte um einen Fahrradständer an der Wand einen rostroten Schal gebunden. Es war übrigens kein richtiger Schal, sondern so ein fesches Teil, das manche Leute einfach schrecklich gern am Hals haben. Aus einem seidigen Stoff.

Ich ließ den Schal durch meine Fingerspitzen gleiten. »Ist das hier vielleicht kein fettes Detail, Prof?«

»Glaub ich nicht. Aber wer weiß? Leute, die ihren Schal oder ihre Mütze verlieren, sind normalerweise ziemlich im Stress. Und die, die das hier gemacht haben, hatten es danach garantiert ganz schön eilig. Nimm ihn mit.«

Ich löste den Knoten und roch am Stoff. Er roch aber nach rein gar nichts. »Und was, wenn er der Überfallenen Frau gehört?« »Dann hat sie ihren Mantel und ihren Schal eingebüßt.« Die Straßenbahn kam angescheppert. Wir liefen los.

 

Tante Edith lag noch an derselben Stelle wie bei unserem letzten Besuch. Aber sie war genauso munter. Wir setzten uns jeder auf einen Stuhl und redeten ein bisschen Schwachsinn, bis der Prof beschloss zur Sache zu kommen. Unterwegs hatten wir uns für eine andere Taktik entschieden. Wir mussten davon ausgehen, dass Tante Edith Zeitungen las, und wir glaubten nicht, ihr einreden zu können, dass wir das nicht auch taten.

»Ich nehme an, du weißt jetzt, wer dich umgeschmissen hat«, sagte der Prof. »Du hast ja wohl über die Blauen Wölfe gelesen.«

»Ja, darüber denke ich schon die ganze Zeit nach«, antwortete sie. »Schließlich haben die mir doch diese wunderschönen Blumen geschickt.«

»Ja. Und sie haben auch deinen Pelz ruiniert«, sagte ich.

Der Prof fügte hinzu: »Wir wollten es dir zuerst nicht sagen, weil wir fanden, du hättest ohnehin schon Sorgen genug. Aber auch dein Mantel war mit blauer Farbe besprüht, genau wie es in VG steht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Stimmt das wirklich? Und dann schicken sie mir nachher Blumen?«

»Sie wollten dich wohl nicht verletzen«, antwortete ich. »Physisch, meine ich.«

»Was ist eigentlich aus der Bullerei und deiner Aussage geworden?«, fragte der Prof. »Hast du das mit den Blumen erwähnt?«

Sie lachte. »Nein, diese Jungs interessierten sich nicht so sehr für Rosen. Nett und höflich waren sie, aber sie hatten es ja so eilig. Nein, das mit den Blumen habe ich ganz einfach vergessen. Sie interessierten sich vor allem für meinen Namen und meine Adresse. Obwohl ich das der Polizei mindestens zweimal gesagt hatte, als wir da oben auf den Krankenwagen warteten.«

»Das ist ja interessant«, meinte der Prof.

»Dass ich der Polizei erzählt habe, wie ich heiße?«

»Ich glaube, du musst das auch noch anderen erzählt haben, du warst doch sicher nicht allein mit der Polizei? Ich meine, du hast gesagt ...«

»Nein, bist du verrückt? Es stand doch ein ganzer Kreis von Leuten um mich herum, ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so verlegen gewesen.«

»Ich bin bloß auf diesen Gedanken gekommen, weil es doch seltsam ist, dass die Blauen Wölfe deinen Namen kannten. Wenn sie den nicht gewusst hätten, hätten sie dich doch nicht finden und dir die Blumen schicken können.«

»Nein, jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, was ich sagen soll! Man sollte meinen, ich hätte mir den Kopf verletzt und nicht das Knie. Daran habe ich wirklich noch gar nicht gedacht. Aber … nein. Diese Jungs waren doch über alle Berge, da bin ich ganz sicher.«

»Ja«, erwiderte der Prof. »Aber wer sagt denn, es wären nur zwei Leute an dieser Aktion beteiligt gewesen?«

Er sah mich an.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe jedenfalls kein Wort über diese Kiste verraten.«