Kapitel Drei­und­zwanzig
Frank blinzelte, als die ersten Lichtstreifen durch das Fenster seines kalten Zimmers fielen. Er machte sich Sorgen um Megan, auch deshalb, weil er nicht mit ihr telefonieren durfte. Das Beobachtungszentrum wurde von Soldaten bewacht, die ihnen stur jede Kontaktaufnahme nach außen verweigerten. Einer hatte sogar behauptet, es gebe hier nur Diensttelefone, keine frei zugänglichen Apparate. Das war natürlich blanker Unfug, davon war Frank überzeugt. Genau wie die Bezeichnung »Zentrum«. Schließlich musste man einem wie Frank nicht erzählen, wie ein Militärgefängnis oder ein Gefangenenlager aussah – und für diese Einrichtung hier hätten beide Bezeichnungen gepasst. Er schwang die Beine von der Schlafpritsche, rieb sich den Schlaf aus den Augen und betrachtete zum x-ten Mal seine Umgebung.
Mit ihren trostlosen Betonwänden war es kein Zimmer, sondern eher eine Zelle, 3 Meter lang und 2,50 Meter breit. Die Möblierung bestand lediglich aus einem Bett und einer Kommode, in die er den Inhalt seines Koffers geworfen hatte. Seine persönlichen Gegenstände hatten sie ihm abgenommen, sogar das Taschenmesser, das er immer bei sich trug, und ein Wärter hatte sogar den leeren Koffer abgeholt, der irgendwo im Gebäude aufbewahrt wurde .
Aber wenigstens hatten sie ihn in dieser kleinen Zelle nicht eingesperrt. Noch nicht.
Noch einmal blinzelte er, um den Schlaf zu vertreiben, dann wälzte er sich aus dem Bett und verließ den Raum. Der Weg aus dem kasernenähnlichen Bau führte durch einen völlig unscheinbaren, schmucklosen Flur, von dem mindestens ein Dutzend Zimmertüren abgingen. Draußen hing der Geruch von Asche in der Luft und der Boden ringsum zeigte Brandspuren. Offensichtlich war die Umgebung hier abgefackelt worden.
Frank steuerte zu den Toiletten hinüber, die sich nicht in einem eigenen Gebäude befanden; man hatte lediglich eine Reihe von mobilen Toilettenkabinen am Zaun entlang aufgestellt. Der Zaun selbst war fast vier Meter hoch; über die gesamte Länge der Zaunkrone zog sich Stacheldraht.
Frank öffnete die Tür einer der Kabinen. Wenigstens waren die Kabinen sauber, aber steril wie in einem Krankenhaus rochen sie nun wirklich nicht. Selbst als Laie wusste Frank eins mit absoluter Sicherheit.
Das hier war ganz sicher kein »klinisches Beobachtungszentrum«. Es war definitiv ein Gefangenenlager.
Nach ihrer Ankunft in Las Vegas wurde Kathy am Ankunftsterminal von einem FBI-Agenten erwartet.
»Wir müssen noch zur Gepäckausgabe«, sagte Kathy. »Ich habe einen Koffer aufgegeben.«
Der Mann nickte nur mit ausdruckslosem Gesicht; die Augen blieben hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. »Wir kümmern uns um Ihr Gepäck, Ma'am. Es wurde besonders gekennzeichnet und wird zuerst ausgeladen. Jemand wird es rechtzeitig vor der Abfahrt zum Bus bringen, keine Sorge.«
Vor dem Hauptterminal des McCarran-Airports warteten sie auf den »Bus«. Der Agent stand fast zwei Meter von Kathy entfernt. Der ganze Aufwand, der hier betrieben wurde, verstärkte ihre innere Unruhe. Während sie in der heißen, trockenen Wüstenluft wartete, versuchte sie, ihre Eltern anzurufen, bekam aber erstaunlicherweise keine Verbindung. Auch das trug nicht zu ihrer Beruhigung bei, aber vermutlich hatte es nichts zu bedeuten.
