15
Im Stich gelassen
Bhang: Ein Becher Joghurt. Grüner Kardamom, schwarze Pfefferkörner, süßer Palmzucker. Für den Feinschmecker ein Hauch Safran, eine Prise Muskat und Zimt. Wem danach ist, ein Schuss Sahne. Vermischt mit verzehrbarem Cannabis. Fertig.
Ich glaube nicht, dass ich jemals so viel Angst hatte wie vor dem Studium. Aus keinem bestimmten Grund, wenigstens glaube ich das. Als ich von zu Hause auszog, die angespannte Beziehung zu meinen Eltern und die totgeschwiegenen Erinnerungen hinter mir ließ und auf die Uni ging, glaubte ich, alles würde besser. Dass ich vielleicht sogar ein anderer Mensch werden könnte. Doch stattdessen bekam ich, kurz nachdem ich bei meinen Eltern ausgezogen war, so große Angst wie noch nie in meinem Leben.
In meinem letzten Jahr an der Uni war ich ein Wrack. Gegen Ende wurde es so schlimm, dass es mir nur einigermaßen gut ging, wenn ich die Nase in ein Buch steckte und las. Doch sobald ich das Buch weglegte, fing mein Herz an zu pochen, meine Hände wurden schweißnass, mein Hals wurde trocken, und vor meinen Augen schienen Bläschen zu schweben.
Im letzten Jahr, als ich den Tiefpunkt erreicht hatte, als alles öde und finster aussah und ich Panikattacken erlitt, tat ich etwas, das ich nie zuvor getan hatte. Ich googelte unser nautanki. Ich weiß nicht, was ich zu finden meinte, ich tat es, ohne nachzudenken, als würde mein Körper etwas tun, über das mein Gehirn keine Kontrolle hatte. Zugleich konnte ich nicht begreifen, warum ich es noch nie zuvor getan hatte.
Zu meiner Überraschung erschienen einige archivierte Zeitungsartikel. Ein Artikel in einer Lokalzeitung berichtete über unseren Erfolg auf einer Holi-Feier, ein anderer über eine Gemeindeveranstaltung in Southall. Ein Artikel über indische Kultur in London erwähnte uns flüchtig, und ein anderer über einen Lokalpolitiker nannte uns ebenfalls kurz. Und dann blieb mir fast das Herz stehen, denn ich entdeckte ein Bild, das auf einem Diwali in Brick Lane entstanden war. Damit hatte ich nicht gerechnet. Als ich es jedoch sah, war es, als hätte das Foto die ganze Zeit darauf gewartet, von mir gefunden zu werden.
Jetzt, ein paar Tage nach meiner gescheiterten Hochzeit, wäre ich gern jeder andere, nur nicht ich selbst. Ich hätte gern das Leben von jemand anderem und die Erinnerungen von jemand anderem und hole den Ausdruck hervor, den ich vor drei Jahren gemacht habe. Manchmal sehne ich mich danach, Roses Gesicht zu sehen, und fast immer, wenn ich diese Sehnsucht verspüre, dieses hohle Gefühl im Bauch, träume ich von ihr.
Oft träume ich von der Zeit, als sie uns ein Puppenhaus baute, nachdem unsere Eltern uns erklärt hatten, dass sie uns keines kaufen könnten und auch nicht wollten, dass Onkel Jat von unserem Wunsch erfuhr. Ich weiß noch, dass sie vollkommen in den Details versank. Die Wände fertigte sie aus Pappkartons, die sie sorgfältig mit Geschenkpapier beklebte.
»Das könnte die Tapete sein«, sagte sie und unterteilte die Etagen mit exakt abgemessenen und ausgeschnittenen Kartonstücken. Es dauerte Wochen. Ich liebte das Puppenhaus über alles, doch wenn ich heute daran zurückdenke, empfinde ich es als so schäbig, dass es mich überrascht, dass wir tatsächlich damit gespielt haben. Doch das taten wir, wir hatten es lange Zeit. Mir fehlte die Konzentration, etwas Handwerkliches zu erschaffen, zudem war ich eher der Typ, der schrie und sich über den Geiz unserer Eltern beklagte. Rose nicht. Sie konnte gut mit Problemen fertigwerden und setzte sie in Taten um.
Nachdem Rose verschwunden war, saß ich stundenlang da und starrte das Puppenhaus an, bis meine Mutter es eines Tages entsorgte, als ich in der Schule war. »Ich hasse dich, ich hasse dich«, schrie ich, als ich es herausfand, und sie sagte: »Na, warum gehst du dann nicht einfach auch?«
Egal, das ist jetzt nebensächlich. Der Gedanke daran ist auch zu schmerzhaft. Was ich sagen wollte, ist, wenn ich mich nach einem Blick auf Roses Gesicht sehne, nach der Berührung ihrer sanften Hände, die mein widerspenstiges Haar kämmen, nach ihrem leisen Lachen, dann gewähren mir das meine Träume wie ein Geschenk. Ich weiß, ich muss nur warten.
