Das Pferd ging in Trab über, als ihm Frank die Fersen in die Seiten drückte. Unwillkürlich musste er grinsen. Seit seiner Erkrankung war er nicht mehr geritten und hatte deshalb befürchtet, dass sich beim Reiten die leider nur allzu vertrauten Schmerzen in den Gelenken wieder einstellen und ihn ständig an seine Krankheit erinnern würden – oder, was noch schlimmer wäre, ihn unmissverständlich darauf aufmerksam machen würden, dass er womöglich noch gar nicht endgültig geheilt war. Aber das war nicht der Fall – er spürte fast keine Schmerzen.
Das Funkgerät vibrierte und Megans Stimme kam aus dem Lautsprecher.
»Frank, gerade kam noch einmal einer der Polizisten vorbei und hat mir erzählt, dass sie den schwarzen Van an der Shell-Tankstelle in Ash Springs gefunden haben. Niemand saß drin.«
»Sind sie denn sicher, dass es derselbe Van ist?«
»Oh ja, es ist derselbe. Der Polizist zeigte mir ein Foto, aber den Ausschlag hat ein Blutfleck gegeben, den sie in dem Wagen entdeckt haben. Ich denke, Jasper hat einem der Typen ein ordentliches Stück Fleisch herausgebissen.«
Frank warf einen Blick nach links, wo Jasper wie verrückt
bellend hinter einem Kaninchen herjagte – wieder einmal. »Verdammt, hätte nie gedacht, dass Jasper den Mumm aufbringt, jemanden ernsthaft zu beißen. Was hat der Polizist sonst noch gesagt?«
»Nicht viel. Der Van war offenbar vor zwei Tagen auf einem Parkplatz in Vegas gestohlen worden. Die Polizei glaubt, dass der Einbrecher ein Junkie war, der dringend Geld brauchte und ein paar Werkzeuge klauen wollte, um sie zu verhökern. Jedenfalls ermitteln sie noch weiter. Bist du fast zuhause?«
»Ja, Ma'am. Jasper und ich sind in zehn Minuten da.«
»Okay, dann habe ich noch genug Zeit, um ein paar Anrufe zu erledigen.«
Keine 30 Meter weiter vorn raste ein Kaninchen über den Weg und Jasper jagte begeistert hinterher.
Frank rief dem Hund gutmütig zu: »Jasper, gib's auf! Du wirst das Ding nie einholen.«
Aber Jasper jagte unbeirrbar über das Feld, wobei ganze Grasbüschel unter seinen Hinterpfoten aufwirbelten. Das Kaninchen hatte einen Vorsprung von gut zehn Metern und raste im Zickzack auf seinen Bau zu.
Doch plötzlich passierte es: Das Kaninchen musste auf dem taufeuchten Gras ausgerutscht sein, denn plötzlich überschlug es sich und blick für ein paar Sekunden wie betäubt liegen.
Frank hob sich aus dem Sattel und schaute gespannt hinüber. Jetzt würde dieser verrückte Köter endlich das Kaninchen fangen, das ihm seit Monaten ständig entkommen war.
Aber zu Franks völliger Verblüffung bremste Jasper ab und blieb ungefähr fünf Meter von dem Kaninchen stehen. Und wartete.
Schon hatte sich sein Beutetier wieder erholt und raste weiter. Und Jasper raste mit weit heraushängender Zunge hinter ihm her. Dem Hund machte die Jagd offenbar einen Riesenspaß.
»Na, ich kann's nicht glauben«, murmelte Frank vor sich hin.
Das Kaninchen entkam in seinen Bau und Jasper blieb vor dem Erdloch stehen und bellte es an.
»Das reicht für heute, Jasper!«, brüllte Frank hinüber. »Du hast das
Kaninchen fast zu Tode gehetzt. Los, komm, zu Hause gibt's Mittagessen.«
Er presste ein paarmal die Beine gegen die Flanken und das Pferd ging in einen leichten Trab über.
Jasper schloss zu Frank auf und rannte neben dem Pferd her.
»Ich hab genau gesehen, was du getan hast, Jasper«, sagte Frank. »Du willst das Kaninchen gar nicht fangen, du jagst es nur so zum Spaß, stimmt's?«
Der Hund kläffte und schaute mit seinen großen Hundeaugen zu ihm auf.
Frank lachte. »Du bist der seltsamste Köter, der mir je begegnet ist. Aber ich bin froh, dass wir uns kennengelernt haben, Jasper.«
Als Frank ins Haus kam, saß Megan am Esszimmertisch und begrüßte ihn mit finsterer Miene.
Diesen Blick konnte Frank überhaupt nicht leiden.