Ein Bus hielt direkt vor Kathy an. Er hatte keinerlei Aufschrift; die Fenster waren dunkel getönt und das Kennzeichen wies es als Behördenfahrzeug aus. Kathys Unruhe nahm noch weiter zu.
»Bitte steigen Sie ein«, sagte der Agent, als die Tür aufging. Ein Schauder lief Kathy über den Rücken, als sie aus der Hitze in den klimatisierten, kühlen Bus trat. Ein paar Plätze waren besetzt, und nach den Gesichtern der anderen Fahrgäste zu urteilen, waren sie nicht weniger verwirrt als sie selbst.
Sie setzte sich, und sofort fuhr der Bus los.
Lange Zeit war nur das Brummen des Busmotors zu hören. Niemand sprach, und weil die Fenster schwarz getönt waren, hatte Kathy keine Ahnung, wohin sie fuhren. Ihr Handy zeigte immer noch kein Netz an.
Die ganze Sache gefiel ihr nicht. Sie gefiel ihr ganz und gar nicht.
Nach langer Fahrt – Kathy hatte keine Ahnung, wie lange sie unterwegs gewesen waren – hielt der Bus abrupt an. Die vordere Tür glitt mit einem lauten Zischen auf; zögernd stiegen die Fahrgäste nacheinander aus. Ein Paar flüsterte aufgeregt auf Spanisch miteinander, was Kathys Gefühl noch verstärkte, völlig allein in fremder Umgebung gestrandet zu sein. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie nicht verstand, was die beiden einander zuflüsterten, aber sie waren zu zweit und konnten sich wenigstens unterhalten. Kathy hatte niemanden.
Vor dem Bus brannte die Sonne erbarmungslos auf eine öde beige-braune Landschaft herab. Kathy blickte sich um. Der Bus stand auf einem weiten, von einem hohen Zaun mit Stacheldrahtkrone umgegebenen Gelände. Bewaffnete Soldaten patrouillierten am Zaun entlang. In der Mitte des Geländes standen ein paar einfache, rechteckige Betongebäude .
Ein Albtraum schien wahr geworden zu sein. Die Anlage wirkte auf Kathy wie ein Flüchtlingslager.
Die Ankömmlinge mussten sich in einer Schlange aufstellen. Das Paar stand direkt vor Kathy; es wurde von einem Spanisch sprechenden Soldaten in Kampfmontur befragt. Ein weiterer Soldat trat auf Kathy zu. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand, auf dem sich ein Formular befand. »Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«
»Katherine O'Reilly.«
Er schaute auf das Formular. »Ja, Sie stehen hier auf der Liste. Willkommen im Camp X-Ray, Miss O'Reilly.« Er hielt ihr einen kleinen Plastikbehälter hin. »Bitte legen Sie hier alle persönlichen Gegenstände hinein. Sie bekommen sie bei Ihrer Abreise zurück.«
»Kann ich wenigstens mein Handy behalten?«
»Leider nein«, sagte der Soldat bedauernd. »Aber keine Sorge – Sie werden hier alles bekommen, was Sie brauchen.«
Kathy atmete tief ein; sie merkte plötzlich, dass sie zitterte. Seufzend legte sie das Handy in den Behälter – ihre letzte Verbindung zur Zivilisation, wie es schien, außerdem auch ihre Handtasche, in der sich alles befand, was sie ständig benötigte, wie Haarbürste, Deo, Papiertaschentücher. »Wie lange muss ich hier bleiben?«
Er zuckte die Schultern. »Tut mir leid, Ma'am, aber ich weiß es wirklich nicht. Ich soll nur Ihre Daten aufnehmen und Ihnen ein Zimmer zuweisen. Sie sind« – er fuhr mit dem Finger über die Liste – »in Raum 14 im Frauengebäude untergebracht.« Er reichte ihr einen Schlüssel, der an einem Halsband befestigt war.
Frauengebäude? Hieß das, dass sie ihren Vater gar nicht zu sehen bekommen würde? Sie blickte sich um. Ein paar Leute schlenderten auf dem Gelände herum, alle in normaler Alltagskleidung, aber ihr Vater war nicht darunter. Das Lager wirkte so trostlos, dass es ihr immer schwerer fiel, ruhig zu bleiben.
