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Familiendrama
Wieder geht die Türklingel, und Federico läuft nach unten, um zu öffnen. Herrgott, wer ist es diesmal? Er kehrt mit den Unverheirateten zurück. Tante PK, Tante Dharma und die Schwester meines Vaters, Tante Promilla, betreten das Wohnzimmer. Meine Eltern und Verwandten umarmen sich mit Trauermiene, als wären sie auf einer Beerdigung.
Die drei Tanten umarmen mich, bis ich schreien will. Gereizt blicke ich zu meinem Vater.
Da er vermutlich am wenigsten mit diesem Überfall zu tun hat, bin ich auf ihn am wütendsten. Warum hast du diesen Angriff nicht verhindert?, fragt mein Blick. Warum hast du nichts dagegen unternommen?
Als ob irgendjemand auf mich hören würde, antworten seine Schultern.
Die Unverheirateten sind der Buhmann der GIF. Wenn sich junge Mädchen der GIF schlecht benehmen – wenn sie kreischen, schreien, kämpfen, Sachen fallen lassen und kaputtmachen, sich beim Essen von Kopf bis Fuß mit Schokolade einschmieren, ihre Eltern durch ihr Leben als unfähig dastehen lassen, solche Dinge – , ermahnen sie dieses bereitwillig: Wenn du dich weiter so benimmst, wirst du niemals heiraten und wie wir Unverheirateten enden.
Dabei ist es ziemlich unfair, die drei in einen Topf zu werfen. Tante Dharma, die spirituelle Heilerin, war vor langer Zeit kurz verheiratet, dann starb ihr Mann. Sie spricht nicht laut aus, dass es das Beste war, was ihr je passiert ist, doch ihre Spiritualität hat sich durch den Verlust verstärkt.
Tante PK, die feministische Journalistin, wohnt mit einer »Freundin« zusammen, einer Anwältin namens Zeze. Hin und wieder, wenn ein Mitglied der GIF jemanden zum Abendessen einlädt, sagt es zu Tante PK: »Warum bringst du nicht deine spezielle Freundin mit, Parminder?« Doch Zeze hat anscheinend stets zu tun und kann nur selten an Zusammentreffen der GIF teilnehmen. Das könnte stimmen, denn Zeze ist eine sehr wichtige Menschenrechtsanwältin. Doch es wäre auch möglich, dass Onkel Jat sie bei der einzigen Begegnung mit der GIF vor einigen Jahren davon zu überzeugen versuchte, für ihn zu arbeiten. Und dass Tante Pinky ihr vorschlug, ein paar nette Inder zu treffen, die eine »gute Partie« wären und denen es gefallen würde, dass ein Elternteil von Zeze dunkelhäutig und das andere hellhäutig ist.
Tante Promilla ist Single, weil – nun ja, weil Tante Promilla ein Tierasyl ist. Das ist richtig. Sie arbeitet nicht für eine Tierhilfsorganisation, sie ist eine. Sie sammelt Tiere wie andere Briefmarken.
Sie redet nur selten mit Menschen, sie hat uns nichts zu sagen, und wenn man sie dazu nötigt, sieht sie einem nicht in die Augen. Doch für Tiere – je versehrter und misshandelter, desto besser – ist sie eine gute Fee.
Die Unverheirateten drängen sich im winzigen Wohnzimmer. Und jetzt reden wieder alle über mich.
»Wartet, bis Shani weitergezogen ist«, sagt Tante Dharma. »Dann lege ich den Termin fest.«
»Ohne Mann zu leben bedeutet nicht das Ende der Welt«, wirft Tante PK ein, doch niemand achtet auf sie.
»Ihr Horoskop sagt, dass sie Probleme in Liebesdingen haben könnte«, sagt Tante Dharma nachdenklich.
»Ich sage, lass dir die Haare schneiden.« Tante Menaka nimmt einen winzigen Bissen von einem Stück Pizza, das sie schon eine ganze Weile beäugt hat, und legt den Rest zurück auf den Teller. »Jedes Männerproblem lässt sich mit einem Haarschnitt lösen.«
»Hört zu, wir können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen …«, hebt Onkel Jat an.