»Was hab ich jetzt wieder verbrochen?«, fragte er frustriert und schob die Haustür zu.
Megan warf mit einer ungeduldigen Kopfbewegung ihr kastanienbraunes Haar aus der Stirn. »Ich habe endlich im VA eine Krankenschwester erreicht, die über die Studie Bescheid weiß, Frank. Und weißt du, was sie mir erzählt habt? Dass deine klinische Studie längst eingestellt worden sei oder solchen Unfug, und sie war völlig überrascht, dass wir das nicht wussten. Die Teilnehmer seien alle telefonisch informiert worden.« Sie richtete den Zeigefinger vorwurfsvoll auf ihn. »Hast du das gewusst, Frank O'Reilly? Hast du deshalb die Sache immer wieder hinausgeschoben?«
Frank hob verblüfft beide Hände. »Unschuldig, Euer Ehren. Das ist mir völlig neu. Verdammt, Frau, du weißt doch, dass ich nicht gern telefoniere. Ich habe einmal die Zentrale im Krankenhaus angerufen und ihnen aufgetragen, sie sollten den Leuten von der Studie Bescheid sagen, dass ich wieder zu Hause bin. Das war's. Glaubst du wirklich,
ich würde es dann noch tausendmal versuchen?« Er schnaubte verärgert. »Pff. Ich doch nicht.«
Megan runzelte die Stirn, dann entspannte sie sich ein wenig und grinste ihn schief an. »Na schön, dann freust du dich hoffentlich, dass ich Dr. Montgomery angerufen habe. Du hast heute Nachmittag einen Termin.«
Frank stöhnte. »Heute? Muss das sein? Wann genau?«
Megan stand mit seltsamem Lächeln auf, packte ihn am Ellbogen und steuerte ihn zur Treppe. »Wir haben noch zwei Stunden Zeit. Ich dachte… warum nehmen wir beide nicht eine Dusche…?«
Frank blickte auf seine Frau hinab und erwiderte ihr Lächeln. »Zu Befehl, Ma'am.«
Frank trommelte nervös mit den Fingern auf den Stuhllehnen, während er und Megan auf die Ergebnisse der Röntgenuntersuchung warteten.
Megan legte den Kopf an seine Schulter. »Du musst nicht nervös sein. Doc Montgomery hat gesagt, dass die Schwellungen verschwunden sind. Und alle Blutwerte sind normal.«
»Ja, sicher, aber ich habe immer noch ein leichtes Fieber, wer weiß schon, was das heißt.«
Sie klopfte ihm leicht auf den Schenkel. »Ach, jetzt plötzlich machst du dir darüber Sorgen? Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dieses Fieber hast?«
Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sich ein wenig an sich. »Weiß ich doch. Wir werden gleich erfahren, was er zu sagen hat.«
Die kleine Standuhr auf dem Schreibtisch des Arztes tickte gleichmäßig dahin. Gerade als Frank dachte, dass ihn das Ticken noch in den Wahnsinn treiben würde, ging die Tür auf und Dr. Montgomery kam wieder herein. Bevor er nur ein Wort sagen konnte, platzte Megan heraus: »Was sagen die Röntgenbilder?«
Der Arzt hielt kurz einen großen braunen Umschlag in die Höhe. »Die sind hier drin. Schauen wir uns die erst mal an.« Er trat an den
großen Röntgenbildbetrachter an der Wand, schaltete ihn ein und schob zwei große Röntgenaufnahmen in die Halterungen.
Frank verspürte plötzlich ein drückendes Gefühl, als würde ihm ein eiserner Ring um die Brust gelegt. Unwillkürlich hielt er den Atem an, während er auf das Urteil des Arztes wartete. Er mahnte sich, nicht die Nerven zu verlieren und zwang sich, gleichmäßig zu atmen.
Der Arzt deutete auf die links hängende Aufnahme. »Das ist Ihr linkes Knie, als Sie zum ersten Mal zu mir kamen.« Er fuhr mit dem Kugelschreiber an den Rändern des Knochens entlang. »Hier sehen Sie die Schwellung unter dem Periost, also der Knochenhaut – und um ehrlich zu sein, das sah nicht sehr vielversprechend aus.«
Franks Blick zuckte unwillkürlich zur anderen Aufnahme, aber was er dort sah, sagte ihm nichts. In seinen Augen sahen die beiden Aufnahmen fast identisch aus.
Montgomery deutete auf dieselbe Stelle in der zweiten Aufnahme. »Das ist dasselbe Knie, heute aufgenommen. Mr. O'Reilly, ich bin nicht sicher, wie ich es Ihnen sagen soll, aber…«
Frank zuckte zusammen, als sich Megans Finger schmerzhaft in seinen Arm krallten. Sanft löste er ihre Hand und hielt sie fest.
