Juan beobachtete Winslows Mienenspiel genau, als der Chef der Forschungsabteilung von AgriMed in dem dicken Bericht der Klinischen Studie blätterte, der die Fortschritte dokumentierte, die Juan bei seinen derzeitigen Experimenten mit den Ratten erzielt hatte.
Es war warm im Raum, ein wenig zu warm. Juan atmete den Geruch des Lederstuhls tief ein, auf dem er saß.
Wenn alles gut ging, würde er die Genehmigung erhalten, erste klinische Untersuchungen am Menschen durchzuführen. Nur war Juan schon mehrmals an diesem Punkt angekommen. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, alles bis auf das letzte Komma korrekt erfasst und dargelegt zu haben, hatte Winslow weitere Fragen aufgeworfen, auf die Juan noch keine Antworten hatte geben können. Der Direktor war wahrhaftig ein Erbsenzähler, wenn es um die Einhaltung der Vorschriften ging.
Es waren harte, arbeitsreiche Jahre gewesen, aber jetzt war sich Juan sicher, dass er an der Schwelle zu etwas ganz Großem stand.
Ohne vom Bericht aufzublicken, fragte Winslow mit belegter Stimme: »Bei Versuchstier 153 zeigt sich also fortgesetzte Tumorresistenz, aber dieses metabolische Panel hier zeigt eine permanent erhöhte
Kerntemperatur. Haben Sie dafür schon die Ursache herausfinden können?«
»Noch nicht, Sir. Wir konnten die Funktion für die meisten veränderten Gene identifizieren und sind jetzt dabei, einen Gen-Knockout-Assay durchzuführen. Ich hoffe, dass wir schon in den nächsten Monaten die Veränderungen der wichtigsten Genfragmente weiter einengen können.«
Winslow beugte sich vor und starrte Juan durchdringend an, während er mit den Fingern auf die Schreibtischplatte trommelte. »Und wie wollen Sie dieses Wissen bei der Behandlung menschlicher Patienten einsetzen?«
Ein Schauder lief über Juans Rücken und sein Herzschlag beschleunigte sich. Das war das erste Mal, dass einer seiner Vorgesetzten tatsächlich andeutete, dass beim nächsten Schritt menschliche Patienten involviert sein könnten.
»Sir, wir nutzen virale Erreger bereits bei der Behandlung der Versuchstiere. Seit kurzem haben wir erfolgreich Sporulation angewandt, so dass die Viren aufgenommen werden konnten, die Sporen platzten im Gedärm des Tieres, und erst dort begannen sie, ihr genetisches Material zu streuen.«
Zu Juans Überraschung blickte ihn der Direktor mit warmem Lächeln an. »Junger Mann, wenn das alles wirklich funktioniert, werden Sie die Gentherapie und die Onkologie revolutionieren.«
Juan errötete verlegen und erfreut zugleich.
»Ja«, fuhr Winslow fort, »mir gefällt die Richtung, die Sie hier einschlagen, und um offen zu sein, Ihre Ergebnisse sind schon jetzt absolut bemerkenswert. Sie glauben wahrscheinlich, wir führen uns hier wie richtige Korinthenkacker auf, und das stimmt vielleicht sogar. Aber dafür haben wir gute Gründe. Denn sollte es Ihnen durch irgendein Wunder tatsächlich gelingen, aus dieser Sache etwas zu machen, werden wir eine Menge Leute in der FDA und in anderen staatlichen Behörden davon überzeugen müssen, bevor wir weitere Schritte wagen können.«
Er richtete den Zeigefinger auf Juan. »Jetzt sind Sie wieder am Ball. Führen Sie Ihren Knockout-Assay zu Ende. Und wenn Sie dann
die Veränderungen der wichtigsten Genfragmente genau bestimmen können, kommen Sie wieder zu mir. Ich werde Ihnen dann helfen, diese Sache durch den Ethikrat zu bringen, um die Genehmigung für eine Phase-0-Studie mit Menschen zu bekommen.«
Juans Gedanken überschlugen sich, als er daran dachte, was er als Nächstes zu tun haben würde. »Danke, Sir. Ich werde mein Bestes geben.«
Winslow kam um den Schreibtisch herum und legte Juan den Arm um die Schultern. »Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
Auf dem Weg zum Gate herrschte dichtes Gedränge. Reagan National Airport war heute belebter als sonst, aber Juan hatte es nicht besonders eilig. Sein Flug von Washington nach Rochester würde um zwei Stunden verspätet starten. Er hatte sich in eine Airport Lounge gesetzt und begnügte sich in der Wartezeit mit einem einzigen Bier.