Sofort nimmt seine Frau den Faden auf. »Ja, wir sollten eine Feier geben und alle anrufen: ihre Freunde, den Betreuer, Simon und seine Eltern!« Bei der Vorstellung leuchten ihre Augen.
Sie werfen sich die Ideen nur so zu. Alle nicken und scheinen begeistert zu sein. Federico hat immerhin den Anstand, diese neuerliche Offensive etwas verlegen zu verfolgen. Er sieht zu mir, doch ich weiche seinem Blick aus.
»Ein offenes Wort ist immer das Beste, finde ich«, sagt Tante PK. »Keine Spiele.«
»Wozu?«, wirft Mum ein. Sie hat eine Weile stumm danebengesessen, doch jetzt platzt diese Frage aus ihr heraus. »Wozu? Was passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern!«
»Mum …«
»Ich wusste, dass das passiert! Habe ich es dir nicht gesagt, Manoj? Ich wusste es!«
»Wie konntest du das wissen, Mum …«
»Weil du einfach alles kaputtmachst! Deshalb!«
»Aber Renu …«
Unvermittelt stehe ich auf. »Was? Was mache ich kaputt? Rede ruhig weiter, nur raus damit!«
Jetzt fließen bei Mum die Tränen. »Du verscherzt es dir mit jedem. Du bist egoistisch!«
»Und … was noch? Das ist doch noch nicht alles, Mum!«
»Du rufst uns nicht an, du besuchst uns nicht, du bedankst dich nie für etwas. Du … du hast den Wellensittich umgebracht, den Tante Promilla dir geschenkt hat!«
Alle drehen sich zu mir um und starren mich an. Bei der Liste, die meine Mum aufführt, der Liste all meiner Vergehen, balle ich die Fäuste. Ich bin so wütend, dass ich sie nicht einmal mehr richtig sehen kann. Wütend auf meine Mum, auf meinen Dad, dass er sie diese Dinge sagen lässt, auf sie alle, dass sie hier in meiner Wohnung sitzen und über mich urteilen. Selbst Tante Promilla, die selten etwas sagt, sieht mich mit traurigem Blick an.
»Du hast gesagt, der Wellensittich sei weggeflogen«, sagt sie mit bebender Stimme.
Ich kneife die Lippen zusammen. Mein Traum von letzter Nacht schnürt mir die Brust zusammen, und plötzlich bekomme ich keine Luft mehr. Ich sehe sie alle an, wage nicht zu sagen, was mir auf der Zunge liegt, weiß jedoch, dass es aus mir herausplatzen wird. Ich starre Tante Promilla an, die der GIF im Laufe der Jahre diverse Haustiere geschenkt hat, einige geliebt, andere gehasst. Doch das erste Haustier, das sie uns geschenkt hat, Rose und mir, war Gus-Gus.
»Wo wir gerade von Tante Promillas Tieren sprechen«, sage ich atemlos und spreche schnell, ehe ich es mir anders überlegen kann. »Etwas wollte ich euch schon seit Jahren fragen: Was ist eigentlich mit Gus-Gus passiert?«
Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Eine ganze Weile passiert nichts. Niemand sagt etwas, niemand rührt sich. Alle blicken vor sich hin – auf ihre Schuhe, an die Wand, auf irgendetwas, nur bloß nicht einander in die Augen. Jharna ist die Einzige, die keine Ahnung hat, dass etwas Verheerendes gesagt wurde. Jharna und Federico, dessen Haar, angesichts all dieser Pfeile, die meine Familie auf mein Herz abschießt, in alle Himmelsrichtungen abstehen.
Meine Mutter blickt auf ihre Turnschuhe, mein Vater auf den Laminatboden. Tante Pinky und Onkel Jat sehen sich in die Augen, dann wenden sie den Blick ab, sehen sich wieder an und wieder zur Seite. Tante Menaka betrachtet gedankenverloren ihre manikürten gelben Fingernägel.
Tante Promilla sagt nichts, nicht ein Wort, aber sie zuckt. Ja, Tante Promilla erinnert sich an den Irischen Wolfshund.
In der Stille, die auf meine Frage nach Gus-Gus folgt, höre ich mein Herz klopfen, und es klingt verdächtig nach einer Zeitbombe.
Schließlich räuspert sich der Onkel. Er wendet sich an Tante Promilla.
