41

Ein Grund zu leben

Als wir vier waren, forderte uns eine Lehrerin in der Schule auf, zu einem Berg von Puppen zu gehen und uns eine auszusuchen, sie sollte wie wir aussehen. Die Puppen hatten alle möglichen Hautfarben, von Vanille bis Tiefbraun. Es gab welche mit kurzem, welche mit langem und welche mit gelocktem Haar, welche, die grobe Baumwollstoffkleidung und Werkzeuge trugen und so weiter. Rose wählte eine mit cremeweißer Haut und langem braunem Haar. Ich nahm eine blonde Puppe mit blauen Augen. Meiner Meinung nach wählte ich Rose, die große Hellhäutige, die immer gut und nett zu allen war. Natürlich ist Rose nicht blond, aber in meiner Vorstellung war sie vollkommen, und alle anderen fanden sie ebenfalls perfekt. Vermutlich suchte ich mir die Puppe, die so war, wie ich sein wollte.

»Sie reist ab, sie geht zurück.«

Ich kann nicht einmal weinen, als ich das sage. Ich kann nichts und niemanden ansehen. Zusammengesunken sitze ich in einem Sessel im Wohnzimmer meiner Eltern. Ich bin wie betäubt, ich fühle nichts.

»Vielleicht ist es das Beste«, sagt Dad. Als ich anrief, um zu sagen, dass ich vorbeikäme, erklärte er mir, er habe am Morgen mit meiner Mutter gesprochen und ihr gesagt, dass ich Rose begegnet sei.

Jetzt sitzen sie nebeneinander auf dem Sofa. Meine Mutter hat die Hände über dem Bauch gefaltet, die Hand meines Vaters liegt neben ihr auf dem Sofa. Er berührt Mum nicht, aber er könnte sie jeden Moment berühren. Was glaubt er, was sie tun könnte? So schnell, dass er sie nicht fassen kann? Ich nehme ihm diese Beschützerhaltung übel, die mein Leben bestimmt hat, diese Rücksichtnahme auf die Gefühle meiner Mutter, die mich für den Großteil meines Lebens zum Schweigen gebracht hat.

»Warum?«, stoße ich hervor. »Warum soll es das Beste sein? Ihr seid schuld daran, dass sie nicht mehr bei uns ist. Ihr habt sie weggegeben, ihr habt mir das angetan, ihr habt uns das angetan. Ich verstehe nicht, wie ihr das tun konntet! Warum, warum habt ihr sie weggegeben?«

»Gareth Jones ist Roses Vater, Rilla«, antwortet Dad ruhig.

Ich hole tief Luft, erschaudere und reibe mir kurz durchs Gesicht.

»Sie ist nicht meine richtige Schwester?«

Und in dem Moment wird mir klar, dass ich das bereits weiß. Noch nicht lange, doch mein Gehirn hat Puzzleteile zusammengesetzt, Dinge, die ich mir nicht eingestehen wollte.

»Wir hatten ein paar schwere Jahre, nachdem wir geheiratet haben«, fährt Dad fort.

Ich warte darauf, dass Mum ihr Taschentuch hervorzieht, doch sie rührt sich nicht. Sie starrt auf den Boden. Ihr Gesichtsausdruck ist mir schrecklich vertraut, und ich ertrage ihn nicht. Entschieden sehe ich zu meinem Vater.

»Die Familie wollte, dass wir Kinder bekommen. Sie übte starken Druck aus. Es gab reichlich ausgesprochene und unausgesprochene Kritik, weil wir noch kein Kind hatten.«

»Aber ihr wart doch noch so jung. Was war so schlimm daran? Es ging sie nichts an.«

»So sehen sie das nicht. In ihren Augen geht es ausschließlich sie etwas an. Wir heirateten, obwohl die Familie sich meiner nicht sicher war«, sagt Dad. »Wie du weißt, wollte ich Schauspieler werden. Dieser Wunsch galt als albern. Eine ganze Weile versuchten sie, deiner Mutter die Hochzeit auszureden. Doch eine Sache sprach für mich. Anders als Renu war ich in Indien geboren. Das war etwas Gutes, als würde sie zu ihren Wurzeln zurückkehren, das gefiel ihnen. Sobald wir verheiratet waren, machten sie uns Stress. Warum wir kein Baby bekämen, wollten sie wissen. Ob wir kein Baby wollten, ob wir verhüteten, worauf wir warteten.«

Ich schüttle den Kopf, doch das kann ich mir nur zu gut vorstellen. Es klingt ganz nach der GIF.