Er konnte kaum ein ständiges Lächeln unterdrücken, seitdem ihm klar geworden war, dass er sein Ziel fast erreicht hatte. Vielleicht entwickelte sich das, was er ganz am Anfang für eine fantastische, unausgegorene, fast verrückte Idee gehalten hatte, zu etwas, das Millionen Menschenleben retten konnte. Er trank einen Schluck Bier und sagte halblaut vor sich hin: »In ein paar Monaten behandle ich vielleicht sogar meinen ersten Patienten.«
Juans Handy vibrierte; er warf einen Blick auf das Display. »Miguel? Was ist los?« Sein jüngerer Bruder rief nur selten mitten am Tag an.
»Juan! Du wirst es nicht glauben, was in dem Brief steht, den ich gerade erhalten habe!«
Juan verspannte sich und blaffte Miguel an: »Spann mich nicht auf die Folter – was ist los?«
»Ich habe gerade die Zulassung zum Medizinstudium bekommen!«
Die nervöse Anspannung wich wieder und Juan lehnte sich erleichtert auf dem billigen, mit Vinyl gepolsterten Stuhl zurück
.
Sein Bruder verkündete jubilierend: »Und du wirst nicht glauben, von welcher Medical School!«
Juan wusste, dass sich Miguel bei einer ganzen Reihe von Ausbildungskrankenhäusern beworben hatte. »Keine Ahnung. Vielleicht, äh, Universität Miami? Sie haben eine ziemlich gute Medi…«
»Yale Medical School! Keine andere als Yale, Bruder! Kannst du dir das vorstellen? Ein Kid aus dem Barrio studiert an einer Elitehochschule!«
»Miguel, das ist absolut super!« Juan strahlte, während ihm Miguel das Zulassungsschreiben Wort für Wort vorlas.
Gleichzeitig war ihm klar, dass damit der Augenblick viel näher rückte, in dem er Miguel gegenüber die Fassade nicht mehr aufrechterhalten konnte, er könne die Studiengebühren an einer Elitehochschule mit Mums »Lebensversicherung« bezahlen. Selbst bei einer weniger renommierten Universität wäre es Juan schwer gefallen, die Studiengebühren aufzubringen; im Falle einer Eliteuni musst er sich eingestehen, dass er die 50 000 Dollar schlicht nicht aufbringen konnte, die in den nächsten Jahren jedes Jahr fällig würden. Dieses Gespräch hatten die beiden Brüder schon einmal geführt, als Miguel nach seinem ersten Studienjahr an der Georgia Tech begonnen hatte, sich um einen Studienplatz an anderen Hochschulen zu bewerben.
»Ach, übrigens, mach dir keine Sorgen wegen der Studiengebühren!«,
fuhr Miguel aufgeregt fort. »Ich zahle sie selbst. Ich habe schon eine Unmenge Studienstiftungen entdeckt, bei denen ich mich um ein Stipendium bewerben will. Manche fördern sogar ausdrücklich nur Latinos, und bei einigen hätte ich gute Chancen… Ich wünschte nur, ich wäre Jude, die haben noch viel bessere Möglichkeiten. Und dann gibt es ja auch noch Studienkredite. Ich will nicht, dass du dir darüber Sorgen machst, Bruder.«
Juan nickte, während er zuhörte. »Hey, ich bin total stolz auf dich. Und bestimmt lächelt Mum gerade auf dich herab. Halte mich auf dem Laufenden, was die Stipendien angeht. Natürlich finde ich es gut, dass du dich bewirbst, aber ich werde trotzdem helfen, so gut ich kann.«
»Nein, das sollst du nicht. Ich bin ziemlich sicher, dass du mir bei
der Sache mit Mums Lebensversicherung eine Menge Mist aufgetischt hast. Ich will dir nicht noch länger zur Last fallen.«
Stolz wallte in Juans Brust auf, es war ein warmes Gefühl. Miguel war schon immer ein unglaublich gescheiter Junge gewesen.
»Ich werde es schaffen, Juan, glaub mir! Diese Chance werde ich mir nicht entgehen lassen!«
»Das weiß ich. Ich liebe dich, hermano
. Melde dich bald wieder.«
»Ich liebe dich auch, Bruderherz.«
Kurz nachdem Juan das Gespräch beendet hatte, ertönte eine neue Durchsage.