Aber seit Wochen mache ich eine Dürreperiode durch. Entweder schlafe ich so tief, dass ich mich nicht an meine Träume erinnern kann, oder meine Träume handeln von Simon. Nicht von Rose. Darum muss ich sie ansehen. Ich muss ihr Gesicht sehen. Ich hole das Bild von uns hervor, das ich vor einigen Jahren entdeckt und ausgedruckt und dann ganz hinten unter der Dachschräge in meinem Zimmer verstaut habe. Ich betrachte es und ringe nach Luft.
Es ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, die direkt nach einer Vorstellung entstanden ist. Als ich sie ansehe, fällt mir wieder ein, dass Rose einen gelben Rock und ein goldenes Oberteil trug, das mit Sicherheitsnadeln festgesteckt war. Ich erinnere mich so genau, als würde sie jetzt vor mir stehen. Dad, Onkel Jat und Gus-Gus standen ebenfalls auf der Bühne. Es war eines der wenigen Male, die wir draußen auftraten auf einer richtigen, wenn auch provisorischen Bühne. Normalerweise waren es abgetrennte Bereiche in Gemeindesälen oder ein Zimmer in einem Haus, aber an jenem Abend hatten wir eine kleine Bühne, die bei jedem unserer Schritte bebte. Und irgendjemand hatte die glänzende Idee, uns alle vier plus einen Irischen Wolfshund von der Größe eines Shetlandponys darauf zusammenzudrängen, um ein Foto zu machen. Rose stand neben meinem Vater, Onkel Jat und Gus-Gus, ich schwankte am Rand der Bühne.
»Rückt zusammen!«, rief der Fotograf. »Wir können alle draufbekommen. Rück noch ein Stück, Liebes, sei ein Schätzchen!«
Rose hatte den Arm um mich gelegt, damit ich nicht herunterfiel, und hielt mich mit reiner Willenskraft, während ich mich wand und ein finsteres Gesicht machte.
»Nimm den Arm weg!«, zischte ich.
»Dann fällst du runter«, flüsterte Rose. »Es ist gleich vorbei, Rilla, kannst du nicht aufhören zu zappeln?«
Sobald der Fotograf den Daumen hob, zog ich die Schulter hoch und befreite mich von ihrem Arm. »Du bist nicht Mum, hör auf, dich so zu verhalten.«
»Hör auf, dich wie ein Baby zu benehmen«, konterte Rose. »Was bist du für ein Baby!«
Ihr standen bereits Tränen in den Augen. Streit konnte sie nicht ertragen. Ich dafür umso besser.
»Lass die Finger von mir, okay?« Sobald das Foto fertig war, stürmte ich davon und schleuderte Weste und Turban auf den Boden. Ich wusste, deshalb würde ich Ärger bekommen, denn meine Mum war für das Reinigen und Bügeln unserer Kostüme zuständig. Sie waren empfindlich, aus Satin oder Seide mit funkelnden goldenen Brokatabsätzen, kleinen aufgenähten Spiegeln, tanzenden Elefanten und stolzierenden Pfauen, deshalb musste sie sie mit der Hand waschen und konnte sie nicht in die Waschmaschine werfen. Doch das war mir egal. Vielleicht schleuderte ich sie auch auf den Boden, weil ich Ärger bekommen wollte.
»Du bist so komisch, Süße!«, rief eine Frau, die ich zuvor im Publikum gesehen hatte, gleich in der ersten Reihe. Sie hatte Tränen gelacht. »Darf ich ein Foto von dir machen? Ist das okay? Ich kann deine Eltern fragen. Du bist ja noch minderjährig.«
»Sie wollen sicher eins von meiner Schwester«, knurrte ich. »Sie ist da hinten.« Die Leute wollten immer Bilder von Rose machen.
»Nein, von dir«, beharrte sie. Sie blickte auf ihre Kamera hinunter.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Nur ein Bild, das ist doch nicht so schlimm, oder?« Sie lächelte mich hoffnungsvoll an.
Ich schrie: »Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
Die Frau sah äußerst erschrocken aus.
Dann lief ich davon. Kurz blickte ich zu meinen Verwandten, die hinter uns aufräumten und dafür sorgten, dass wir nichts von unserer Ausrüstung vergaßen. Onkel Jat plauderte mit den Musikern und tat, als wäre er ihr bester Freund, damit es ihnen nichts ausmachte, für künstlerische Spitzenleistungen, Nostalgie und das große indische Revival zu arbeiten, wie er sagte. Umsonst, das meinte er eigentlich. Mum sammelte Kostüme und Requisiten ein. Dad war irgendwo, ich konnte ihn nicht sehen.
