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An Strohhalme klammern
Am nächsten Tag sitze ich zwischen zwei Tutorien in meinem Büro und bemühe mich mit allen Mitteln, mein Handy zu ignorieren, doch es vibriert unablässig. Ich ziehe mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf und weiter bis halb übers Gesicht.
Manchmal will ich nur verschwinden. Irgendwohin, wo mich niemand finden kann. Am Tag, als wir uns kennenlernten, als Simon mich fragte, was die drei schlimmsten Dinge wären, hätte ich genauso gut »andere Menschen« als einen Punkt nennen können. Ich laufe vor anderen Menschen weg und verstecke mich vor ihnen, denn wenn andere Menschen in der Nähe sind, vergesse ich, wer ich bin. Oder zumindest vergesse ich einige der Geschichten, die ich im Laufe der Jahre so sorgfältig über mich gesponnen habe. Manchmal vergesse ich, dass ich sehr gut darin bin – sehr gut darin geworden bin – , anderen etwas vorzuspielen.
Mein Handy hört nicht auf zu vibrieren. Mit einem Auge linse ich auf das Display. Ich weiß, wer es ist, ehe die WhatsApp-Nachricht pingt.
Tante Pinky: Hallo Rilla! Wie geht es dir???
Fünf Minuten später: Hat jemand was von Rilla gehört? Das Mädchen ist wie vom Erdboden verschwunden. Und was ist mit Simon? Wie geht es ihm? Er ist so ein guter, liebenswerter Junge. SOOO SUPERSÜSS!!!!
Onkel Jat: Wie läuft es mit dem Master, Rilla? Ich habe eine Reihe von Jobs, für die du dich bewerben könntest.
Fünf Minuten später: Verheiratet zu sein, hat viele Vorteile. Steuerersparnisse, die Vorteile durch die nächsten Angehörigen, Hypotheken.
Tante Pinky: Wenn du verheiratet bist, nehmen dich die Männer ernster.
Jharna: Die Ehe ist eine archaische Institution, um Frauen kleinzuhalten.
Tante Pinky: Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt?!!!!?!! Haben wir dir das etwa beigebracht? Das ist der Anfang vom Ende, Jat.
Dad: Sie ärgert dich nur, Pinky.
Nach einigen Minuten, in denen Tante Pinky offenbar mit Jharna allein weiterchattet, weil beide online sind, tippt Tante Pinky: Aber wichtiger ist, wie geht es dir, Rilla? Schläfst du? Isst du anständig? Keine Froschschenkel mehr, hoffe ich!
Einige Minuten später: Rilla?
Onkel Jat: Wie wäre es, wenn du rauskommst und wir zum Chinesen gehen?
Tante Pinky: Chinesisch mag ich nicht
Jharna: Du bist so rassistisch, Mummy.
Tante Pinky: Ich bin der am wenigsten rassistische Mensch der Welt!!!!! *empörtes Emoji*
Mum: Meine Nachbarin Su Kim liebt mein Lammcurry.
Ich: Um zu präzisieren, was Mum zu sagen versucht: Chinesisch – Koreanisch = dasselbe
Dad: Rilla, willst du, dass deine Mutter der Schlag trifft?
»Ja, aber wie beurteilen Sie mich wirklich?«
Eine Bachelorstudentin sieht voller Hoffnung zu mir hoch. Alles an ihr ist jung. Ihre glänzenden Fingernägel, mit denen sie sich an der Wange kratzt, ihr Welpenblick, die rosigen Wangen.
»Das ist nicht so toll«, sage ich zu ihrem Aufsatz über Lacans symbolische Ordnung und den Blick auf Hitchcock-Filme. »Und diesen Bezug zu Hockney hast du nur dort eingefügt, um dich interessant zu machen.« Sie nickt nachdenklich.
Andere Studenten warten darauf, mit mir in meiner Besenkammer über ihre Aufsätze zu sprechen.
Professor Grundy fegt herein, sie steht in Rollkragenpullover und olivfarbenem Hosenanzug in der offenen Tür, die Hose mit dem hohen Bund kaschiert die Speckröllchen um ihre Taille nicht. Sie blickt auf die große Uhr, die sie in der Westentasche trägt. Die Bachelorstudenten, einschließlich der Studentin in meinem Büro, verschwinden wie durch einen Zauber.