»Meine Damen und Herren, dies ist der Aufruf für die Passagiere für American Airlines Flug 4359 nach Rochester. Wir beginnen mit dem Boarding und bitten zunächst Passagiere mit kleinen Kindern sowie Passagiere mit besonderen Bedürfnissen, sich zum Che...
Endlich.
Juan trank den letzten Schluck des inzwischen warmen Biers, sammelte seine Sachen ein und ging zum Gate. Unterwegs kam er an einem Zeitungsstand vorbei und beschloss, noch eine Flasche Wasser zu kaufen. Er öffnete die Glastür des Kühlschranks mit den Getränken und entdeckte eine Geldbörse. Größe und Form ließen vermuten, dass es eine Frauenbörse war. Offenbar hatte sie jemand abgelegt, um ein Getränk herausnehmen zu können, und danach vergessen. Er blickte sich um, konnte aber niemanden in der Nähe entdecken.
Miguels gute Nachricht hatte Juan in Hochstimmung versetzt, weshalb er beschloss, heute mal wieder eine Gute Tat zu vollbringen und die Börse zum Fundbüro zu bringen. Wo auch immer das sein mochte. Sein Flug war gerade zum ersten Mal aufgerufen worden, er hatte also noch ein wenig Zeit.
Die Börse lag offen im Kühlfach, die Führerscheinkarte war in einem der Steckfächer zu sehen. Dem Bild nach zu urteilen, war die Besitzerin eine attraktive Rothaarige mit leuchtend grünen Augen.
Juan verspürte plötzlich einen Stich des Mitleids, als er sich vorstellte, in welche Panik die Frau geraten würde, wenn sie den Verlust entdeckte.
Er blickte sich genauer um und entdeckte tatsächlich eine Frau mit
leuchtend roten Haaren, die durch den Terminal ging und sich suchend umblickte.
Juan warf einen Blick auf den Führerschein, las den Namen und rief: »Hey, Katherine!«
Die junge Frau blieb stehen und drehte sich um.
Juan hielt die Börse in die Höhe.
»Oh mein Gott!« Sie kam hastig herbeigelaufen. »Danke, vielen Dank! Ich fasse es nicht, dass ich so blöd war… Jetzt fällt es mir wieder ein… ich wollte eine Flasche Wasser kaufen, aber dann…«
Sie nahm die Börse entgegen und überprüfte kurz die Kartenfächer und den Inhalt, dann schaute sie ihn zum ersten Mal direkt an. Tatsächlich waren ihre Augen so leuchtend grün, wie sie auf dem Foto erschienen – Juan hatte noch nie solche Augen gesehen. Und sie war atemberaubend schön.
Juan stockte vor Verlegenheit der Atem.
Sie hielt ihm einen Zwanzig-Dollar-Schein hin. »Danke vielmals, dass sie so ehrlich waren… Bitte nehmen Sie das…«
»Das ist nicht nötig«, lehnte Juan ab. »Ich bin froh, dass ich Sie noch entdeckt habe. Sonst hätte ich die Börse zum Fundbüro bringen müssen.«
»Na ja, nicht jeder wäre so ehrlich gewesen.«
Sie lächelte, und für Juan kam die Welt für einen kurzen Augenblick zum Stillstand.
»Aber ich muss weiter«, fügte sie hinzu. »Jemand wartet auf mich.« Sie hielt die Börse mit beiden Händen in einer Dankesgeste vor sich. »Danke noch einmal. Vielen Dank!« Dann drehte sie sich um und eilte davon, am Security Check vorbei. Dann war sie verschwunden.
»Aufruf für American Airlines Flug 4359 nach Rochester. Wir beginnen nun mit dem Boarding. Bitte begeben Sie sich zu Gate 3.«
Juan blickte der rothaarigen Frau nach, doch schließlich wandte er sich um. Er verspürte ein Bedauern, wie nach einem Verlust. Krieg dich wieder ein, Juan. Sie ist nur irgendein hübsches Mädchen, das seine Geldbörse vergessen hat.
Aber als er den Boardingpass aus der Brusttasche zog und ihn der Bodenstewardess am Gate reichte, stellte er fest, dass ihm das grünäugige
Mädchen nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte. Es war, als hätte sich ihr Gesicht in sein Gedächtnis eingraviert.