»Bis dahin hatte ich mich genau an die Regeln gehalten«, platzt Mum heraus. Ich bin so überrascht, ihre Stimme zu hören, dass ich zusammenzucke. Unwillkürlich sehe ich zu meinem Vater, der meinen Blick erwidert, und die Verbindung, die wir mit diesem Blick teilen, ist so vertraut, als hätten wir sie mein ganzes Leben geteilt. »Ich hatte die Schule sehr gut abgeschlossen, ich war auf die Uni gegangen. Ich hatte geheiratet. Ich wollte zwei Kinder haben, am liebsten einen Jungen und ein Mädchen. Ich sprach Hindi, was für Inderinnen meiner Generation nicht selbstverständlich ist. Ich wusste, wie ich mir mit Henna Muster auf die Hände male, was nicht viele Inderinnen können. Als Kind hatte ich sogar Unterricht in klassischer hindustanischer Musik genommen. Ich lernte wie ein braves kleines indisches Mädchen, Harmonium zu spielen.«

Plötzlich taucht ein Bild von unserem nautanki vor mir auf, von Mum, die in einer unserer Vorstellungen das Harmonium spielt.

»Du hast schrecklich gespielt«, sage ich. »Es klang furchtbar, völlig schräg.«

Meine Mutter lächelt verlegen. »Es war ein Erfolg, die Leute haben Tränen gelacht.«

»Nur dass Rose und ich so heftig gelacht haben, dass man uns von der Bühne holen musste.« Ich stutze. Daran habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht.

»Nie wieder, sagte ich.« Mum knetet ihr Taschentuch in den Händen.

»Das war ich«, sagte Dad. »Ich sagte nie wieder.«

Sie schweigen einen Moment.

»Was ist dann passiert?«, bohre ich. »Damals meine ich, als wir noch nicht auf der Welt waren.«

Dad atmet lange aus. Mum starrt auf ihre Hände. »Wir begingen einen Fehler«, sagt er.

Mein Herz schlägt so heftig, dass es wehtut. »Was für einen Fehler?«

»Ich verließ deinen Vater«, sagt Mum. »Es war nicht seine Schuld. Der Druck, ein Kind zu bekommen, kam von meiner Familie. Aber auch von uns beiden, denn wir wollten unbedingt ein Kind haben. Dein Dad konnte nichts dafür. Ich wollte einfach nicht mehr verheiratet sein. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich wollte allein sein, ich wollte mich nicht wie eine Versagerin fühlen. Ich wollte nicht mehr die Scham empfinden, kein Kind bekommen zu können, deshalb verließ ich ihn und mietete mir eine Wohnung in Clapham.«

Ich sehe sie mit großen Augen an. »Ihr habt euch getrennt? Für wie lange?«

»Ein paar Jahre«, sagt Mum.

»Du wolltest nicht mehr mit ihm zusammen sein?«, frage ich langsam. Das will mir nicht in den Kopf. »Hast du um sie gekämpft?«, frage ich Dad.

Er schüttelt den Kopf. »Sie ist nicht mein Eigentum. Sie sagte, sie brauche Raum für sich, also gab ich ihr Raum. Wozu sich verrückt machen, wenn man nichts ändern kann?«

»Wow, das kann ich nicht nachvollziehen«, sage ich. »Vielleicht hätte es Mum gefallen, wenn du dich ein bisschen mehr um sie bemüht hättest.«

»Dein Vater ist äußerst rational, was diese Dinge angeht. Ich bat um Abstand, also bekam ich ihn.«

»Und dann?« Ich halte den Atem an.

Ich sehe Dad an, dass er nach den richtigen Worten sucht. Was immer er sagen muss, es ist schwer.

Schließlich sagt er: »Deine Mutter hat einen Cousin. Seine Tochter Priya war damals fünfzehn und hatte mit vierzehn ein Baby bekommen.« Meine Eltern sehen sich an. Der Kiefer meiner Mutter zuckt kurz. Nur ganz kurz, als hätte sie Schmerzen, doch sie sagt nichts. Sie sitzt da, die dürren Schultern nach vorn gebeugt, und mustert ihre Hände. Dad fährt zu reden fort. »Onkel Jat und Tante Pinky hatten die ganze Zeit versucht, die Sache zwischen uns wieder zu kitten. Sie redeten mit uns, wollten uns zur Vernunft bringen, wollten Mum dazu bewegen, wieder zu mir zurückzuziehen. Sie wollten, dass wir ein Kind adoptieren, falls uns das helfen würde, die Beziehung zu retten.«