Der Arzt schüttelte den Kopf und tippte auf die heutige Aufnahme. »Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist, aber die Schwellung ist vollkommen abgeklungen. Auf der Aufnahme ist überhaupt nichts Ungewöhnliches mehr zu sehen. Das Knie sieht sogar aus wie das Knie eines Zwanzigjährigen.«
Frank spürte, dass sich das Eisenband um seine Brust ein wenig lockerte. »Aber was ist mit den anderen Aufnahmen?«
Der Arzt schaltete den Betrachter aus und ließ sich auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken. »Die anderen Bilder zeigen alle das gleiche. Ich habe so lange gebraucht, weil ich die Bilder anstarrte und nicht glauben konnte, was ich sah. Wenn ich die Röntgenaufnahmen nicht selbst gemacht hätte, hätte ich glauben können, jemand hätte mir die Bilder einer anderen Person untergeschoben.«
Megan schluchzte auf und drückte Frank eng an sich. Frank küsste sie auf das Haar; auch er selbst konnte kaum die Tränen zurückhalten
.
»Das möchte ich nun wirklich wissen: Wo haben Sie sich behandeln lassen?«, fragte Montgomery.
»Ach, im Veteranenhospital. Dort führten sie einen klinischen Versuch durch.«
Der Arzt pfiff leise durch die Zähne und schüttelte den Kopf. »Na, die Ergebnisse würden mich wirklich sehr interessieren, denn anscheinend haben sie Ihnen sehr geholfen, Mr. O'Reilly. Aber ich empfehle Ihnen dringend, sich im Krebszentrum im Summerlin Hospital genauer untersuchen zu lassen, nur um ganz sicher zu sein. Wenn sie nicht nach Summerlin gehen wollen, kann ich Ihnen auch andere Stellen empfehlen.«
Megan nickte. »Ich werde dafür sorgen, dass er auch wirklich hingeht.«
Frank blickte auf sie hinab und sah die Tränen in ihren Augen. Der Anblick brach ihm fast das Herz. »Ja, das mache ich. Versprochen.«
Er schüttelte dem Arzt die Hand. »Danke für alles, Doc. Seien Sie mir nicht böse, aber ich hoffe nicht, Sie so bald wiederzusehen.«
Der Arzt lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Viel Glück, Mr. O'Reilly. Bleiben Sie gesund.«
Als Frank und Megan aus dem Haus traten, legte er ihr den Arm um die Schultern. »Wie wär's, wenn wir beide zur Abwechslung mal zum Essen ausgehen? Ich glaube, das ist ein guter Grund zum Feiern.«
Sie schlang den Arm um Franks Hüfte. »Das wäre schön.«
Die Sonne stand schon über den Bäumen, als Nate am Friedhof ankam. Der Friedhof markierte ziemlich genau die Mitte seines Acht-Kilometer-Morgenlaufs. Die kalte Mittwinterbrise fühlte sich erfrischend an, als er über den gepflegten Friedhofweg zum Grab seiner Frau joggte.
Eine alte Bekannte blickte sich um, als sie seine Schritte hörte. Wie jeden Dienstag stand sie vor dem Grab ihres Mannes.
Nate lief langsamer und blieb neben ihr stehen. Und wie immer, wenn sie ihren Mann besuchte, war sie völlig schwarz gekleidet.