Auch ein paar Minuten später, als er bereits im Flugzeug saß, das sich langsam vom Gate entfernte, ging ihm ihr Gesicht nicht aus dem Sinn. Er schüttelte den Kopf. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Er wusste aus Erfahrung, dass er normalerweise Probleme hatte, sich an den Nachnamen seiner jeweils aktuellen Freundin zu erinnern, aber aus irgendeinem Grund glaubte er, dass er den Namen der fremden Frau nie mehr vergessen würde.
»Katherine O'Reilly«, murmelte er vor sich hin, »verschwinde endlich aus meinem Kopf.«
Kathy saß an ihrem Schreibtisch und warf einen Blick über die Schulter auf das zerwühlte Bett ihrer Mitbewohnerin. Die Tür der Studentenbude stand halb offen; vom Flur drang das Kichern der anderen Studentinnen herein.
Es kam ihr sehr seltsam vor, wieder Studentin zu sein. Wie eine Rückkehr in die Vergangenheit.
Erst drei Wochen waren vergangen, seit Kathy Father Carson alles gebeichtet hatte, was sich ereignet hatte. Drei Wochen, seit er ihr eine ziemlich ungewöhnliche Buße aufgebrummt hatte.
Die Buße hatte darin bestanden, dass er ihr »auferlegt« hatte, das Studium wieder aufzunehmen. Das Geld, das ihr das Unternehmen ausgezahlt hatte, sei einer der Gründe für ihre Schuldgefühle – sie solle es dafür nutzen, ihr Leben wieder in die richtigen Bahnen zu bringen.
Das war ihr zuerst unmöglich erschienen. Man konnte nicht einfach beschließen, wieder an die Uni zurückzugehen und hoffen, schon nach zwei oder drei Wochen wieder im Seminarsaal zu sitzen. Aber Father Carson hatte ein kleines Wunder vollbracht. Anscheinend saß einer seiner besten Freunde im Vorstand der Universität Georgetown, der ältesten katholischen Universität des Landes, die mit einigen ihrer Fakultäten zu den Spitzenuniversitäten zählte. Und bevor Kathy auch nur wusste, was geschah, war sie zum Studium zugelassen worden.
Zwar war sie sieben Jahre älter als die übrigen Erstsemester in der Darnall Hall, fühlte sich aber von ihren Kommilitoninnen herzlich aufgenommen.
Sie wandte sich wieder dem Stapel der Lehrbücher auf ihrem Tisch zu und griff nach einem rot eingebundenen Buch mit dem Titel Genetics
auf dem Buchrücken. Diesen Kurs würde sie zwar erst im kommenden Semester belegen, wollte sich aber schon vorab mit dem Thema vertraut machen… aus ganz persönlichen Gründen.
In das Buch hatte sie mehrere Ausdrucke gelegt, die sie nun schon zum hundertsten Mal betrachtete.
Von den rosafarbenen Narben überall an ihrem Körper abgesehen, waren diese Daten – die insgesamt über 200 Seiten ausmachten – der einzige Beweis, dass das, was sie damals auf der Insel erlebt hatte, wirklich geschehen war.
Der Ausdruck stammte von dem USB-Stick, den sie aus dem geheimnisvollen Labor geschmuggelt hatte. Sie hatte die Daten ausgedruckt, sobald sich dazu eine Gelegenheit geboten hatte, und hatte jede der vielen Seiten mindestens einmal genau durchgelesen, oder jedenfalls die Seiten, die sie lesen konnte, denn leider war die Hälfte der Berichte auf Deutsch abgefasst. Doch sie wäre ohnehin nicht daraus schlau geworden, selbst wenn alles auf Englisch verfasst worden wäre.
Bisher hatte sie aus alledem nur folgern können, dass auf der Insel irgendein genetisches Forschungsprojekt betrieben wurde. Und dass diese Forschung streng geheim war. Darauf wurde mit dem Aufdruck COSMIC TOP SECRET #53823 unübersehbar und unmissverständlich hingewiesen, der als blassrotes Wasserzeichen diagonal über die meisten Seiten gedruckt war. Die Seiten, die in englischer Sprache abgefasst waren, trugen gewöhnlich nicht weniger ominöse Markierungen wie TOP SECRET//SI-G DRWN//TK. Nach kurzer Recherche im Internet hatte sie herausgefunden, dass derartige »COSMIC«-Kennzeichnungen für »streng geheime« Dokumente der NATO oder der US-Regierung verwendet wurden.
