Wir rücken Leffy auf die Pelle

In dieser Nacht schlief ich keine Sekunde. Und als ich am nächsten Morgen aufstand, war ich so tief im Tran, dass Mutter vorschlug, ich sollte lieber zu Hause bleiben. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Als ich zwei Stunden im Wohnzimmer hin- und hergelaufen war, überkam mich der Schlaf fast wie ein Schlag auf den Hinterkopf. Ich konnte mir gerade noch Hose und Hemd ausziehen, ehe ich in ein Meer aus Träumen und warmer Dunkelheit stürzte.

Ich weiß nicht mehr, was ich geträumt habe. Erinnere mich nur an ein paar vage, verschwommene Bilder, die ich nicht beschreiben kann. Aber irgendwie musste mich das, was ich im Traumland erlebt hatte, stocksauer gemacht haben. Jedenfalls erwachte ich mit einer Wahnsinnswut! Ich hatte Lust, mich über irgendwen herzumachen - egal wen! Treten und schlagen. Lag halbwach da und wünschte mir, irgendein Blödmann würde den Kopf zur Tür hereinstecken und etwas Doofes sagen.

Es klopfte.

Jetzt!, dachte ich.

Aber als ich Klein-Mys winziges Köpfchen in der Tür erblickte, mit zwei veilchenblauen, fragenden Augen, war meine Wut gleich verflogen.

»Wo ist Papa?«, fragte sie. »Warum schläfst du jetzt?«

Ich sah auf die Uhr. Halb zwei. »Papa ist auf Safari«, antwortete ich und setzte mich im Bett auf. »Er ist losgezogen, um Löwen und Zebras und Geier und Hyänen zu schießen. Und für dich ein Gnu.«

»Gnu?« Sie setzte sich auf die Bettkante.

Ich streichelte ihre Wange. »Ja, ein Gnu.«

»Du bist krank«, sagte sie ernst. »Deshalb schläfst du mitten am Tag.«

»Ich war krank«, korrigierte ich. »Aber als ich dich gesehen habe, war ich sofort gesund. Und jetzt stehe ich auf und esse eine Tonne Tomatenmakrelen. Und trinke tausend Liter Milch.«

Sie sah mich entsetzt an.

Ich zog mich an und ging in die Küche. In der Diele konnte ich hören, dass Mutter mit irgendwem telefonierte, sicher mit irgendeiner Freundin. My setzte sich erwartungsvoll an den Tisch, um zu kontrollieren, wie viel Brot und Milch ich mir einverleibte.

Ich aß schnell. Ich hatte einen Plan.

Als ich aß, überkam mich wieder diese seltsame Wut. Ja, das fand ich ziemlich seltsam, denn eigentlich bin ich gar nicht so ein Zornteufel. Aber der Grund von allem waren natürlich Vaters blöde Touren. Ich hatte durchaus nicht vor, ihm mit einem kurzen Anruf zu Hause davonkommen zu lassen!

Wie gesagt, ich hatte einen Plan. Oder vielleicht eher eine Idee, wo ich anfangen könnte, nach Vater zu graben. Denn ich wollte mit ihm sprechen. Oder mindestens zu ihm.

Mutter saß immer noch am Telefon und sagte in regelmäßigen Abständen »ja« und »genau«, als ich zu meiner Jacke griff. Sie sah mich fragend an, und ich signalisierte, dass ich in ein paar Stunden zurück sein würde.

Auf der Treppe traf ich den Prof. Er kam mit der Schultasche auf dem Rücken angekeucht.

»Peter? Bist du denn nicht krank? Ich …«

»Ich bin krank«, erwiderte ich und drängte mich an ihm vorbei.

»Aber dann hör mir doch zu! Ich habe mir gedacht, die Blau…«

»Ich habe deine Wölfe zum Kotzen satt. Ich hab schließlich noch was anderes zu tun, was verdammt noch mal viel wichtiger ist. Und jetzt muss ich weiter!«

Noch ehe ich über mir auf der Treppe seinen verletzten Blick sah, bereute ich meine harten Worte. Aber ich konnte jetzt einfach nicht stehenbleiben und Erklärungen runterleiern. Es war so, als ob ich Klaustrophobie hätte, ich musste raus, brauchte Luft.