Der Soldat wies sie zu einer Soldatin hinüber, die Kathys Temperatur maß. Während die Frau die Werte auf ihrem Klemmbrett eintrug, zog ein Soldat ein paar Meter entfernt einen Handwagen vorbei, auf dem Koffer aufgestapelt waren .
»Entschuldigen Sie, aber mein Koffer ist auf dem Wagen!«, rief Kathy.
»Das ist schon okay«, versicherte ihr der Soldat. »Wir bringen Ihren Koffer direkt in Ihr Zimmer. Willkommen in Camp X-Ray.«
Der Soldat ging weiter, und Kathy stand allein mitten auf dem Gelände. Man hatte ihr nicht einmal gesagt, welches der völlig gleich aussehenden Gebäude das der Frauen war. Plötzlich rief jemand: »Kathy!«
Sie erkannte die Stimme sofort. Tränen schossen ihr in die Augen. »Dad!«
Sie lief zu ihm hinüber, fiel ihm um den Hals und schluchzte.
Er drückte sie fest an sich. »Mein Gott, Kind, warum haben sie dich hierher gebracht? Was hast du damit… Oh mein Gott!« Er hielt sie von sich und schaute sie ernst an. »Weil du versehentlich das Glas Wasser getrunken hast, in dem mein Medikament war?«
Kathy konnte nur stumm nicken.
Er drückte sie noch einmal an sich. »Es tut mir so sehr leid! Das wollte ich nicht… dass du jetzt wegen meiner Krankheit in Schwierigkeiten kommst!«
Acht Techniker arbeiteten konzentriert, als Juan das Labor betrat. Das neue Team war sofort voll in die Arbeiten eingestiegen, wie Juan erleichtert feststellte. Und Arbeit gab es genug – er hatte ihnen eine Menge aufgebürdet.
Er ging zu einem der neuen Techniker hinüber. »Guten Morgen, Kevin. Wie läuft es?«
»Guten Morgen, Dr. Gutierrez. Wir haben gerade die Stoffwechselprofile abgeschlossen und haben erste Ergebnisse.«
Juan setzte sich auf einen Laborhocker. »Kevin, erzählen Sie mir erst einmal, was genau wir da testen, bevor ich mir die Ergebnisse anhöre.«
»Ja, Sir. Wir führen die Tests mit 150 Laborratten durch. 15 erhielten eine einmalige Minimaldosis; 15 weitere erhielten eine einmalige Maximaldosis. Die übrigen 100 Ratten wurden in 5 Gruppen zu je 20 Tieren aufgeteilt; jede Gruppe erhielt 17 Tage lang jeweils eine tägliche Dosis des viralen Erregers, aber jede Gruppe in einer anderen Konzentration.«
Juan nickte; das alles wusste er bereits.
»Wir haben bei sämtlichen Versuchstieren eine Blutanalyse durchgeführt, und zwar jeweils vor und nach der Dosiszufuhr, und danach alle drei Tage. Die Grundumsatzwerte stiegen an, aber davon abgesehen konnten wir nichts Ungewöhnliches feststellen. Eisen, Bilirubin, Protein, Schilddrüse, Glukose, Kalium, Albumin, Calcium, BUN, Kreatinin, Elektrolytspiegel – alles ist im Normalbereich.«
»Gibt es Schwankungen der Körpertemperatur?«, fragte Juan.
»Die Temperatur zeigte nach dem ersten Tag einen Ausschlag nach oben, aber danach blieb sie konstant.«
»Konnten wir Antigene im Blutstrom feststellen? Was ist mit Antikörpern? Und sehen wir irgendwelche lymphatischen Reaktionen?«
»Nein, Sir. Das allerdings erscheint mir seltsam, vor allem bei den Tieren, die tägliche Dosen erhielten.«
Juan seufzte und nickte. »Ich hatte gehofft, dass wir hier etwas sehen würden… ein leichtes Fieber reicht nicht aus, um Menschen in Quarantäne zu halten.« Er trommelte mit den Fingern auf den Labortisch, während er überlebte, wonach sie noch suchen könnten. Und plötzlich kam ihm eine Idee. »Ja, natürlich!«, rief er aus.