Was wahrscheinlich bedeutete, dass sie keine Kenntnis von diesen Dingen haben sollte. Selbst wenn sie die Daten nicht gestohlen hätte,
würde sie sich schon allein durch den bloßen Besitz der Dokumente strafbar machen.
Sie schaute die erste Seite noch einmal genauer an.
Darwin File #390AE202D80E
Zusammenfassung: Unter Verwendung des Darwin-Algorithmus V3.4 konnten wir feststellen, dass die Gen + 15 000-Ergebnisse für die Prachtfinkenart Gouldamadine (Erythrura gouldiae) Versuchstiere mit einer überdurchschnittlich hohen Resistenz gegen Fibrosarkome hervorbrachten. Ihre Morphologie entsprach zwar noch immer im Wesentlichen der Spezies, aber es wurden Veränderungen im Schwarmverhalten festgestellt. Dem Prüfplan entsprechend, werden die Computer den Algorithmus auch für das nächste Stadium verwenden; gleichzeitig wird jedoch die Analyse der aktuellen Population fortgesetzt.
Wissenschaftlicher Leiter:
Dr. Deidrick Müller
Berater:
Hans Reinhardt, Bundesnachrichtendienst
Ian Wexler, DARPA – BTO
»Kathy!«
Kathys Mitbewohnerin, eine energiegeladene Blondine namens Sophia, platzte in das Zimmer, riss eine Schublade auf und zog einen einteiligen Badeanzug heraus. »Ein paar von den anderen Mädchen gehen zum Pool. Willst du nicht mitkommen?«
Kathy schüttelte den Kopf. »Ich kann grade nicht, Sophia. Vielleicht komme ich später nach.«
»Bist du sicher? Falls du einen Badeanzug brauchst… Ich kann dir einen leihen.«
Kathy stellte sich vor, wie die Leute reagieren würden, wenn sie sie
in einem Badeanzug zu sehen bekämen – von Kopf bis Fuß bedeckt von rosa Narben. »Das ist lieb von dir, aber bei ein paar Seminaren fühle ich mich sehr unsicher… an das Lernen muss ich mich erst wieder gewöhnen. Ist schließlich schon eine Weile her, seit ich zuletzt büffeln musste.«
Sophia zog einen dramatischen Schmollmund, während sie in den Einteiler schlüpfte. »Vielleicht lernen wir mal zusammen, wenn ich wieder zurück bin?«
»Das wäre super.«
Sophia wickelte sich in ein weißes Frotteestrandtuch, ging zur Tür und rief lachend. »Na dann, viel Spaß. In einer Stunde kommst du uns heulend nachgelaufen!«
Professor Wilkinsons dröhnende Stimme füllte mühelos den Hörsaal. »Das war's für heute. Sie kennen Ihre Aufgaben. Ich weise noch einmal auf das hin, womit Sie es diese Woche im Labor zu tun bekommen: Sie werden Experimente zum Nachweis der Substratkettenphosphorylierung durchführen, die zu unserem Studienabschnitt über Glykolyse und den Krebs-Zyklus gehören, den Sie auch unter der Bezeichnung Citratzyklus kennen. Und wie immer hoffe ich, dass Sie sich schon vorab mit der Materie beschäftigt haben, damit Sie sofort anfangen können.«
Kathy besuchte Wilkinsons Kurs nun schon seit zwei Monaten und wusste daher, was der Professor eigentlich meinte, wenn er »ich hoffe« sagte: eine unabdingbare Voraussetzung. Alle stimmten überein, dass Wilkinson der härteste Prof in der gesamten Fakultät war. Seine Seminare für Erstsemester galten als eine Art Hürdenlauf, bei denen er die Spreu vom Weizen trennte.
Zwei Minuten vor dem Ende des Seminars, als die meisten Studenten bereits ihre Unterlagen einzupacken begannen, wandte sich der Professor noch einmal an seine Studenten. Er klopfte auf das Mikrofon, um sich in der allgemeinen Aufbruchsunruhe bemerkbar zu machen. »Ach, eins noch: Wer im nächsten Semester Genetik belegen
will, wird vielleicht den Vortrag eines Gastdozenten interessant finden, der heute Abend im Konferenzzentrum der Universität stattfindet. Der Redner wird sich mit der Frage befassen, wie sich die bisherigen Ergebnisse der Genforschung auf die Fortschritte in der heutigen und zukünftigen Medizin auswirken. Der Vortrag beginnt um 18 Uhr, aber ich empfehle Ihnen, etwas früher zu kommen, wenn Sie noch einen Platz finden wollen.«
Die Ankündigung erregte Kathys Interesse. Sie packte ihren Laptop ein und warf einen Blick auf die Wanduhr.