»Aber der Gedanke an all den Papierkram schien mir unerträglich, die Fragen, das Eindringen in unser Leben«, sagt Mum. »Damals – vielleicht auch heute noch – suchten die Agenturen gern Eltern, die zur Abstammung des Babys passten. Wir hatten mit einer Adoptionsvermittlung gesprochen, und die sagten, wir sollten uns nicht zu große Hoffnungen machen, weil kaum indische Babys zur Adoption freigegeben würden. Sehr wahrscheinlich würde man uns kein Kind vermitteln, das nicht indischer Abstammung sei – obwohl ich in London geboren und aufgewachsen bin! Ich konnte mir nicht vorstellen, das jahrelang zu ertragen, immer wieder zu hoffen und enttäuscht zu werden.«

»Onkel Jat erzählte uns schließlich von Priyas Baby«, sagt Dad. »Er lud uns zu sich nach Hause zum Abendessen ein.«

»Rose ist Priyas Tochter?«, frage ich.

»Sie wollte nichts mit dem Baby zu tun haben«, berichtet Dad. »Sie war so jung, als sie es bekam. Anscheinend hat sie abtreiben wollen, doch es war zu spät. Sie hat erst etwas gesagt, als sie schon im sechsten Monat war. Jedenfalls bekam sie das Baby. Und dann wollte die Familie nichts damit zu tun haben. Also wurde es zwischen Onkeln und Tanten und Verwandten herumgereicht.«

Mir ist zum Heulen zumute. Niemand wollte Rose haben. Das begreife ich nicht. Die Vorstellung, dass sie ein ungewolltes Baby ist, das zwischen den Verwandten hin und her gereicht wurde, ist mir unerträglich. Dass sie in ihrem Bettchen lag und darauf wartete, abgeholt zu werden. Ich denke an den unsicheren Blick in ihren Augen, der so sehr ein Teil von ihr ist, dass ich ihn nie hinterfragt habe. Jetzt scheint mir der Gedanke, wie sie zu diesem Blick gekommen ist, unerträglich.

»Jat war die Antwort auf ihre Gebete«, sagt Dad. »Er sagte, er würde ihnen das Baby sofort abnehmen, keine Fragen stellen, keine Gesundheitszeugnisse verlangen, nichts. Zu dem Zeitpunkt war Rose ungefähr ein Jahr alt.«

»Dann habt ihr das Baby adoptiert … Rose adoptiert?«

Sie sehen sich an, und ich sehe die Erschöpfung in ihren Augen.

»Ja«, sagt Dad. »Und wir hätten sorgfältiger sein müssen, wir hätten alles prüfen müssen. Ihrer Familie hatte Priya erzählt, der Vater sei ein Junge aus der Schule, der das Baby nicht wolle, der nicht mit ihr zusammen sein wolle. Er spiele keine Rolle. Und wir begingen den größten Fehler unseres Lebens. Wir bestanden nicht darauf, dass sie etwas unterschrieben. Wir erhielten ein Baby, ein wunderschönes Baby.«

»Ihr habt keine Unterlagen?« Ich bin schockiert.

»Wir waren jung und dumm. Wir haben uns auf ihr Wort verlassen. Heutzutage sind Papiere enorm wichtig, das war damals noch nicht so. Und das Problem war zudem, dass Priya zu dem Zeitpunkt verschwunden war.«

»Wie meinst du das, sie war verschwunden?«

»Ich weiß es nicht genau«, sagt Dad. »Sie hatte das Baby bekommen, dann verschwand sie. Die Familie sagte, sie habe keine Ahnung, wo sie sei.«

Ich sehe ihn skeptisch an. »Glaubst du das?«

»Ja.« Dad nickt nachdenklich. »Doch. Damals war sie tatsächlich weg. Sie verschwand mit etwas Geld und ein paar Klamotten. Wir wissen, dass sie nach ein paar Jahren zurückkam, doch damals war sie tatsächlich davongelaufen. Für uns war das kein Problem. Es war genau so, wie wir es wollten. Wenn nötig, hätten wir auch einer Adoption zugestimmt, bei der man mit der Mutter in Kontakt bleibt, aber so war es uns eigentlich am liebsten. Wir wollten unbedingt ein Kind. Sobald wir davon hörten, heilte unsere Beziehung. Renu zog wieder zu mir. Zum ersten Mal seit Jahren gab es Hoffnung. Das Baby war schon unseres, bevor man es uns in die Arme legte.«

»Weshalb habt ihr es nicht legal gemacht?«

Eine Weile sagt keiner von ihnen etwas. Ich höre das Tick-Tack, Tick-Tack der Wanduhr. Im Hintergrund läuft das Küchenradio.