»Sir?«
Juan lehnte sich zurück und grinste breit. »Der Sauerstoffgehalt! Den müssen wir uns anschauen! In meinem Labor bei AgriMed hatte ich unterschiedliche Werte bei der Aufnahme von Sauerstoff festgestellt. Warum setzen wir unsere kleinen Freunde nicht in separate Kammern? Vielleicht können wir dann Unterschiede in ihrer Exhalation feststellen?«
»Wie wäre es mit sterilen Plethysmografie-Behältern?«, fragte Kevin mit schiefem Lächeln. »Ich weiß zufällig, dass eine Abteilung kürzlich eine ganze Palette geliefert bekommen hat. Sie brauchen die Behälter für irgendwelche Experimente über den Alkoholstoffwechsel, glaube ich. «
Juan lachte. »Na, jetzt weiß ich wenigstens, womit sich das FBI beschäftigt. Ihr messt, welche Auswirkungen Alkohol auf die Fahrtüchtigkeit von Mäusen hat. Aber im Ernst: Ja, die Behälter könnten wir gut gebrauchen!«
»Dann werde ich die Dinger herholen, bevor die andere Abteilung merkt, dass die Lieferung schon eingegangen ist.«
»Ja, tun Sie das. Und wenn jemand fragt, sagen Sie einfach, ich bräuchte sie dringend und sie könnten sich gern bei der Stellvertretenden Direktorin beschweren.« Juan zuckte die Schultern. »Was könnte mir schon passieren? Dass sie mich feuern? Offiziell bin ich ja gar nicht hier.«
Kathy saß neben ihrem Vater an den Zaun gelehnt, die Beine vor sich ausgestreckt. Sie schauten zu, wie ein weiterer Bus durch das Tor auf das Gelände fuhr. »Dad, wie lange bist du schon hier?«
»Seit drei Tagen. Siehst du das?« Er deutete auf den Bus, der wie Kathys Bus keine Aufschrift hatte. »Wieder bringen sie eine Handvoll Leute hierher, und alle waren Teilnehmer an dieser elenden Klinischen Studie.«
»Elend? Das war sie bestimmt nicht. Sie hat dich geheilt, oder nicht?«
»Hm, kann sein. Aber um welchen Preis?«
»Weiß Mum überhaupt, wo wir sind?«
Dad seufzte tief und tätschelte Kathys Knie. »Stell dir vor, Liebes, ich habe keine Ahnung. Ich kann nur hoffen, dass sie vor lauter Aufregung und Sorge keinen Herzanfall bekommt. Du weißt doch, wie sie ist, wenn etwas nicht so ist, wie sie es will.«
Kathy stieß den Kopf leicht gegen das Maschendrahtgeflecht, so dass er zurückfederte. Sie runzelte die Stirn, als sie die Neuankömmlinge aus dem Bus steigen sah. Eine Frau trug ein Baby auf dem Arm.
»Mein Gott«, sagte sie, »das scheint sogar eine ganze Familie zu sein.«
Dad nickte. »Ja, aber wenigstens dürfen sie zusammen sein. «
Sie wusste, dass er damit ihre Mum meinte. Er hatte ihr erzählt, dass er sie nicht hatte anrufen dürfen, seit er hierher gebracht worden war.
»Woher kommen all diese Leute? Das möchte ich wirklich gern wissen«, murmelte sie vor sich hin.