Um 17 Uhr hatte sie einen Untersuchungstermin in der Campus-Klinik. Sofern das Wartezimmer nicht überfüllt war, würde sie es wohl rechtzeitig zu dem Vortrag schaffen.
Kathy kam es so vor, als hätte sie einen 30 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken, als sie der Krankenschwester in den hinteren Bereich der Klinik folgte. Seit Monaten litt sie an einer ständigen, dumpfen Müdigkeit, die nicht weichen wollte. Zuerst hatte sie es einer Depression zugeschrieben, aber schon bald festgestellt, dass es nichts mit ihrem psychischen Befinden zu tun hatte, oder jedenfalls nicht mehr. Tatsächlich hatte sie seit langem nicht mehr so optimistisch in die Zukunft geblickt wie gerade jetzt; wieder zu studieren war die richtige Entscheidung gewesen. Nein, es musste eine andere Ursache haben. Sie fühlte sich ausgelaugt. Ständig körperlich erschöpft.
Die Schwester blieb vor einer Waage stehen. »Wir überprüfen zuerst Ihre allgemeinen Gesundheitsdaten. Bitte stellen Sie sich auf die Waage.«
Kathy runzelte die Stirn, als sich die Digitalanzeige immer höher bewegte – ungefähr fünf Kilogramm über ihrem Normalgewicht.
»Gut«, meinte die Schwester. »Für Ihre Größe von 1,62 Metern liegt Ihr Gewicht im Normalbereich.«
Die mütterliche Stimme der Krankenschwester beruhigte Kathy ein wenig, zumal sie ihr klar war, dass sie seit dem Zwischenfall auf der Insel keinerlei Sport mehr betrieben hatte. Im Moment wollte sie nicht
mitanhören müssen, sie solle sich körperlich mehr betätigen oder abnehmen.
Geduldig ließ sie die Blutdruckmessung und die Pulsoxymetrie über sich ergehen. Der Blick in ihre Mundhöhle und ihre Reflexe zeigten keine Auffälligkeiten.
Die Fiebermessung ergab 37.7 Grad Celsius. »Na, anscheinend haben Sie leicht erhöhte Temperatur. Wird Ihnen öfters zu warm?«
Kathy zuckte die Schultern. »Eigentlich nicht. Ich fühle mich nicht krank, nur ständig müde.«
Während sie auf den Arzt wartete, las sie die Poster an den Wänden – Empfängnisverhütung, Geschlechtskrankheiten… Das überraschte sie, schließlich war das hier eine katholische Universität. Aber natürlich hatte sie schon vom zwanglosen Miteinander von Frauen und Männern an die Universitäten gehört – beide Geschlechter »schliefen herum«, ohne sich auf dauerhafte Beziehungen einlassen zu wollen. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, dass es an der Georgetown-Universität anders sein würde. Sie selbst fand diese »Abschleppkultur« widerlich. Sie war bisher nur mit einem Mann zusammen gewesen, und der lebte nicht mehr.
Ein verblüffend großer Arzt kam herein, der größte Mann, den Sie jemals gesehen hatte. Er musste den Kopf senken, als er durch die Tür kam, und als er ihr die Hand schüttelte, stellte sie fest, dass seine Hand fast doppelt so groß war wie ihre. Der Mann war ein Riese.