Es war dunkel. Ich habe keine Ahnung, ob es sieben oder elf Uhr abends war. Überall brannten Lichter, blitzten Leuchtreklamen auf. Auf eine Wand war Wonder Woman gesprüht, Graffiti-Gesichter mit geöffneten Lippen, Teekannen mit verfaulten Zähnen, Elefanten, die Hüte trugen und Polka tanzten, eine Kuh, auf deren T-Shirt CHE stand – die Kunst von Brick Lane.
Die Straße war voller Menschen, die dem Duft von gebratenem Fisch und Kichererbsenmehl, gegrilltem Hähnchen und heißen Waffeln folgten. Ich rannte und rannte, meine weite, plissierte Hose verfing sich zwischen meinen Beinen.
Als ich stehen blieb, keuchte ich und hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich drehte mich um, konnte die Bühne, auf der wir aufgetreten waren, jedoch nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, ob ich Angst hatte. Ich wollte verloren gehen, wollte, dass jemand mich fand und mich ausschimpfte. Ich war auf Ärger aus.
Ich schloss mich einer Parade an. Ein Trommler führte sie an, dahinter folgte eine Gruppe Tänzer und Tänzerinnen in indischen Kostümen, sie hatten weite gelbe Tuniken und blaue Hosen an. Die Männer trugen Turbane und führten eine Art verrückten Tanz auf, den ich vorher noch nie gesehen hatte, sie bewegten sich mit gebeugten Beinen vor und schlugen sich auf die Brust. Einige stiegen auf die Schultern ihrer Partner und sprangen mit einem Rückwärtssalto herunter, andere schlugen Räder und Purzelbäume. Ich begann wie eine Irre zu tanzen, schlug mir auf die Brust, blickte zum Himmel, schloss die Augen und wackelte mit den Schultern. Ich schwitzte, und meine Kleider waren binnen kurzer Zeit durchnässt.
Schließlich ging die Truppe in ein Café, und ich schlüpfte mit hinein. Einige der Tänzer setzten sich auf den Boden, andere lehnten sich an die Wände. Es wurde Chilifisch mit gedämpftem Reis bestellt. Gläser mit irgendeiner Flüssigkeit machten die Runde. Ehe jemand mich daran hindern konnte, schnappte ich mir eins. Es war flüssiger Joghurt mit viel Zucker, süß und sauer zugleich. Wenn ich jetzt die Augen schließe, schmecke ich ihn noch.
Jemand nahm mir das leere Glas ab.
»He, Kleine, sag nicht, du hast das getrunken!« Es war eine junge Frau, eine der Tänzerinnen, auf deren Wangen große rote Kreise gemalt waren, die Augenbrauen waren mit funkelnden Glitzersteinchen geschmückt. »Shit, das wird dir nicht gefallen.«
Ich lächelte sie an. Ich konnte nicht aufhören zu lächeln. Das Haar der Frau war zu einem langen Zopf geflochten. Ihr Lippenstift war verwischt, man sah nur noch die Kontur. Sie roch wie Rose, und ich roch wie nach einer Vorstellung – nach Kostüm, Schminke und Schweiß.
»Sie sind so nett«, sagte ich.
Und es war das Merkwürdigste, was ich je gesagt hatte, weil ich es ganz langsam sagte und sehr lange brauchte, um die Worte herauszubringen. Ich kicherte, mein Mund fühlte sich federig an wie der samtene Rücken eines Marienkäfers.
»Komm, leg den Kopf in meinen Schoß«, sagte die Frau und zog mich neben sich an einen Tisch, an dem schon viele andere Tänzer saßen.
Eine Gruppe Hippies kam herein und gesellte sich zu uns. Eine Frau mit dunkelblonden Rastalocken und einige Männer in Baumwollhemden. Sie hatten Musikinstrumente dabei – Ukulelen, Mundharmonikas, Kastagnetten und Klanghölzer – und sangen.
»Adoptieren Sie mich?«, rief ich der Frau zu.
»Du flüsterst«, sagte sie und küsste mich auf die Stirn. »Sprich lauter, Mädchen. Wie heißt du?«
»Rose. Adoptieren Sie mich?«
»Auf jeden Fall. Wenn deine Eltern dich mir nicht geben, kaufe ich dich ihnen ab.«
»Ich habe eine Schwester.«
»Sie kaufe ich auch.«
»Nein, nein, kaufen Sie sie nicht.«
Und dann merkte ich, dass ich mich übergeben musste. Unvermittelt stand ich auf und versuchte, aus dem Café zu laufen. Doch ich watete in Sirup. Schließlich schaffte ich es nach draußen, rang nach Luft und übergab mich an der Straßenecke.