»Die Eltern des Babys waren nicht beteiligt, und ihre Familie wollte keinen Papierkram. Sie wollte einfach nur, dass wir das Baby nehmen und niemand jemals wieder darüber sprach. Sie war froh, es loszuwerden, sie wollten es nie wieder erwähnen. Priyas Familie fand, dass sie versagt hatte. Ihre Eltern ertrugen den Gedanken nicht, was das Kind für Priyas Ruf bedeutete, für ihre Chance zu heiraten. Sie wollten keinen Papierkram, keine belastenden Dokumente, und vor allem wollten sie keine Verzögerung. Sie wollten, dass wir das Baby nehmen und uns nie mehr wiedersehen.«

»Aber es sind doch Verwandte von uns.«

»Ja, Priyas Vater ist mein Cousin väterlicherseits«, sagt Mum. »Aber wir hatten eigentlich nie Kontakt zu der Seite meines Vaters, mein Vater starb, als ich noch ein Kind war, das weißt du ja. Jat versuchte, Kontakt mit ihnen zu halten, so wie er es bei Verwandten eben tut. Sie sind nicht sehr wohlhabend, und er bot ihnen im Laufe der Jahre Geld an, wollte sich um sie kümmern, ihnen Jobs vermitteln. Doch das lehnten sie ab.«

»Und der Vater war Gareth Jones?«

Meine Eltern nicken. »Wie sich herausstellte, wusste er nichts von dem Baby.«

»Wie hat er es herausgefunden?«

»Auf die unwahrscheinlichste Weise überhaupt. Er sah ein Bild von euch beiden beim nautanki«, sagt Dad. »Und wurde stutzig.«

»So auffallend ist die Ähnlichkeit?«

»Er war Jat ein paarmal bei Priya zu Hause begegnet«, sagt Dad. »Er erkannte ihn auf dem Foto, deshalb las er den Artikel. Zunächst dachte er sich nichts dabei, bemerkte nur, dass Rose seiner eigenen Schwester verblüffend ähnlich sah. Doch einige Tage später las er den Artikel noch einmal. Dort stand euer Alter. Ich glaube, das machte ihn nachdenklich. Er rief bei Priya zu Hause an und erfuhr, dass sie verschwunden war. Später erzählte er uns, dass er auf gut Glück gefragt habe: Und wo ist Priyas Tochter? oder so etwas. Und es funktionierte. Es war ein Schuss ins Blaue, doch er führte ihn zu uns.« Er schüttelt den Kopf. »Ehrlich, ich kann immer noch nicht glauben, dass er es tatsächlich herausgefunden hat. Er hätte es so leicht übersehen können. So leicht.«

Kurz berührt Mum Dads Hand und sagt leise: »Kurz bevor er das Bild entdeckte, hatte er seine Frau verloren. Er suchte etwas, das ihm über den Kummer hinweghalf, irgendetwas. Er war damals fünfundzwanzig. Noch sehr jung.«

»Dann besuchte er uns.« Dad reibt sich die Stirn.

»An jenem Weihnachten?«

Dad nickt. »Erinnerst du dich daran? Ja, genau. Nachdem Gareth klar war, dass sie seine Tochter war, wollte er Rose unbedingt haben.«

»Warum habt ihr sie gehen lassen?« Plötzlich bin ich so müde, dass ich noch nicht einmal mehr wütend sein kann. Ich bin einfach nur traurig, verloren. Ich will, dass die letzten siebzehn Jahre anders verlaufen wären. Ich will noch einmal an den Anfang zurück und sie ändern. Ich bin verzweifelt. »Es war nicht nur eure Entscheidung. Es wäre auch unsere gewesen. Roses und meine. Wie konntet ihr das für uns entscheiden?«

»Wir haben mit allen Mitteln um sie gekämpft, Rilla«, sagt Dad leise. »Wir haben sie nicht einfach gehen lassen, wir haben alles getan, was wir konnten.«

Als ich ihn ansehe, weiß ich, dass das stimmt. Mit Hilfe von Sheila Jenkins, ihrer Sorgerechtsanwältin, hatten sie jahrelang um sie gekämpft.

»Sie war unsere Tochter. Das musst du verstehen. Es machte keinen Unterschied, dass sie nur eine entfernte Verwandte war«, sagt Dad.