»Wie geht's Ihnen, Mrs. Jacobsen?«, erkundigte er sich. Er wies mit
einem Nicken zu dem Kleinbus des Altersheims Sunny Vale hinüber, der ein Stückweit entfernt an der Straße parkte. Der Fahrer saß hinter dem Lenkrad und las ein Magazin. »Werden Sie auch immer gut behandelt?«
Das faltige Gesicht der Achtzigjährigen verzog sich zu einem breiten Lächeln. Ihre blauen Augen bildeten einen eigenartigen Kontrast zu ihrer recht dunklen Gesichtsfarbe. »Oh, ja, ist in Ordnung, denke ich.«
Sie sprach mit dem südlichen Slang, der in dieser Gegend nicht mehr sehr oft zu hören war. Mit zittriger Hand deutete sie auf das Grab von Nates Frau. »Ich hab Ihrer Madison ein paar Gänseblümchen mitgebracht. Sie haben mir doch mal erzählt, dass sie Gänseblümchen mochte, nicht wahr?«
Nate blickte zu Madisons Grab hinüber und entdeckte ein paar kleine weiße Blüten, die darauf verstreut waren. »Oh, Ma'am, das ist sehr nett von Ihnen. Ganz bestimmt blickt sie jetzt von oben herab und freut sich darüber.«
Mrs. Jacobsen schaute zum Himmel hinauf, dann wieder auf das Grab, vor dem sie stand. »Warren hatte leider nicht viel übrig für Blumen. Seine wahre Liebe war der Whiskey.« Sie zog einen kleinen silbernen Flachmann aus der Tasche, schraubte den Verschluss ab und nickte zu Madisons Grab hinüber. »Das mit den Blumen verstehe ich ja, aber dieses Zeug…« – sie nahm einen kräftigen Schluck und verzog das Gesicht – »dieses Zeug… Gott bewahre. Jede Woche versuche ich zu begreifen, was er daran gut fand, aber ich mag es immer noch nicht. Ich trinke es nur ihm zuliebe. Es schmeckt einfach grauenhaft.«
»Wir alle haben unsere Vorlieben«, sagte Nate lächelnd. »Danke nochmal für die Blumen. Alles Gute!«
Nate lehnte sich zurück, den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Er hatte gerade seinen Vorgesetzten über seine Fortschritte informiert. »Das war es von meiner Seite, Jeff. Ich treffe mich heute Nachmittag mit Dr. Gutierrez, um zu sehen, wie es bei ihm läuft. Ich
habe dafür gesorgt, dass er auf keine Email-Konten zugreifen kann, und auch das Diktiergerät ist mit dem AES-256-Standard verschlüsselt.«
»Klingt gut, Nate«, antwortete Jeff. »Halten Sie alles unter dem Deckel, bis wir klarer sehen können, wer dafür verantwortlich ist. Ich habe auch Neuigkeiten für Sie. Ich habe gerade mit dem Büro des Stellvertretenden Direktors telefoniert. Sieht so aus, als hätte unsere Kommunikationsabteilung über INTERPOL eine internationale Ausschreibung über das herausgegeben, was in Nevada passiert ist. Schon bald wird praktisch jede Vollzugsbehörde auf der Welt über alle Einzelheiten Bescheid wissen.«
Nate setzte sich aufrecht. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. »Und Sie glauben, dass wir damit die Leute aus dem Bau locken, die für diese Sache verantwortlich sind?«
»Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Aber drei Todesfälle sind eine ernsthafte Angelegenheit, und dass irgendein biologischer Wirkstoff eine ganze Rinderherde vernichtet, wird die Leute aufhorchen lassen und sie antreiben, aktiv zu werden – und vielleicht sogar die Täter aus dem Versteck locken, wenn wir Glück haben.« Jeff seufzte. »Diese genetischen Modifikationen sind hochgradig problematisch, denke ich, Nate. Damit kann man viel Gutes tun, aber das Zeug ist gefährlich und kann in ungeahnter Weise außer Kontrolle geraten.«
Davon war auch Nate überzeugt. Er stand dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr positiv gegenüber, aber was er gerade bei diesem Fall entdeckt hatte, gab ihm ein ausgesprochen ungutes Gefühl.
Er hörte, dass jemand an Jeffs Bürotür klopfte. Sein Boss sagte: »Nate, bitte halten Sie mich auf dem Laufenden über alles, was Sie und Ihre Leute herausfinden. Ich werde Sie meinerseits über alles unterrichten, was ich höre. Jetzt muss ich aber los.«
Das Gespräch wurde beendet, aber fast gleichzeitig klopfte es nun auch an Nates Tür. Er warf einen Blick auf die Uhr und rief: »Kommen Sie rein, Juan.«
Der Forscher trat ein, wie immer ein wenig nachlässig gekleidet. Er hatte einen großen braunen Umschlag bei sich
.
Nate deutete erst auf einen Stuhl, dann auf den Umschlag. »Was haben Sie da?«
»Keine Ahnung«, antwortete Juan. »Gerade als ich auf dem Weg hierher war, trat mir ein Mann in den Weg. Er sagte, er sei vom DCS-Kurierdienst, wollte meinen Ausweis sehen und übergab mir den Umschlag. Ich musste den Empfang bestätigen. Ich habe den Umschlag noch nicht geöffnet – ich wollte Sie zuerst fragen, ob es okay ist, wenn ich ihn aufmache. Ich weiß nämlich immer noch nicht genau, inwieweit ich an Ihren Ermittlungen beteiligt bin und entsprechend eingeweiht werde.«
Nate betrachtete den schlichten braunen Umschlag und runzelte die Stirn. »Na ja, er ist ja nun mal an Sie adressiert…« Er blickte auf. »Sie sagen, es war ein DCS-Kurier?«
»Das hat er behauptet. Aber ich weiß nicht mal, was das heißt.«
»DCS ist der Defense Courier Service, ein Kurierdienst, der für den Transport von hoch klassifiziertem und sensiblem Material eingerichtet wurde. Ja, das passt – wenn mir jemand klassifiziertes Material schicken möchte, würde man mir wohl eine Papierkopie durch den DCS schicken. Ich habe allerdings keine Ahnung, warum man es Ihnen schicken würde. Darf ich?« Er streckte die Hand aus.