»Du bist so dumm, Rilla, weißt du das? Weißt du, wie lange ich nach dir gesucht habe?«
Das war Rose.
Natürlich war sie mir gefolgt. Sie würde mich nicht allein gehen lassen. Sie hielt mich an den Schultern. In ihren Augen schimmerten Tränen. Am Ende war es nicht nur für mich ein Abenteuer gewesen.
»Warum musst du mir immer hinterherlaufen?«, maulte ich.
»Weil du nicht auf dich aufpassen kannst. Komm.« Sie zog an meinem Arm.
Ich fuchtelte mit den Armen, bereit, sie zu schlagen. Wie ein nasser Fisch klatschte meine Hand gegen ihr Kinn.
»Hör auf, mich zu schlagen! Komm jetzt!« Ihr Kinn bebte. Sie sah sich um.
»Du hast Angst hier draußen«, sagte ich selbstgefällig. »Die arme Rose ist ein Angsthase«, rief ich.
Es kam mir nicht in den Sinn, dass sie mir hierher gefolgt war, um auf mich aufzupassen, obwohl sie Angst hatte. An so etwas dachte ich damals nicht.
Alles, woran ich denken konnte, waren die Menschen im Publikum, die andauernd darüber redeten, wie schön, wie ungewöhnlich, wie anmutig sie war. Alle liebten Rose. Sie war unwiderstehlich, klar. Ich verstehe es jetzt, ich verstand es damals auch schon. Wie konnte man sie nicht lieben? Wie konnte irgendjemand mich ansehen, wenn sie im Zimmer war?
»Geh weg!«, schrie ich.
Ihr Kinn zitterte, aber sie sagte: »Ich lasse dich nicht allein.«
»Geh weg!«, schrie ich wieder.
Dann musste ich mich noch einmal übergeben. Und Rose stand hinter mir, strich mir über den Rücken und sprach beruhigend auf mich ein.
»Arme Rilla, arme Kleine, lass nur alles raus.«
Sanft griff Rose meine Schultern und half mir aufzustehen. Ich zitterte, und mein Magen brannte. Auf dem Weg zurück zur Bühne, wo die Leute noch aufräumten und aßen, weinte ich an ihrer Schulter.
Doch es war noch nicht vorbei, denn unsere Mutter wartete auf uns.
»Rose, geh raus zum Wagen. Ich muss mit Rilla sprechen.«
Sie trug einen langen Rock und ein besticktes Oberteil, auf dessen Rücken weiße Schweißränder zu sehen waren. Sie sah erschöpft aus, ihr Haar war aufgelöst.
»Ich will bleiben«, sagte Rose.
»Was ist los mit dir?«, sagte Mum zu mir. »Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe?«
Ich konnte Roses Gesicht sehen. Sie hätte gern gesagt, dass sie diejenige war, die weggelaufen war, aber dazu war sie zu ehrlich. »Ich bin auch weggelaufen« war das Beste, was sie herausbrachte.
Doch Mum achtete nicht auf sie. »Warum machst du das?«, fragte sie mich. »Rücksichtslos. Du bist vollkommen rücksichtslos. Ich habe noch nie erlebt, dass du auch nur ein einziges Mal nicht nur an dich denkst. Du bist eine dumme, niederträchtige Göre!«
Ich starrte sie an, mein Kinn bebte unkontrolliert. Ich konnte nicht sprechen, weil ich wusste, es würde als schreckliches Krächzen herauskommen, und das sollte Mum auf keinen Fall hören.
»Sagst du was? Oder machst du noch mehr Drama, gibt es mehr Tränen, mehr Geschrei? Glaubst du, irgendjemand fällt auf diesen Trick herein?«
Warum bist du so gemein zu mir, das hätte ich gern gefragt. Warum liebst du mich nicht so, wie du Rose liebst? Aber ich bekam den Mund nicht auf. Ich konnte meiner Mutter nicht zeigen, was ich empfand. Ich hatte Angst, dass ich sie anschreien würde. Das durfte ich auch nicht, auf keinen Fall, denn dann würde ich sie nur in dem bestätigen, was sie über mich sagte.
Als ich jetzt das Foto betrachte und sehe, wie wir in einer Reihe auf der Bühne stehen, steigen die Erinnerungen in mir auf. Und es sind nicht nur Erinnerungen, ich kann sie sehen und mich in ihnen bewegen, als wäre ich noch dort, als würde ich mit Rose auftreten, davonlaufen, geschnappt werden, dort feststecken und diese Szene immer und immer wieder durchleben.
Und vielleicht tue ich das.