Das verstehe ich vollkommen, das muss er gar nicht sagen. Rose war meine Schwester. Das ist sie noch immer.

»Wir kämpften und kämpften. Doch Gareth kämpfte härter. Oder er war in einer besseren Position. Es stellte sich heraus, dass Jat Priyas Familie Geld gezahlt hatte. Das wurde gegen uns verwendet. Anschließend sprachen wir jahrelang nicht mehr mit Jat. Wir gaben ihm die Schuld an allem, was schiefgelaufen war. Und er sich selbst auch. Bis heute. Wir gingen vor Gericht, wir kämpften, aber wir hatten keine Papiere, nichts, wir hatten keinen Beweis. Der Richter sagte, Jat habe die Familie bestochen, er habe ihnen Rose praktisch abgekauft, er habe ihre finanziellen Schwierigkeiten ausgenutzt. Priya war nicht da, um etwas dazu zu sagen. Es gab keine Spur von ihr. Sie war weg, verschwunden. Sie hatte Gareth nicht erzählt, dass sie schwanger war, hatte ihn nicht einbezogen. Und da war er, Roses leiblicher Vater, und wollte seine Tochter zurück. In gewisser Weise war es sein Recht, aber wir kämpften dennoch um sie. Wir argumentierten, dass es nicht richtig für Rose sei, von uns getrennt zu werden, von dir. Gareth hielt dagegen, dass wir finanziellen Profit aus seiner Tochter schlügen.«

»Wegen des nautanki?«, frage ich ungläubig.

»Ja, aber ich weiß nicht, ob das am Ende überhaupt ausschlaggebend war, ob es die Dinge zu seinen Gunsten beeinflusst hat. Er war Roses leiblicher Vater, und das Rechtssystem mag es nicht, wenn man etwas nicht auf korrekte Art regelt. Doch vielleicht steckte auch noch mehr dahinter. Vielleicht spielte es auch eine Rolle, dass Roses Vater Brite ist. Der Richter fragte uns, wie wir ein weißes Kind aufziehen wollten.« Dad schüttelt den Kopf.

»Das werde ich uns nie verzeihen«, sagt Mum. Sie atmet zitternd ein. Sie ist blass, die Wangen sind eingefallen.

»Nach Weihnachten rief Gareth jeden Tag an. Er weinte, er bettelte, er flehte, er drohte uns. Am Ende siegte er. Deine Mutter fuhr und blieb einige Monate in Bristol in ihrer Nähe. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst«, sagt Dad.

Wie könnte ich diese Zeit vergessen? Rose gegenüber hatte ich das bei unserem Gespräch nicht erwähnt, aber natürlich erinnere ich mich daran. Wenige Wochen, nachdem Rose weg war, verschwand auch Mum. Sie war einige Zeit fort. Ich dachte, sie wäre bei Rose und käme nicht mehr zurück. Solange sie weg war, zogen Tante Dharma und Tante PK bei uns ein und kümmerten sich um mich. Ich habe versucht, nicht an jene Zeit zu denken, vielleicht habe ich sie auch verdrängt, aber jetzt, ganz plötzlich, stürzt die Erinnerung auf mich ein, als wäre es gestern gewesen. Ich fühle die Panik, die ich jeden Abend spürte, wenn ich ins Bett ging. Ich entwickelte einen merkwürdigen Husten. Es war kein richtiger Husten, nur ein kurzes, keuchendes Ausatmen, das sich ständig wiederholte. Tante Dharma und Tante PK konnten sich zunächst nicht erklären, woher das merkwürdige Geräusch kam. Dann, als sie merkten, dass ich es war, überlegten sie, ob ich TB hätte. Sie brachten mich zum Arzt, um mir Blut abnehmen zu lassen. Schließlich kehrte Mum zurück, und dann fing ich an, sie anzuschreien.

Tage- und wochenlang schrie ich sie an. »Sag mir, wo sie ist. Sag es mir. Du … du hast ihr etwas angetan, du hast sie umgebracht! Wo ist sie? Wo ist sie?«

Und jedes Mal weinte Mum. Sie weinte, sie brach zusammen, sie schluchzte. »Lass mich in Ruhe, Rilla, bitte, bitte hör auf. Lass mich in Ruhe, bitte lass mich einfach in Ruhe.«

So ging das wochenlang. Bis meine Mutter eines Tages ins Auto stieg und davonfuhr und wir über Stunden nichts von ihr hörten. Als die Polizei an die Tür klopfte und Dad bat, sie ins Krankenhaus zu begleiten, blieb ich mit den Tanten zu Hause. Später rief Dad an und sagte, Mum ginge es gut, sie habe einen Unfall gehabt und sei einige Tage im Krankenhaus, und er bleibe bei ihr. Solange sie im Krankenhaus waren, durfte ich sie nicht besuchen. Es sei das Beste, wenn ich nicht käme, erklärte mir Dad.