Die Ateliertür war abgeschlossen. Ich trat und klopfte, bekam aber null Antwort.

Damit hatte ich gerechnet. Vater heute hier zu finden, wäre zu einfach gewesen, trotz allem war er ja nicht direkt bescheuert. Dass ich überhaupt hier vorbeischaute lag daran, dass das Atelier auf dem Weg lag - auf dem Weg zu Leffys Bude.

Solange ich mich erinnern konnte, wohnte Leffy in einer Winzwohnung in einer schmalen Straße namens Hjelms gate. Die Straße bog ein Stück unterhalb von Majorstua von Bogstadveien ab. Der Name Hjelms gate war vor allem wegen eines roten Holzhauses in einem Garten bekannt - denn hier hausten die Anarchos und ihre Zeitschrift Gateavisa. Von hier aus hatten sie versucht, ihre verrückten Ideen im Land zu verbreiten, zuerst irgendwann in den Sechzigern mit einer hektographierten Postille, jetzt mit vierfarbigem Umschlag und scharfem Layout. Manchmal las ich ein bisschen in ihrer Zeitschrift, ich war irgendwie damit aufgewachsen, mein Vater war von Anfang an fester Abonnent gewesen.

Aber jetzt eilte ich am roten Holzhaus vorbei und registrierte nur vage, dass irgendwer in dieser Hütte donnernden Rock spielte.

Leffy hatte sich keine Türklingel zugelegt, und deshalb musste ich in den dritten Stock hochlatschen und mit der Faust gegen die Tür hämmern um festzustellen, ob jemand zu Hause war. Er hatte zwar Telefon, aber ich hatte ihn nicht anrufen wollen. Am Telefon kann man nämlich leichter lügen als von Angesicht zu Angesicht.

Die Tür wurde aufgerissen. Und vor mir stand eine der tollsten Frauen, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Kohlschwarze, schulterlange Haare. Knallblaue Augen, eingerahmt von dunklen Kajal-Strichen. Sie trug eines von Leffys Arbeitshemden - und sonst nichts. (Das heißt, sie konnte gut unter dem langen Hemd eine Unterhose anhaben, das konnte ich ja nicht überprüfen.) Ich hatte zwar im Laufe der Jahre einige von Leffys Freundinnen kennengelernt, aber von dieser hier hatte ich nicht einmal gehört.

»Hei!«, sagte ich. »Kann ich … ist Leffy da?«

Sie lächelte und öffnete die Tür ganz. »Sitzt auf dem Wohnzimmerboden und kämpft mit viertausend Pappstücken. Komm rein!«

Ich verstand nur Bahnhof. Viertausend Pappstücke?

Leffys Bude bestand aus Küche und Wohnzimmer und einem engen Schlafalkoven. Mitten auf dem Boden saß Leffy und trank Pils und legte ein Puzzlespiel. Er war ungefähr halb fertig mit dem Bild eines Segelschiffes im Sturm.

»Hei, Peter«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Wie geht’s? Frag mich nicht dasselbe wie alle anderen. Frag mich nicht, wie eine Schönheit wie Ragnhild bei einem alten Kerl wie mir enden konnte, ja?«

»Alles klar!« Ich setzte meinen rechten Stiefel mitten in ein tosendes Meer. Er sah mich mit unsicherem Gesicht an. »Außerdem weißt du verdammt gut, dass ich dir ganz andere Fragen stellen will.«

»Möchtest du einen Tee?«, hörte ich aus der Küche. »Heißt du nicht Peter?«

»Nein, danke«, sagte ich.

»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Leffy. »Du siehst ja ganz schön sauer aus, finde ich.«

»Vater ist abgehauen!«, sagte ich. »Und ich glaube, das ist dir nicht ganz neu!«

»Nicht so laut!«, fauchte Leffy. »Zieh Ragnhild nicht mit …«

Aber Ragnhild stand schon mit verschränkten Armen in der Tür. »Wo soll ich nicht mit reingezogen werden, Leffy?«

»In gar nichts«, antwortete Leffy und trank einen Schluck.