»Und? Machst du zurzeit etwas Wichtiges?« Onkel Jat hat etwas gegen die Tierversessenheit von Tante Promilla. »Ich kann dir einen Job besorgen, weißt du. Diese ganzen Tiergeschichten sind als Hobby ja ganz okay, aber sie sind wohl kaum ein Beruf. Wir könnten sie zu einer Wohltätigkeitsorganisation geben …«
Tante Promilla schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern, nickt. Alle möglichen Reaktionen sind abgedeckt. Unruhig sieht sie zu mir.
»Ich bin so froh, dass ich nicht arbeiten muss«, schaltet sich Tante Menaka ein, die auf der Sofalehne sitzt. »Oder mich um Tiere kümmern.«
»Erinnerst du dich an den Hamster?«, fragt mein Vater.
Alle lachen nervös. Sie weichen meinem Blick aus. Sie sprechen über einige andere Tiere, die im Laufe der Jahre in der GIF aufgetaucht sind. Alle sind unruhig.
»In unserem Garten habe ich einmal einen Klammeraffen gesehen«, sagt Federico. »Er hatte die langen Arme und Beine verschränkt. Ich sage euch, der hat meditiert! Ich schwöre, er hatte sogar die Augen geschlossen.« Federico denkt, wir reden einfach so über Tiere. Jharna sieht mich allerdings stirnrunzelnd an.
Alle anderen lächeln und nicken jetzt. Wir können die peinliche Stille überwinden, die ich mit meiner unglückseligen Erwähnung von Gus-Gus ausgelöst habe, der zum selben Zeitpunkt wie meine Schwester verschwand.
»Ich habe einmal überlegt, ob ich stumm meditieren sollte. Für den Rest meines Lebens.« Tante Pinky lacht unsicher.
»Du und stumm!« Onkel Jat gibt einen ungläubigen Laut von sich.
»Schwer vorstellbar«, stimmt Dad ihm zu.
Anscheinend können wir einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen.
Doch dann wirft mir mein Vater einen Seitenblick zu. Nur für einen Sekundenbruchteil, es ist kaum zu merken. Ich weiß, dass alle noch im Kopf haben, was ich gesagt habe. Ich weiß, dass sie kaum atmen können, aus Angst, etwas zu verraten. Aus Angst, etwas zu sagen, das sie nicht mehr zurücknehmen können.
»So gehen wir also damit um?«, frage ich leise.
Jharna sieht mit hochgezogenen Augenbrauen von ihrem Handy auf. Alle anderen schweigen.
Mein Vater reibt sich durchs Gesicht. Plötzlich sieht er alt aus. Er wirkt erschöpft, in seinem Haar sind so viele graue Strähnen. Sein Gesicht sieht eingefallen aus. »Das ist alles meine Schuld«, bemerkt er.
Ich verdrehe die Augen. »Genug, okay? Schluss mit dem Theater.«
»Nein, beta«, sagt Dad. »Das ist unser Text. Wenn du nicht wie eine normale Erwachsene mit dem Alltag zurechtkommst, musst du nach Hause zurückkommen und bei uns wohnen. Wir haben es immer wieder mit dir versucht …«
»Verdammt«, flüstere ich. »Ihr könnt mich alle mal.«
Sie haben es immer wieder versucht? Haben sie es jemals versucht?
Dann merke ich, dass ich nicht sprechen kann. Ich möchte etwas sagen, das ich noch nie sagen durfte, Worte, die mir auch jetzt im Halse stecken bleiben. Worte, die zu sehr schmerzen, um sie laut auszusprechen.
»Bitte, geht einfach«, sage ich schließlich.
Ich möchte, dass es wütend klingt, doch stattdessen bricht meine Stimme, und ich kann niemandem in die Augen sehen. Aller Widerstand ist von mir gewichen. Ich unterdrücke meine Tränen und verlasse kopfschüttelnd den Raum, gehe die Treppe hinauf in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Dort lasse ich mich auf den Boden gleiten, presse fest die Hände auf die Augen und versuche, an gar nichts zu denken. Nicht an meine Familie, nicht an das Chaos, das ich anscheinend aus meinem Leben mache, nicht an Gus-Gus. Und ganz sicher nicht an meine Schwester Rose.