»Katherine O'Reilly, ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Dr. Al-Siddiqui.« Er zog einen Rollhocker heran, setzte sich ihr gegenüber und blätterte in ihrer Patientenakte. »Sie sagen, Sie leiden an ständiger Müdigkeit.«
»Ja. Ich fühle mich nicht kraftlos, aber… nun, es ist, als würde ich ständig durch Wasser waten. Alles, was ich mache, fällt mir schwer und kostet mich mehr Mühe als es sollte. Es… es ist schwer zu erklären.«
Der Arzt kritzelte ein paar Notizen in die Akte, dann schaute er Kathy mitfühlend an. »Nun, Ihre allgemeinen Werte sind gut, keinerlei Auffälligkeiten. Leicht erhöhte Temperatur, aber draußen ist es warm, oder Sie haben eine leichte Erkältung oder so. Darüber müssen Sie sich
keine Sorgen machen.« Wieder blätterte er in der Akte. »Auch Ihr Blutbild ist größtenteils gut, aber Sie haben einen Mangel an Vitamin B12 und eine leichte Anämie. Das könnte eine Erklärung für Ihr Ermüdungsgefühl sein. Wir geben Ihnen eine B12-Spritze, aber die Anämie möchte ich vorerst lieber mit einer Veränderung Ihrer Ernährungsgewohnheiten behandeln. Sie sind nicht zufällig Vegetarierin?«
»Nein, ich bin mit Fleisch und Kartoffeln aufgewachsen, aber in letzter Zeit habe ich auch mehr Fisch und Geflügel gegessen.«
»Ich möchte vorschlagen, dass Sie öfters rotes Fleisch zu sich nehmen – mindestens ein- bis zweimal die Woche. Außerdem dunkelgrünes Blattgemüse, zum Beispiel Kohl oder Spinat, denn sie sind ebenfalls stark eisenhaltig. Mehr Eisen im Blut verbessert den Sauerstofftransport, und das wird Ihnen dann wieder mehr Schwung verleihen. Wäre Ihnen das möglich?«
Kathy lächelte. »Mein Dad ist Rinderfarmer. Ja, das mit dem roten Fleisch kriege ich auf jeden Fall hin.« Wenn sie ihrem Dad erzählte, dass ihr der Arzt mehr Rindfleisch empfohlen hatte, würde er ihr wahrscheinlich auf der Stelle eine halbe Tonne Rindersteaks schicken, Expresslieferung.
»Na wunderbar, dann machen wir das so.« Als der Arzt aufstand, ragte er wie ein Wolkenkratzer über ihr empor. »Kommen Sie in einem Monat wieder her, damit wir Ihr Blutbild und die Anämie noch einmal untersuchen können. Haben Sie noch Fragen?«
»Nein, Sir.«
»Okay – achten Sie auf Ihr Befinden. Wenn Sie glauben, dass sich die Erschöpfung verschlimmert, kommen Sie bitte sofort wieder her. In diesem Fall müssten wir etwas anderes versuchen.«
Die grauhaarige Sprechstundenhilfe gab Kathy einen gelben Lutscher. »Ich finde, so ein Lutscher hilft gegen viele Wehwehchen. Ich bin gleich wieder da, aber dann werde ich Sie ein bisschen piksen müssen.«
Nate schob seinem Vorgesetzten Jeff Binghamton den Ermittlungsbericht über den Schreibtisch.
»Das ist alles wirklich sehr verdächtig, Jeff«, sagte er. »Die Insel war praktisch mit Brandbeschleuniger getränkt und alles ist sehr gründlich niedergebrannt worden. Was immer dort vor sich ging, musste offenbar geheim gehalten werden. Natürlich weiß ich, was AgriMed behauptet, dass sie dort gemacht haben – dass sie dort nur bestimmte tropische Pflanzen angebaut hätten, um ihre medizinische Wirksamkeit zu erforschen. Aber unsere Jungs im Labor haben auch ein paar Seriennummern der Geräte herausfinden können, die wir dort gefunden haben, und…«
Während Nate redete, hatte Jeff in dem Bericht geblättert. Jetzt fiel er Nate ins Wort. »Scheiße… der deutsche Nachrichtendienst? Und die CIA?« Er las den entsprechenden Abschnitt laut vor. »›Sechs der sichergestellten zerstörten Computer stammen aus einer Lieferung von 25 Dell Precision Workstations, die vom Bundesnachrichtendienst geordert worden waren. Als Lieferadresse konnte eines der deutschen Büros des BND identifiziert werden.‹ Zitat Ende.«
Er blickte wieder auf. »Was halten Sie von der Sache?«