Als sie schließlich nach Hause zurückkehrten, verschwand meine Mutter im Schlafzimmer und blieb dort für – ich weiß eigentlich nicht, wie lange. Tage, Wochen? Ihr Gesicht war verletzt, ihre Rippen waren gebrochen, aber es war ihr Geist, der tot war. Mein Vater erklärte mir, dass Mum im Koma gelegen habe, dass die Ärzte nicht sicher gewesen seien, ob sie durchkommen würde. Er erklärte mir, wir dürften nicht mehr über Rose sprechen.

»Verstehst du, was hätte passieren können, Rilla? Verstehst du, was immer noch passieren kann? Sie erträgt es nicht, darüber zu reden. Das verstehst du doch, oder?«

»Versprich es mir, versprich es mir, Rilla.« Seine Stimme bebte. Er sah aus, als hätte er den Schock seines Lebens erlitten. Er kam nicht damit zurecht, mit nichts von alledem.

Und vor dieser Erinnerung bin ich mein ganzes Leben lang davongelaufen. Vor den Einzelheiten, den Worten, der Angst. Ich habe mich so sehr bemüht, sie zu verdrängen, sie irgendwie ungeschehen zu machen. Und ich war erfolgreich. Mehr oder weniger. Bis jetzt.

Damals hatte ich genickt. Die Polizei hatte nichts davon gewusst, sie hielt es für einen Unfall, aber Dad und ich wussten, dass Mum mit dem Wagen mit Absicht in einen stehenden Laster gerast war. Und ich wusste, dass das meine Schuld war, ich hatte sie dazu getrieben.

Jetzt redet Mum, und ich verliere mich so in jener Zeit, dass mich der Klang ihrer Stimme aufschrecken lässt.

»Ich dachte, es wäre leichter für uns alle, wenn Rose nicht völlig abgeschnitten von uns ist. Ich dachte, wenn ich in Bristol in ihrer Nähe bin, wäre es für uns alle einfacher. Aber bei dem einen Treffen, das es zwischen Rose, Gareth und mir gab, war Rose verstört. Sie schrie und weinte: ›Ich halte das nicht aus. Ich will das nicht hören.‹ Und Gareth sagte, wir sollten den Kontakt aussetzen, bis Rose sich mit der Situation abgefunden und sich eingewöhnt habe. Sie gingen zur Beratung, und dort sagte man ihm dasselbe. Gareth berichtete uns, man habe ihm gesagt, es sei wichtig für Rose, ihr neues Leben, ihre neue Realität zu akzeptieren und dass wir sie nicht verwirren dürften.«

Keiner kann etwas sagen. Wir schweigen eine ganze Weile. Ich grüble über alles nach, was sie mir erzählt haben. Das Bild von Rose als Baby, das keiner haben wollte, geht mir nicht aus dem Kopf.

»Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, dass Priya und ihre Familie sie nicht wollten. Warum wurde sie herumgereicht?«

»Sie hat darunter gelitten«, sagt Dad. »Sie war ein nervöses kleines Ding, als sie zu uns kam.«

Ich nicke. »Das war sie immer, das ist sie bis heute geblieben. Es ist, als würde sie ständig damit rechnen, verletzt zu werden.« Ich schlucke heftig.

»Das erste Mal, dass sie sich bei uns wohlzufühlen begann, war, als du ein Jahr später zur Welt kamst. An ihrem zweiten Geburtstag. Da war sie richtig angekommen.«

Jetzt laufen mir Tränen über die Wangen. Und dann wurde sie wieder weggebracht, sie wurde wieder zu einer anderen Familie geschickt.

»Es tut mir so leid, es tut mir so unendlich leid«, sagt Mum.

»Es war nicht deine Schuld«, wirft Dad schnell ein. Er legt eine Hand auf ihre. Und irgendwie ertrage ich diese kleine Berührung, diese Beschützergeste nicht.

»Hast du mich als Kind geliebt?«, frage ich plötzlich. Ich sage es, ohne darüber nachzudenken. Es kommt einfach so aus mir heraus.

»Wir lieben dich über alles.« Das kommt von Dad, doch ich sehe ihn nicht an, und meine Mutter weiß das. Sie betrachtet wieder die Hände in ihrem Schoß. Mein Vater wirft mir einen warnenden Blick zu, was ich aus den Augenwinkeln mitbekomme, doch ich ignoriere ihn.