Professor Grundy sieht blinzelnd ihren sich entfernenden Rücken hinterher. »Das scheint öfter vorzukommen«, überlegt sie. Sie dreht sich wieder zu mir um und reicht mir einen Packen Aufsätze zum Korrigieren. »Alles für Sie. Ich habe einige durchgesehen. Die sind so beschissen, dass ich mir anschließend die Hände desinfizieren musste. Es ist, als würde es sie überhaupt nicht interessieren.«
»Das tut es auch nicht«, sage ich.
Sie mustert mich. »Rilla, wollen Sie mir etwas zeigen? Einige Kapitel? Eins wenigstens?« Sie kraust leicht die Stirn. »Wir würden Sie nur äußerst ungern verlieren, wissen Sie.« Sie klingt nicht übermäßig betrübt, aber die Äußerung ist mehr, als ich von ihr erwartet habe.
»Bei mir war eine Menge los. Aber bald bekommen Sie etwas. Vor den Sommerferien.«
»Das verstehe ich nicht, Rilla.« Sie taxiert mich von Nahem. »Warum bald? Warum nicht jetzt? Als Sie herkamen, haben wir uns so viel von Ihnen versprochen. Was ist passiert?«
Ich schüttle schnell den Kopf. »Ich weiß nicht, Frau Professor, ich weiß es wirklich nicht.«
Und das ist die reine Wahrheit. Mein Leben gerät aus den Fugen, und ich kann nicht mehr tun, als die einzelnen Stränge zusammenzuhalten. Mich um jeden einzelnen Strang zu kümmern und verstehen zu wollen, was er bedeutet – das wäre zu viel. Es ist, als wäre in meinem Herzen die Syntax der Liebe zerbrochen, und die Worte erscheinen völlig ungeordnet. Deshalb kann ich nicht an meiner Masterarbeit schreiben.
»Ihnen ist doch klar, dass Sie nicht länger als Lehrassistentin bleiben können, wenn Sie aus dem Master aussteigen?«, fragt sie.
Ich nicke. Das weiß ich. Kein Job, kein Gehalt. Aber auch auf diese Frage scheine ich mich nicht konzentrieren zu können.
»Rilla, ich habe das Gefühl, dass ich damit nicht zu Ihnen durchdringe«, sagt sie und sieht in mein leeres Gesicht. »Sie verstehen doch, dass mir die Hände gebunden sind, oder? Wenn Sie noch ein Jahr bleiben wollen, brauchen wir einen Vorschlag für Ihre Arbeit. Der ist vier Jahre überfällig.«
»Ich bin erst seit drei Jahren hier.«
»Ja, er hätte schon bei Ihrer Bewerbung vorliegen müssen.«
»Ich arbeite daran«, lüge ich.
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, Kumar«, sagt Professor Grundy. Sie macht das Ich-behalte-dich-im-Auge-Zeichen, dann geht sie.
Kaffee, ich brauche Kaffee.
Fünfzehn Minuten später stehe ich an der Kaffeemaschine im Gemeinschaftsraum des Fachbereichs, den Kaffeebecher in der einen, ein Tütchen brauner Zucker in der anderen Hand. Kein Master, kein Job, kein Simon, kein Master, kein Job, kein Simon, intoniert der Chor in meinem Kopf.
Tyra kommt mit einem Stapel Bücher unter dem Arm und einer ausgebeulten Handtasche über der Schulter herein und umarmt mich einarmig. »Ich gehe am Wochenende in einen Club. Willst du mitkommen?« Tyra versucht seit Wochen, mich zum Mitkommen zu überreden. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie scharf und fasst mich an der Schulter. »Hast du wieder Panikattacken?«
Benommen schüttle ich den Kopf.
»Rilla, Süße, was ist los?«
Sie sieht mir eindringlich ins Gesicht. Ich schüttle den Kopf und zucke mit den Schultern. Doch ehe Tyra noch etwas sagen kann, betreten zwei Kolleginnen den Raum, und es ist offensichtlich, dass die eine geweint hat, denn ihr Gesicht ist rot und geschwollen.
»Hallo, Tyra, Rilla«, sagt die eine.
Die andere, die geweint hat, lässt sich schwer aufs Sofa fallen. Ich versuche, mich an ihren Namen zu erinnern. Sie ist klein, trägt ein neongrünes Brillengestell sowie eine quer gestreifte Tunika in Blau, Fuchsia, Gelb und Grün. Die Schultern sind hochgezogen. Sie verschwindet fast in dem Sofa, obwohl sie in diesem farblosen, muffigen Raum mit ihrer Kleidung wie ein buntes Licht auf einem Schwarz-Weiß-Foto heraussticht.
»Sarah-Lee macht eine schwere Zeit durch.«
Sarah-Lee! Genau.