»Klar.« Juan gab ihm den Umschlag.
»Moment – ich denke, wir müssen bei dieser Sache sehr vorsichtig sein.« Nate zog eine Schublade auf, nahm ein Paar Latex-Handschuhe heraus und zog sie an.
Juan riss die Augen auf. »Sie denken, dass da etwas Gefährliches drin sein könnte?«
Nate schüttelte den Kopf. »Normalerweise wäre es mir egal, ob da meine fettigen Fingerabdrücke drauf sind. Aber ein wenig Vorsicht kann nicht schaden, solange wir nicht wissen, woher dieser Umschlag kommt. Vielleicht sind da irgendwelche Beweismittel drin.«
Er klappte ein kleines Taschenmesser auf, schob die Klinge unter die Umschlagklappe und schlitzte den Umschlag auf. Vorsichtig spähte er hinein, dann zog er einen weiteren Umschlag heraus. »Interessant.«
Der zweite Umschlag war mit mehreren Aufdrucken versehen – »Top Secret« und verschiedenen anderen Stempeln, die besagten, dass
der Inhalt von nachrichtendienstlichen Quellen stammte. Nate schlitzte auch den inneren Umschlag auf.
Er zog ein dünnes Bündel Papiere heraus. Wieder griff er in die Schublade und warf Juan ein zweites Paar Latexhandschuhe zu. »Ziehen Sie die Handschuhe an und kommen Sie auf meine Seite.«
Er breitete die Papiere nebeneinander auf dem Schreibtisch aus. »Das scheinen Obduktionsberichte zu sein.«
Juan beugte sich über die Papiere. »Warum sind alle Namen und Ortsangaben geschwärzt?«
»Kommt drauf an, wer uns diese Berichte geschickt hat, aber ich denke mal, dass es um US-Bürger geht und dass man die Angaben aus Datenschutzgründen geschwärzt hat. Das dürfte für unsere Ermittlungen keine große Rolle spielen.
Juan deutete auf das dritte Blatt und las laut vor: »›Ein 53jähriger weißer Mann wurde mit dem Rettungswagen eingeliefert. Er war bewusstlos und hatte 40,6°C Fieber. Nach Einlieferung in die Notaufnahme fiel der arterielle Blutdruck auf 30 mmHG, was zum Herzstillstand führte. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Obduktionsergebnisse: akute venöse Plethora der inneren Organe; bei der histologischen Untersuchung der Haut zeigte sich Mastzelldegranulation. Die Degranulation zeigte sich auch im Myocardium und in den Lungen. Aufgrund der Berichte war der Patient noch nicht identifizierten Giftstoffen ausgesetzt und erlitt eine schwere Immunreaktion, die zu einer Anaphylaxie führte.‹«
Nate blickte zu Juan auf. »Sagt Ihnen das etwas?«
Juan presste die Lippen zusammen und schwieg mehrere Sekunden lang. »Ja. Es bedeutet, dass das System des Patienten heftig auf irgendwelche Stoffe reagierte. Sein Blutdruck stürzte buchstäblich ab und verursachte den Herzstillstand. So ziemlich das Übliche bei einer schweren allergischen Reaktion, die schließlich zur Anaphylaxie führte.«
Nate tippte auf den letzten Satz des Berichts. »Schauen Sie sich das hier nochmal an. Jemand schrieb hier ›Entzündungsreaktion‹, doch dann wurde ›Entzündung‹ wieder durchgestrichen und durch ›Immun‹
ersetzt, und das wurde dann auch noch unterstrichen. Hat das irgendeine Bedeutung?«
»Ein Pathologe würde hier wohl nicht von einer Immunreaktion sprechen. Typisch für eine Anaphylaxie ist eher die Entzündungsreaktion. Vielleicht hat jemand die Änderung vorgenommen, um mich gezielt auf etwas hinzuweisen?«
»Haben Sie eine Idee, was dieser Hinweis bedeuten könnte?«
»Nein, keine Ahnung.« Juan schaute auch die anderen Blätter an. »Auch die übrigen Seiten sehen wie Kopien von amtlichen Obduktionsberichten aus. Ich glaube nicht, dass ich jemals handschriftliche Änderungen auf solchen Berichten gesehen habe.« Er schaute Nate forschend an. »Es kann natürlich vorkommen, dass einzelne Daten geschwärzt werden, aus Datenschutzgründen zum Beispiel. Aber ist es auch üblich, dass die Analysten vom FBI die Einträge ändern oder an einzelnen Wörtern oder Fachbegriffen herumpfuschen?«
»Ausgeschlossen«, antwortete Nate. »Wir erfassen unsere Erkenntnisse auf unseren eigenen Formularen. Für die offiziellen Berichte und Vorgänge wird alles genauso festgehalten, wie es uns von anderen Stellen mitgeteilt wird.«
Juan nickte, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lehnte sich zurück, tief in Gedanken versunken.