»Mein Vater ist mit einer Frau abgehauen«, sagte ich. »Und ich muss mit ihm reden, ehe meine Mutter in Auflösung übergeht.«

»Peter ist Rolfs Sohn«, erklärte Leffy. »Verdammt, jetzt machst du mir ganz schön viel Ärger, Peter. Wenn du wüsstest, wie wütend Ragnhild werden kann.«

»Was ist das denn hier für ein Blödsinn?«, fragte Ragnhild. »Rolf war doch gestern Nachmittag noch hier.«

»Kann schon sein«, antwortete ich. »Aber gestern Abend hat er ziemlich spät bei uns zu Hause angerufen und erklärt, er würde sich eine Zeit lang dünnmachen. Und irgendein Frauenzimmer hat die ganze Woche hinter ihm her telefoniert. Ich will mich ja nicht in seine Liebschaften einmischen, aber ich verlang eine etwas klarere Auskunft darüber, was er macht, als dass er ‚Zeit zum Nachdenken‘ braucht. Verdammte Pest, ich hab eine kleine Schwester von vier Jahren. Und ich muss mir Lügengeschichten darüber aus den Fingern saugen, wo der Alte sich rumtreibt.«

Leffy ließ seinen verzweifelten Blick von Ragnhild zu mir und wieder zurück wandern. »Nun seht mich doch nicht so an! Das ist doch zum Henker nicht meine Schuld! Rolf ist ein erwachsener Mann, und ich bin wirklich nicht sein Kindermädchen.«

»Du bist gegen fünf zusammen mit Rolf von hier weggegangen«, sagte Ragnhild. »Du kannst Peter und mir doch erzählen, was ihr danach unternommen habt.«

Leffy setzte sich an den Tisch und musterte ausgiebig das Etikett auf seiner Flasche. »Wir sind zu Lorry gegangen. Haben ein paar Bier gezischt.«

»War dieses blonde Model auch dabei?«, fragte ich.

»Nein, da waren überhaupt keine Models«, antwortete Leffy mit freudlosem Lachen. »Weder blonde noch dunkle.«

Ich setzte mich auch. »Versteh mich nicht falsch, Leffy! Ich will dir doch keine Vorwürfe machen. Aber verdammt nochmal, ich will Vater finden. Und da ist es das Natürlichste, zuerst zu dir zu kommen. Weißt du, wo er ist?«

Er sah mir voll in die Augen. »Nein, das weiß ich wirklich nicht, Peter. Das musst du mir glauben!«

Ragnhild schnaubte.

Aber ich glaubte Leffy, wenn er sagte, er wüsste nicht, wo Vater war. Das bedeutete aber noch nicht, dass er alles gesagt hatte, was er über diesen Fall wusste.

Zu dieser Erkenntnis war offenbar auch Ragnhild gekommen.

»Du willst uns doch wohl nicht erzählen, Rolf hätte nicht mal erwähnt, dass er seine Familie sitzenlassen wollte, als ihr gestern bei Lorry Bier getrunken habt? Ich hoffe ja doch, du hältst uns nicht für so blöd, Leffy!«

»Aber er hat nichts davon gesagt! Jedenfalls nicht, dass er sich dünnmachen wollte.«

»Aber etwas hat er also erzählt?«, fragte ich. »Etwas, das mit dieser Sache zu tun hat?«

Leffy wand sich. Er tat mir richtig leid. Er fragte: »Wenn du dem Prof etwas anvertraut hättest, von dem andere um nichts in der Welt Wind bekommen dürfen, Peter - wie würde es dir dann gefallen, wenn der Prof Gott und der Welt davon erzählte?«

»Gar nicht«, antwortete ich. »Aber ich bin weder Gott noch die Welt. Ich bin sein Sohn.«

Ragnhild sagte. »Pfui Spinne, was bist du edel, Leffy! Du hast wohl den Pfadfindereid darauf geschworen, dass du nichts über seine Seitensprünge verrätst, oder? Großes Indianerehrenwort und so? Ihr habt nicht zufällig Blutsbrüderschaft geschlossen?«

Leffy holte tief Luft. »Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich nicht weiß, wo Rolf steckt. Und dass er persönliche Probleme hat. Er ist schon seit Wochen niedergeschlagen. Ich habe eine gewisse Ahnung, was die Ursache sein kann, aber ich verrate nichts, was mir in aller Vertraulichkeit erzählt worden ist. Take it or leave it.«

Ich nahm es. Ich verstand ihn, ich hätte mich wahrscheinlich nicht anders verhalten, das musste ich zugeben.