»Du … du warst nicht nett zu mir, als ich klein war. Es war, als würdest du … mich hassen.«

Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Natürlich habe ich dich geliebt.« Ihr laufen die Tränen herunter. »Als Rose zu uns kam, dachte ich, ich hätte alles, was ich brauche. Ich war wunschlos glücklich. Sie war ein bezauberndes Baby, ich liebte sie mehr, als ich mir jemals hatte vorstellen können.«

Mir bleibt die Luft weg.

»Als ich feststellte, dass ich schwanger war, nur wenige Monate später, bekam ich Angst.« Ich suche Mums Blick. »Vor zwei Dingen. Ich hatte Angst, dass ich das neue Baby nicht so sehr lieben könnte wie mein erstes. Und ich hatte eine Heidenangst, dass ich dich als meine leibliche Tochter mehr lieben und Rose nicht mehr ganz so stark lieben könnte.«

Mein Herz schlägt schmerzhaft. »Und?«

Sie zuckt die Schultern. »Und nichts. Nichts von beidem trifft zu, aber die Angst blieb bestehen. Mehr kann ich nicht sagen. Natürlich liebe ich dich. Ich habe mein Bestes für dich getan.«

Sie tut mir aufrichtig leid, aber ich schüttle den Kopf. »Nein, Mum, das hast du nicht.«

Nach einer ganzen Weile räuspert sich Dad. »Wie war es … sie zu sehen?«

Es dauert einen Moment, bis ich wieder sprechen kann. »Es ist komisch. Wenn wir als Kinder draußen unterwegs waren, dachte niemand, dass wir zusammengehören, geschweige denn, dass wir Schwestern sind. Zum Beispiel, wenn wir Zug fuhren und uns beide mit euch irgendwohin setzten, dachten die Leute, Rose gehöre zu der weißen Familie neben uns und ganz sicher nicht zu uns. All unsere Verwandten redeten ständig davon, wie groß und wie hellhäutig sie sei. Einmal tobten sie und ich auf dem Bahnsteig herum. Wir waren mit einer der Tanten unterwegs, ich weiß nicht mehr, mit welcher, und jagten uns. Wer zuerst an der Stange war, wer den Wachmann berührte, solche Sachen. Wir wetteiferten, wer zuerst einen Platz im Warteraum fand, und rannten durch unterschiedliche Türen herein. Es gab nur einen Platz, Rose war zuerst da und stand direkt daneben. Doch ich oder irgendetwas lenkte sie ab, und irgendwie saß ich zuerst. Rose trat höflich zur Seite. Ich hatte anständig und ehrlich gewonnen. Und da war dieser britische Herr auf dem Nebensitz, der sich mit großer Geste erhob und Rose seinen Platz anbot. Und er sagte zu Rose: ›Kümmere dich nicht um diese Ausländer und ihre Kinder.‹ Und dann murmelte er noch etwas von britischen Manieren.«

»Ihr habt mehr gemeinsam, als du ahnst«, sagt Dad.

Das ist das Netteste, was er mir jetzt sagen konnte. Wieder schweigen wir eine ganze Weile.

»Wollt ihr sie sehen?«, frage ich meine Eltern.

»Hat sie danach gefragt?« Mums Kinn bebt unkontrolliert.

»Nein«, erwidere ich.

»Dann nicht«, sagt Dad. Er hält die Hand meiner Mutter. »Sie ist unsere Tochter. Vielleicht nicht unsere leibliche, aber sie ist unsere Tochter. Doch das muss sie für sich selbst entscheiden. Wir haben sie im Stich gelassen. Ich nehme es ihr nicht übel, wenn sie nichts mit uns zu tun haben will.«

Mum weint. »Es ist ihre Entscheidung.«

Nach längerem Schweigen steht Mum schließlich auf und geht in die Küche. Eine Weile hören wir nur den Wasserhahn laufen. Kein anderes Geräusch ist zu hören, und weder Dad noch ich sehen in Richtung Küche. Wir halten entschieden den Blick abgewandt. Schließlich verstummt der Wasserhahn, und ich höre, wie Mum den Kessel aufsetzt.