Nate schob die Papiere zusammen und steckte sie wieder in den Umschlag. »Es sieht nicht so aus, als sei direkt auf die Papiere geschrieben worden. Ich vermute, dass unsere Techniker auch keine Fingerabdrücke darauf finden werden, aber ich werde sie trotzdem untersuchen lassen. Auf jeden Fall möchte ich wissen, von wem diese Blätter kamen. Und natürlich werde ich auch die Jungs vom DCS fragen.« Er schob den Umschlag zur Seite. »So, jetzt zu Ihnen. Wie kommen Sie mit Ihrer Analyse voran?«
»Nicht sehr gut.« Juan runzelte die Stirn. »Die Proben, die die Todesfälle verursachten, scheinen völlig inaktiv zu sein. Tote Materie. Verdammt, es hat ewig gedauert, bis ich eine Maus dazu bringen konnte, auch nur ein winziges Stückchen genetisch modifiziertes Rindfleisch zu fressen! Sie zeigte fast kein Interesse. Ich kann es noch nicht beschwören, aber alles, was Sie eingesammelt haben, scheint harmlos
zu sein. Das ergibt keinerlei Sinn.« Juan verzog gequält das Gesicht und fuhr sich durch das strubbelige Haar. »Ich übersehe irgendetwas… Ich weiß nur nicht was.«
Nate starrte nachdenklich ins Leere, als sein Telefon summte. Er griff sofort danach, aber bevor er sich auch nur melden konnte, redete sein Boss auch schon los.
»Nate, hören Sie genau zu. Ich bekam gerade einen Anruf von jemanden mit mehr Lametta an der Uniform, als sie sich vorstellen können. Ich möchte, dass Sie und Ragheb sich sofort bereit machen. Sie müssen auf einen Sprung in die argentinische Pampa hinunter, irgendwo in der Nähe von Buenos Aires. Und bevor Sie danach fragen: Ja, die Zuständigkeit ist geklärt, die Argentinier haben selbst bei unserer Regierung um Unterstützung gebeten und das Weiße Haus hat zugesagt. Sie werden mit einem kleinen Team der Special Forces hinunter fliegen. Das Team wird um eins vierhundert auf dem Andrews Airport bereitstehen.«
»Äh, Jeff, sind Sie sicher, dass Ragheb dabei sein kann? Wenn das ein militärischer Einsatz ist…«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sie müssen sich nicht von einem Heli abseilen oder mit dem Fallschirm abspringen oder so. Aber ich möchte, dass sich Ragheb persönlich um die primären biologischen Beweismaterialien kümmert. Warum werden Sie schon bald verstehen. Aber ich muss Sie warnen: Es könnte sein, dass Sie eine ähnliche Ermittlungssituation vorfinden wie in Ash Springs, nur noch schlimmer, viel schlimmer. Die argentinische Bundespolizei berichtet, dass man hunderte tote Rinder vorgefunden habe. Und mindestens ein Dutzend Menschen sind ums Leben gekommen.«
»Ein Dutzend Tote? Verdammt, Jeff, die Sache gerät außer Kontrolle.« Er stand auf. »Soll ich Alex abholen?«
»Nicht nötig, sie packt bereits ihre Ausrüstung zusammen und wird Sie in zwei Stunden am Airport treffen. Hören Sie, Nate, Sie werden die Leitung der forensischen Analyse übernehmen. Ich möchte, dass Sie
diese Sache mit Ihrer ganzen Erfahrung und höchster Konzentration untersuchen. Jetzt bin ich nicht mehr der Einzige, der Sie genau beobachtet, um herauszufinden, was zum Teufel da unten in Argentinien passiert ist und wie es mit Ash Springs zusammenhängt. Sie werden mit der vollen Kooperation der argentinischen Behörden rechnen können. Tun Sie alles, was getan werden muss. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Jawohl, Sir.« Nate hatte inzwischen seine Papiere vom Schreibtisch geräumt und verschloss die Schubladen. »Wäre das alles?«
»Das reicht doch wohl, oder nicht? Rufen Sie mich direkt an, wenn Sie irgendetwas brauchen, egal was. Aber finden Sie heraus, was da geschehen ist.«
»Mein Gott.«
Nate starrte fassungslos auf die riesigen Weideflächen der argentinischen Ranch hinaus. So weit das Auge reichte, schwirrten große Wolken von Fliegen um unzählige, in der Hitze grotesk aufgeblähte Kadaver. Nate stand fast hundert Meter vom ersten Kadaver entfernt, doch selbst aus dieser Entfernung hörte er das Summen und Surren der Fliegen. Er merkte sich die Tatsache, dass die Reaktion auf das, was immer die Rinder getötet hatte, den Fliegen offenbar nichts anhaben konnte.