Nate runzelte die Stirn, kippte den Stuhl auf die Hinterbeine und wippte ein wenig vor und zurück. »Ich denke, es gibt absolut keinen Grund, warum sie für den Anbau und das Züchten bestimmter Pflanzen die ganze aufwändige Technik und Ausrüstung benötigten, die wir vor Ort gefunden haben. Wir haben ja auch keinerlei Hinweise auf ein elektronisch gesteuertes Bewässerungssystem gefunden, oder auf irgendetwas anderes, das mit den Computern gesteuert werden musste. Es ergibt einfach keinen Sinn. Diese Firma machte irgendetwas Ungewöhnliches auf der Insel und ich kaufe ihnen die Story nicht ab, die sie uns geliefert haben – dass sie dort nur eine unschuldige kleine Farm für ihre Versuchspflanzen betrieben hätten. Um dann alles so gründlich abzufackeln? Die ganze Sache stinkt zum Himmel.«
Binghamton nickte nachdenklich und klopfte mit dem Ende eines Bleistifts auf die Tischplatte. »Ich verstehe das alles genauso wenig wie Sie. Aber dass die CIA darin verwickelt sein könnte, macht mir
Probleme. Sind wir denn sicher, dass das stimmt? Denn wenn es so ist, bekommt die ganze Angelegenheit eine völlig neue Dimension.«
Nate griff über den Tisch, blätterte im Bericht ein paar Seiten weiter und deutete darauf. »Das hier sind die Belege für die Lieferungen. Schauen Sie sich die Lieferadresse für die Geräte genau an – sie ist identisch mit der Adresse des CIA-Hauptquartiers.«
Binghamton stöhnte leise auf. »Verdammt, ich habe wirklich genug davon, dass uns diese Burschen ständig verarschen wollen. Kann ja sein, dass die Agency und die Deutschen da irgendeine Sache am Kochen haben, aber was hat die Pharmafirma damit zu tun? Ich sehe die Verbindung nicht. So ein Mist! Und ich habe auch keine Ahnung, ob es sich hier um eine genehmigte Operation handelt. Vielleicht ist es eine streng geheime black op
, über die wir niemals hätten stolpern dürfen, oder eine schurkische Operation, in die ein paar Agenten aus beiden Geheimdiensten heimlich verwickelt sind?« Er schüttelte frustriert den Kopf, dann deutete er mit dem Bleistift auf Nate. »Das riecht nach einer Sachlage, die womöglich unter das FISA fällt, also unter das Gesetz zur Überwachung in der Auslandsaufklärung. Wir, also das FBI, sind berechtigt, einen FISA-Durchsuchungsbeschluss zu beantragen, und genau das werde ich tun. Ich will herausfinden, was die Nachrichtendienste über diese Burschen und diese verdammte Insel wissen. Und was die CIA angeht, werde ich eine formelle Anfrage auf Amtshilfe stellen. Wir werden dann sehen, wie weit wir damit kommen.«
Nate nickte nachdenklich, dann sagte er: »Sir, wenn Sie die Dienstreise genehmigen, würde ich gerne diesem Hinweis im AgriMed-Bericht nachgehen – es ist da von einer Frau die Rede, die von der Insel gerettet wurde. Ich würde gerne herausfinden, was sie darüber weiß.«
Binghamton blätterte wieder in dem Bericht. »Ich sehe hier keine näheren Angaben. Wissen Sie denn, wo sie wohnt oder sich aufhält?«
»Noch nicht, aber im ursprünglichen Bericht, der der Beschwerde angehängt wurde, war ihr Name erwähnt – er klang irisch oder amerikanisch. Ich wollte zunächst einmal eine Suche in den Datenbanken für Pässe und Immigration durchführen lassen. Sollte ich einen Treffer bekommen, würde ich mir die Datenbanken für Bankkonten
vornehmen und ihren Wohnort herausfiltern. Angenommen, dass das ihr echter Name ist und sie unter diesem Namen in die Staaten eingereist ist, stehen die Chancen gut, dass ich sie aufspüren kann.«
»Prima. Machen Sie das. Wie gesagt, die Sache stinkt. Ja, machen Sie weiter. Spüren Sie die Frau auf und schaffen Sie sie hierher, damit wir sie befragen können. Ich stelle inzwischen den FISA-Antrag und das Gesuch auf Amtshilfe. Wir rollen die Angelegenheit von zwei Seiten her auf und treffen uns dann in der Mitte. Bitte halten Sie mich über Ihre Ermittlungen auf dem Laufenden.«
Nate zögerte. »Sir… Was ist, wenn es sich um eine Operation handelt, von der wir nichts wissen sollten?«
»Wir sind doch alle im selben Team, Nate.«
»Auch mit den Deutschen?«
Binghamton verzog das Gesicht. »Gott, ja, das hoffe ich doch, sofern die Sache legal ist. Aber natürlich könnte es auch eine schurkische Operation sein… Auch in Geheimdiensten gibt es immer ein paar schwarze Schafe. Ich denke mal, es wäre keine schlechte Idee, wenn Sie noch einen weiteren Agenten mitnehmen würden. Zur Unterstützung… und um aufzupassen, dass Ihnen nichts geschieht.«