Das sagt die andere Frau, Lily, die groß und blass ist und so verhärmt aussieht, als wäre sie seit Jahren nicht mehr in der Sonne gewesen. Sie hält eine Kleenex-Schachtel in ihren Händen.
Ich räuspere mich. Lily setzt sich neben Sarah-Lee, dann bedeutet sie Tyra und mir, uns zu ihnen zu gesellen. Tyra legt mir eine Hand auf den Arm und schiebt mich hinüber. Ich kenne sie, das ist ihr Versuch, mich aufzumuntern. Obwohl sie nicht weiß, weshalb ich schlecht drauf bin, meint sie, Gesellschaft sei die Antwort auf alles Übel. Stumm setze ich mich neben Tyra aufs Sofa und starre auf meine Hände.
»Was ist los, Sarah-Lee?«, fragt Tyra, eine Hand auf meinem Rücken.
»Ich will euch nicht langweilen«, sagt Sarah-Lee.
»Erzähl schon«, sagt Tyra hilfsbereit. »Wir wollen es wissen. Stimmt doch, Rilla, oder?«, fragt sie so aufmunternd, als würde sie mit einem Golden Retriever reden.
Ich hole tief Luft. »Klar«, krächze ich, dann räuspere ich mich. »Ja, klar.«
»Ach, es ist nur, mein Mann und ich versuchen schon so lange, schwanger zu werden. Seit zwei Jahren. Und es klappt einfach nicht. Versteht ihr?«, sagt Sarah-Lee.
Ich hebe langsam den Blick.
»Jeden Monat denke ich, es hat geklappt, ich achte auf jedes kleine Zeichen.« Jetzt weint sie wieder. »Und ich denke, das ist es! Jetzt! Und nie stimmt es. Es ist nur das PMS. Wisst ihr?«
»Das tut mir leid, das hört sich wirklich schrecklich an.« Tyra tätschelt ihre Hand.
»Das waren die schlimmsten zwei Jahre meines Lebens«, sagt Sarah-Lee.
»Tut mir leid«, murmle ich. »Das tut mir sehr leid.«
Diese Erinnerungsstütze, wie schwer es andere Leute haben, geht mir zu nahe. Eigentlich sollte es meine eigenen Probleme leichter erscheinen lassen, es sollte mir eine Perspektive geben. Ist es nicht das, was normalerweise passieren soll, wenn wir die Sorgen anderer hören? Doch stattdessen scheint Sarah-Lees Kummer meinen eigenen nur noch zu verstärken.
Später zu Hause in meiner Wohnung rufe ich Mum an. Ich rufe sie an, doch dann habe ich keine Ahnung, was ich sagen soll. Mir geht etwas durch den Kopf, es ist mir eingefallen, als ich Sarah-Lee zuhörte.
Ich räuspere mich. »Die Geschichte, die du letztens beim Mittagessen erzählt hast«, sage ich ungelenk. »Ich meine mit Simon. Ich … ich wusste nicht, dass du und Dad … dass ihr Schwierigkeiten hattet …« Uns. Uns zu bekommen, das wären die richtigen Worte, aber ich kann sie nicht aussprechen. »… ein Baby zu bekommen«, ende ich lahm.
»Wie kommst du jetzt darauf?« Sie klingt überrascht.
»Ach, nur so. Nur weil jemand an der Uni davon erzählt hat, wie schwer es für sie ist, damit umzugehen, nicht schwanger zu werden.«
»Ja. Ja, das war es. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
»Sie … sie sagte, dass es nicht gerecht sei, dass sie ständig daran denke und die ganze Zeit darauf warte.«
»Ja, ja es beherrscht dein Leben.« Mum schweigt einen Moment. »Du … du willst doch irgendwann Kinder haben, oder?« Ihre Stimme klingt ungewöhnlich gefühlvoll.
»Mum, Herrgott.«
»Ich will nicht, dass du am Ende allein bist, Rilla.«
Ich bin jetzt schon allein, will ich sagen, Ich war immer allein. Aber das kann ich nicht sagen.
»Was ändert das, Mum?« Ich klinge müde. »Verstehst du nicht, dass nichts jemals etwas ändert?«
Ich höre sie am anderen Ende atmen. Vielleicht, vielleicht wird sie etwas sagen, zur Kenntnis nehmen, was ich gerade gesagt habe. Ich weiß, dass sie genau weiß, wovon ich rede.