Die Rinderfarm der O'Reillys in Ash Springs war schon schlimm gewesen, aber das hier war noch tausendmal schlimmer – eine Katastrophe.
Alex hatte bereits ihren Schutzanzug angezogen, wie auch die übrigen Mitglieder des Sondereinsatzteams.
Die Weidefläche wurde von einer Hundertschaft der argentinischen Bundespolizei gesichert. Die Policía Federal Argentina
oder PFA war, wie Nate erfahren hatte, das argentinische Gegenstück zum FBI.
Die Brise änderte die Richtung; Nate und sein Team wurden von dem entsetzlichen Verwesungsgestank förmlich überwältigt. Einer der Soldaten rannte zur Seite und begann zu würgen, als sich der unerträgliche
Gestank von faulen Eiern und etwas, das widerlich süßlich roch, über sie senkte.
Nate kannte diesen Geruch nur zu gut.
Der Geruch des Todes. Er breitete sich in den Atemwegen aus, legte sich wie ein Belag über die Mundhöhle, was ihn an seine Zeit im Irak erinnerte, als er mit seinem Team eines der Dörfer erkunden musste, das Saddam mit einem Bombenteppich überzogen hatte.
Ein anderer Soldat, der in Nates Nähe stand, atmete tief aus und sang den alten Lynryd Skynryd-Song vor sich hin, »Ooooh that smell! Can't you smell that smell…«, während er eine Reihe von Fotos aufnahm, um die Todesszene zu dokumentieren.
Nate schluckte hart, um den Würgreiz hinunter zu kämpfen.
Welches Monster war dafür verantwortlich?
Nachdem sie mit chemischem Desinfektionsmittel von Kopf bis Fuß abgesprüht worden war, zog Alex ihren Bio-Sicherheitsanzug aus. Sofort musste sie husten: Der Anzug hatte sie nicht nur vor den Gefahrstoffen geschützt, sondern ihr auch den entsetzlichen Verwesungsgestank der Rinder erspart.
Nate hielt ihr eine kleine Dose Vicks VapoRub hin. »Streich dir das unter die Nase. Es überdeckt den Gestank.«
»Danke.« Alex tupfte sich ein wenig Creme unter die Nase und nickte.
Die Soldaten, die sie auf das Feld begleitet hatten, zogen ihre Schutzanzüge noch nicht aus. Sie würden zuerst noch die riesige Sammlung von Beweismaterialien verladen müssen. Einer der Soldaten hob die Plane an, mit der die unzähligen Beweisbeutel zugedeckt waren.
»Sorgen Sie dafür, dass die Beutel sofort in Kühlboxen kommen!«, überschrie Alex das Knattern des Hubschraubers, der nicht weit entfernt stand.
»Ja, Ma'am.«
»Das ist eine ziemlich große Ladung«, sagte Nate
.
Alex nickte. »Erde, Grass, Wasser, Gewebeproben, Speichel, Plazenta… wir haben praktisch von allem etwas eingesammelt.«
»Und was ist mit den Kälbern?«
»Wir haben eine Probe von jedem einzelnen Kalb. Und wir haben sogar ein ganzes Kalb mitgenommen.«
Nate dachte über all das nach, was er inzwischen herausgefunden hatte. Wie in Ash Springs hatte der Vorfall ungefähr zur gleichen Zeit wie die Geburt eines Kalbs begonnen – aber in diesem Fall schien die Geburt des Kalbs das auslösende Moment gewesen zu sein. Die örtliche Polizei hatte berichtet, dass mehrere Farmarbeiter bei der Geburt eines Kalbs geholfen hätten, als sie plötzlich, alle gleichzeitig, von Anfällen geschüttelt worden seien. Sie hätten sich sofort zurückgezogen und die Kuh habe das Kalb allein auf die Welt gebracht. Aber kaum war die Geburt vorbei, als die umstehenden Kühe – und auch die Mutter – umfielen und starben. Das Kalb sei auf dem Feld herumgeirrt und habe nach seiner Mutter geschrien, aber sobald es in die Nähe anderer Rinder kam, seien diese ebenfalls verendet, bis einem der Farmarbeiter klar geworden sei, was da geschah, und das Kalb erschossen habe.