»Rilla«, sagt Dad, »weißt du, wegen des Ladendiebstahls – werde jetzt nicht gleich wütend – , ich möchte nur gern wissen, was es damit auf sich hat. Ich meine, müssen wir uns deshalb Gedanken machen? Wir könnten uns Hilfe suchen, wir könnten alle mit jemandem reden, wenn das hilft.«

Ich seufze. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß es nicht, okay? In einem Moment bekam ich eine Panikattacke wegen der Hochzeit, im nächsten rannte ich aus dem Laden mit einem Sixpack Energydrinks und Zuckerersatz unter dem Arm. Es war auch noch ein ziemlich beschissener Drink, und ich benutze überhaupt keinen Zuckerersatz.«

Mum kommt mit Teebechern zurück. Sie reicht mir einen, und ich wärme mir die Hände daran.

»Sie haben dich nicht gleich erwischt?«, fragt Dad.

Ich schüttle den Kopf. »Ich bin in der U-Bahn verschwunden. Sie haben mich nicht gekriegt.«

»Wie hat die Polizei dann herausgefunden, dass du es warst? Durch die Überwachungskamera?« Dad runzelt die Stirn und pustet in seinen Tee, dann nimmt er einen großen Schluck.

Ich sehe ihnen nicht in die Augen. »Keine Überwachungskamera.« Ich räuspere mich. »Ich habe angerufen und gestanden.«

»Oh!« Einen Moment sieht Dad mich überrascht an, dann nickt er. »Ja, ja, das war gut. Wann hast du das gemacht? Gleich im Anschluss?«

»Als ich darauf gewartet habe, dass du kommst, um mich aus dem Hinterzimmer von Bloomington Manor abzuholen«, sage ich schuldbewusst. »Vor der Hochzeit.«

»Rilla!« Mum sieht erschüttert aus. Sie setzt sich wieder.

»Am schwarzen Brett stand eine Nummer, die man anrufen soll, wenn man etwas über vermisste Personen weiß. Ich wählte sie und erklärte, dass ich etwas gestehen wolle. Und da war diese Frau am anderen Ende der Leitung. Sie fragte: ›Hat es mit jemandem zu tun, der vermisst wird?‹ ›Nein‹, sagte ich. ›Haben Sie jemanden gesehen, der vermisst wird?‹ Ich verneinte wieder. ›Werden Sie vermisst, oder kennen Sie jemanden, der vermisst wird, haben Sie jemanden entführt, der vermisst wird?‹ ›Nein‹, versicherte ich ihr. Sie wollte schon auflegen, doch dann erklärte ich ihr, ich würde immer wieder anrufen, bis sie mich mit jemandem verbinde, der für mich zuständig sei. Schließlich gab sie mir die Nummer der nächsten Polizeiwache.« Ich verziehe das Gesicht. »Sorry.«

Dad schüttelt den Kopf. »Vielleicht war das der Stress wegen der Hochzeit«, murmelt er und versucht, irgendeinen Sinn in dem Bild zu finden, das ich von seiner Tochter zeichne.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, es hat eher mit Rose zu tun.« Aber ich habe noch mehr Fragen. Ich mache ein finsteres Gesicht. »Was hat Mrs. Daniels damit gemeint, dass man uns trennen sollte?«

»Wie bitte?«

Es dauert ein paar Minuten, bis ich meinen Eltern das erklärt habe. Sie erinnern sich nicht an meine Lehrerin Mrs. Daniels.

»Ach«, sagt Dad schließlich, »was für eine seltsame Frage. Aber ich erinnere mich. Sie sagte, dass ihr in den Pausen immer zusammen spielt. Das habt ihr immer getan, und das war nie ein großes Problem, aber anscheinend habt ihr euch damals ziemlich oft gestritten.«

»Wegen des nautanki, dachten wir. Das machte euch eine Menge Stress. Uns allen«, sagt Mum.

Dad schweigt.

»Jedenfalls schlug sie vor, euch mehr zu trennen, damit ihr auch andere Freundinnen findet und euch weniger streitet. Warum fragst du?«

Ich schüttle den Kopf erneut. »Nur so«, sage ich, und endlich, nach siebzehn Jahren, kann ich dieses Gespenst begraben. Vielleicht kann ich nichts daran ändern, wer ich bin. Vielleicht wird das ungute Gefühl, dass ich etwas Schreckliches getan habe, immer bleiben, aber vielleicht wird es mich nicht mehr bestimmen. Vielleicht. »Warum habt ihr mir all das nicht schon früher erzählt?«, frage ich. »Das hättet ihr mir doch erzählen können.«

»Wir wollten nicht, dass sich dein ganzes Leben darum dreht«, sagt Dad.

»Was meint ihr, worum sich mein ganzes Leben gedreht hat?«, frage ich.