Er sagte zu mir: »Ich hoffe, du verstehst, dass ich ganz schön in der Klemme sitze. Mir gefällt die ganze Kiste kein bisschen.«

»Das verstehe ich«, sagte ich. »Alles klar. Aber den Versuch war’s ja wohl wert. Kennst du diese Tussi? Marita?«

»Marita? Nein.«

»Willst du wirklich keinen Tee?«, fragte Ragnhild und ging wieder in die Küche.

»Doch, eine Tasse nehm’ ich doch«, antwortete ich.

Wir quatschten zu dritt ein bisschen über alles Mögliche. Aber es war alles reichlich aufgesetzt, da ja klar war, woran wir die ganze Zeit dachten. Leffy schien auf dem Sprung zu sitzen, als ob er auf Schritte im Treppenhaus horchte.

Auf dem Tisch herrschte das totale Chaos. Stapelweise Zeitungen und Bücher, leere Bierflaschen und benutzte Tassen. Mitten im Chaos lag der Katalog zu Vaters Ausstellung. Auf der ersten Seite wurde er vorgestellt, dann kamen ein paar kluge Worte, die Franzen verfasst hatte. Und dann folgten die Titel der verschiedenen Arbeiten. Ich hatte auf der Vernissage in diesem Katalog geblättert, danach war er zusammen mit den Zeitungsartikeln im Familienalbum gelandet. Jetzt wirkte das alles gar nicht mehr so toll, denn die Ausstellung war ja irgendwie der Auftakt zu dem ganzen Ärger gewesen. Ich war überzeugt davon, dass bei Familie Pettersen alles unter Kontrolle wäre, wenn Vater immer noch als unbekannter Trottel im Keller herumschnitzte.

»Weißt du noch, dass ich dich nach den Blauen Wölfen gefragt habe?«, sagte ich zu Leffy.

»Ja, verdammt, die, ja!« Er zeigte grinsend mit einem verdreckten Zeigefinger auf meine Nase. »Ich weiß sogar noch, wo du mir diese Frage gestellt hast. Das war, ehe sonst jemand etwas von ihrer Existenz wusste. Erst einige Tage später haben die Zeitungen über ihre Sprühaktionen berichtet. Und ihre Hühneraktion kam erst gestern im Fernsehen. Rolf und ich haben die Nachrichten auf dem Fernseher bei Lorry gesehen.«

Er wandte sich an Ragnhild. »Hast du das auch mitgekriegt? Fünftausend Gummiadler auf der Flucht. Alles in der Gegend, was auf den Namen Fuchs hört, liegt jetzt unter den Birkenwurzeln und stöhnt nach der ganzen Fresserei.«

Er sah wieder mich an. »Sei ehrlich, Peter. Hast du mit denen was zu tun? Dem alten Leffy kannst du dich ruhig anvertrauen, weißt du! Du hast doch gerade erst gesehen, dass ich schweige wie ein Grab. Ragnhild, mach doch mal einen kleinen Spaziergang.«

»Nein, nein«, sagte ich. »Aber aus verschiedenen Gründen hat es mich interessiert, wer dahintersteckt.«

»Ach, spar dir das, ja? Erzähl mir was Besseres. Du hast ihren Namen gekannt, ehe …«

»Stimmt. Aber das hast du auch. Du hast gesagt, die Blauen Wölfe kämen dir bekannt vor.«

Er kniff die Augen zusammen. »Ja, das stimmt. Das hatte ich total vergessen.«

»Die Blauen Wölfe?«, fragte Ragnhild. »Ja, ich habe ja weder über Sprühereien noch über Hühnerbefreiung etwas gehört, aber ich weiß immerhin, woher du den Namen kennst, Leffy.«

»Woher denn?«, fragte ich.

»Du hältst die Antwort in der Hand, du Idiot! Du müsstest das doch jedenfalls wissen. Oder interessiert es dich überhaupt nicht, was dein Vater so treibt?«

Ich gab keine Antwort. Mein Zeigefinger glitt über die Liste der Namen von Bildern und Skulpturen.

Hinter Nr. 23 stand: »DIE BLAUEN WÖLFE. Öl. 103x80.«