Und das war nur eine der vielen Übereinstimmungen mit Ash Springs. Die argentinische Herde umfasste über tausend Tiere, viele waren trächtig und sollten größtenteils um die gleiche Zeit kalben. Kurz nach dem ersten Zwischenfall begann eine weitere Kuh zu kalben, die fast einen Kilometer entfernt stand, und auch hier verlief der Vorgang wie bei der ersten Kuh. Es dauerte nicht lange, bis die gesamte Herde verendet war. Und nicht nur das: Auch mehrere Rancharbeiter kamen ums Leben.
Nate blickte nachdenklich auf die von Tierkadavern übersäte Weide hinaus, während die Soldaten die Beweismaterialien in die Hubschrauber verluden. Plötzlich erregte ein schrilles Geräusch seine Aufmerksamkeit.
Das schrille Rufen eines Kalbs.
»He, Carrington!«, überschrie ein Communications Officer das Knattern eines der UH-60 Blackhawk-Helikopter, als sich die Rotoren zu drehen begannen. »Das Extraktionsteam hat den Rancher und fast
ein Dutzend Arbeiter isoliert. Und sie haben ein paar Übersetzer herbeigeschafft, damit Sie mit den Leuten reden können.«
Doch bevor Nate antworten konnte, wurde er von einem neuen Geräusch abgelenkt – das Dröhnen starker Flugzeugmotoren. Er schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte zu den tiefhängenden Wolken hinauf.
Trotz des Lärms des rasch näherkommenden Flugzeugs, dem Dröhnen und Rattern des startenden Hubschraubers und dem Befehlsgebrüll der Soldaten konnte er immer noch das schrille Rufen des Kalbs ausmachen.
Der startende Hubschrauber wirbelte den Staub auf; Nate kniff die Augen zusammen. Sein Herz begann zu hämmern, als er über das Feld blickte und nach dem Kalb suchte. Dann entdeckte er es: Aus einer der toten Kühe ragte der Kopf eines Kalbs. Es versuchte verzweifelt, sich aus dem Geburtskanal zu winden.
Nate war nicht der einzige, der es bemerkt hatte. Ein Soldat in seiner Nähe hielt das Funkgerät dicht an den Mund und brüllte: »Roger, Desert Eagle, Bio-Risikobegrenzungsplan Alpha wurde eingeleitet. Zielobjekt ist identifiziert, Evakuierung beginnt.«
Sekunden später brach eine Lockheed C-130 durch die Wolken, eine viermotorige militärische Transportmaschine. Das Heulen der Propeller änderte den Ton, als die große Maschine über dem hintersten Ende des riesigen Weidelands in den Tiefflug überging.
»Alle in Deckung!«, brüllte jemand, als eine gewaltige weiße Wolke aus dem Heck des Flugzeugs wallte, die sich wie dichter weißer Nebel über das riesige Feld der toten Rinder legte. Schon stieg die Maschine wieder steil in die Höhe und verschwand in den Wolken.
Plötzlich blitzte es in den Wolken grell auf.
Und mit einem gewaltigen WUMMM! explodierte der weiße Nebel auf dem Feld und verwandelte sich in eine riesige, undurchdringliche orangene Flammenhölle.
Die Hitze rollte über Nate hinweg und versengte seine Augenbrauen. Er packte Alex am Arm und riss sie mit sich zum nächsten Hubschrauber. Das Heulen des Blackhawk wurde betäubend laut, als Nate Alex in die Kabine stieß und hinter ihr her kletterte. Der Helikopter
hob sofort ab und stieg rasch schräg in die Höhe, um der höllischen Zerstörung zu entkommen.
Nates Faust verkrampfte sich unbewusst um den Nylongurt, als er fassungslos zu der C-130 hinüber starrte, die erneut im Tiefflug über die Weide flog und noch einmal eine gewaltige weiße chemische Wolke ausstieß. Der Gestank von verbranntem Fleisch füllte die Hubschrauberkabine, so dass Nate kaum noch atmen konnte. Wie ein Ring aus Eisen legte sich die Furcht um seine Brust.
Es geht los. Heute waren es nur tausend Rinder und ein Dutzend Menschen. Aber was ist, wenn das hier nur der Anfang gewesen war? Wenn es noch schlimmer, viel schlimmer kommen würde? Wenn es eine ganze Stadt voller Menschen treffen würde? Was wäre dann, und wie würde es enden?