»Du redest komisches Zeug«, sagt sie schließlich. Ihre Stimme klingt angespannt, aber mehr werde ich nicht aus ihr herausbekommen. »Ich wollte dich heute anrufen. Ich wollte dir erzählen, dass Marie angerufen hat.«
»Wer ist Marie?«
Mum macht einen ungeduldigen Laut. »Marie Langton. Die Mutter deines Verlobten.«
»Er ist nicht mein Verlobter«, schnappe ich.
»Sie sagt, die Tür steht dir immer offen.«
»Warum hat sie das gesagt?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, sagt Mum. »Anscheinend meint sie, Simon sei nie glücklicher gewesen als in der Zeit mit dir.«
»Er ist immer glücklich.«
»Marie hat etwas anderes gesagt. Wie dem auch sei, ich dachte, ich sollte es dir erzählen. Es war nett von ihr. Sie klang freundlich am Telefon. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so empfindet, dass sie so ehrlich ist. Sie erschien mir ein bisschen hochnäsig.«
Und das war’s. Das Gespräch über Babys ist vorbei – oder worüber wir auch immer gerade geredet haben.
Am nächsten Tag auf dem Campus kommt Sarah-Lee in die Besenkammer, weil sie dort nach mir ihre Sprechstunde abhält. Sie trägt eine Yogahose von Stella McCartney und ein Tanktop mit auf dem Rücken gekreuzten Trägern in Pink, hat eine Yogamatte umgehängt und trinkt Kokosnusswasser. Ihr Haar ist zu einem eleganten Knoten gedreht. Ich stehe auf und packe meine Sachen zusammen, um ihr Platz zu machen.
»Hallo, Rilla«, sagt sie traurig.
»Hallo, wie geht’s?«
Ich will sie nicht ansehen, denn ihr betrübter Blick überfordert mich im Moment. Schnell werfe ich mir die Tasche über die Schulter. Dann sehe ich sie doch an, und sie lächelt tatsächlich.
»Tut mir leid wegen gestern, manchmal ist es zu viel.«
»Schon okay. Verstehe.«
Sie nickt. »Wenn es nicht klappt, können wir immer noch ein Kind adoptieren.«
Langsam sehe ich sie an. »Ja. Das ist eine gute Idee.«
»Ich bin selbst adoptiert, weißt du.«
»Ach, das wusste ich nicht.«
»Es war das Beste, was mir je passiert ist. Ich weiß, das ist nicht für alle so. Aber für mich, nachdem ich von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht wurde, war es – ja, wie nach Hause zu kommen. Plötzlich hatte ich eine Familie, Eltern, eine Schwester. Kannst du dir das vorstellen? Es war alles, was ich mir jemals erträumt habe. Ich meine, versteh mich nicht falsch, die ersten Jahre prägen einen, sie können einen schon oberwachsam machen.« Sie lächelt. »Aber schließlich habe ich meine Familie bekommen.«
Ich nicke und spüre, wie mich ein Schauer durchläuft. »Das freut mich für dich.«
Später an diesem Tag schickt Jharna mir per E-Mail eine weitere Liste.
»Hey, Sis«, schreibt sie. »Alles klar bei dir? Pass auf, ich habe noch ein paar Namen für dich. Irgendwelche Treffer bei der vorigen Liste? Irgendeine verheißungsvolle Spur? Wahrscheinlich nicht, sonst hättest du dich sicher gemeldet. Stimmt’s? Ich mach weiter. Halt die Ohren steif. Xxxx.«
Die erste Liste, die Jharna mir gegeben hat, liegt in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch und sieht mich jeden Tag wie ein Monster an. Ich kann nicht schlafen, weil ich weiß, dass sie da ist, und jetzt gibt es noch eine Liste. Schnell lösche ich die E-Mail und schlage den Laptop zu. Was ist los mit diesem Mädchen? Hat Jharna nichts Besseres zu tun, muss sie nicht für irgendeine Prüfung lernen, sich an der Uni bewerben?
Und überhaupt, sage ich mir, auch wenn ich sie darauf angesetzt habe, ist es überaus unwahrscheinlich, dass Gareth Jones etwas mit Rose zu tun hat. Also ist es egal. Weder die Liste in meinem Zimmer noch die in meinem Gelöschte-Objekte-Ordner spielt irgendeine Rolle. Ich bin mit Gareth Jones auf dem Holzweg.
Doch irgendwie lassen mich folgende Fragen nicht los: Warum schickt dieser Mann meiner Mutter jedes Jahr an meinem Geburtstag eine E-Mail? An Roses Geburtstag? Und was haben diese merkwürdig knappen Mails zu bedeuten?