Ihr Vater seufzte. »Die meisten kommen aus Argentinien und Brasilien. Ich habe ein paar Leute aus Kalifornien kennen gelernt, und ein Mann stammt aus Washington.«
Kathy schlang die Arme um die Knie. »Ist dir schon gesagt worden, was bei der Behandlung schief gelaufen ist? Warum wir eigentlich hier sind?«
»Nein, Liebes, das habe ich noch nicht herausgefunden. Bisher bin ich weder untersucht noch irgendwie behandelt worden. Alles, was sie gemacht haben war, jeden Tag meine Temperatur zu messen. Allmählich glaube ich, dass nicht einmal die Pfleger und das übrige Personal wissen, warum wir hier sind. Glaub mir, ich habe alle gefragt. Ich habe den Eindruck, die Soldaten von der Air Force versuchen nur, das Beste aus dieser beschissenen Situation zu machen. Das Essen ist ganz okay, natürlich lange nicht so gut wie Mums, aber weit besser als das Zeug, das sie uns bei der Army zu essen gaben. Aber…« Frank zögerte, bevor er fortfuhr: »Ich glaube, ich weiß zumindest, wo wir uns befinden.«
»Echt? Wo denn?«
Er deutete nach Norden. »Siehst du diese große weiße Ebene?«
Kathy schirmte die Augen gegen die Sonne ab. »Ja… ist das nicht eine große Salzebene?«
»Genau. Ich bin ziemlich sicher, dass der Berg noch weiter hinten der Bald Mountain ist. Wir sind mal hinaufgewandert, als du noch ein Kind warst. Erinnerst du dich?«
»Ja… aber nur dunkel.«
»Jedenfalls bedeutet das, dass die Salzebene der Groom Lake ist – und in diesem Fall wären wir nur höchstens zwei Stunden von Zuhause entfernt.« Er lachte leise.
»Und warum ist das so komisch?«
»Na ja, als ich noch ein Junge war, gab es jede Menge Gerüchte über diese Gegend – dass es hier eine geheime Basis der Air Force gebe, auf der sie die gefangenen Aliens versteckt hielten. Ich habe zwar noch keine Aliens zu sehen bekommen, aber ich denke, das mit der geheimen Basis der Air Force dürfte stimmen.«
Eine geheime Air Force-Basis. Wo niemand sie finden konnte. Umgeben von einem hohen Zaun mit Stacheldraht und bewaffneten Patrouillen. Und keine Erklärung, warum sie hier waren und was diese Leute mit ihnen vorhatten.
Kathy lehnte den Kopf an Franks Schulter. »Gott, ich hoffe nur, dass dieser Albtraum bald vorbei ist.«
Juan hatte Jennifer Green als Leitende Labortechnikerin im Biosicherheitslabor eingesetzt. Sie liebte die Arbeit, und im Gegensatz zu Juan schienen ihr auch die Umstände nichts auszumachen, die mit der Sicherheitsausrüstung und der Arbeit im Schutzanzug zu tun hatten.
Leider konnte auch er das Sicherheitslabor nicht völlig vermeiden. Auch heute musste er wieder selbst hinein, um die Wärmebildkameras einzustellen. Jetzt studierte er gemeinsam mit Jennifer die Ergebnisse.
»Sehen Sie das?«, fragte er. »Die Tiere mit Maximaldosis im Biosicherheitskabinett haben ungefähr dieselbe Temperatur wie die mit der Minimaldosis, aber die Hitze strahlt viel weiter von ihnen aus.«
In ihrem Druckanzug konnte sich Jennifer nur schwerfällig bewegen. Sie schob sich neben ihn und blickte auf die Displays der Kameras. Metallisch kam ihre Stimme aus Juans Helmlautsprecher. »Ja, das ist seltsam. Alle infizierten Versuchstiere zeigen ein völlig normales Temperaturprofil. Sie haben leichtes Fieber, aber die Temperatur nimmt gleichmäßig vom Körper weg ab, also völlig normal. Aber bei den hochtoxischen Exemplaren strahlt die Wärme wellenartig und viel weiter ab.«
»Sie haben auch eine überhöhte Kalorienaufnahme, und diese ganze Energie muss irgendwie verbraucht werden. Haben wir schon mal eine sterile Petrischale mit Agar hineingestellt und beobachtet, was dann passiert? «
»Nein, das haben wir noch nicht gemacht. Warum auch? Ein Virus würden wir doch nur in einem Wirt, nicht außerhalb, wachsen lassen können…«
»Genau das ist der Punkt, Jennifer! Wir wissen nicht, was diese verdammten Dinger absondern. Ist es denn eine Art Virus? Eine Bakterie? Oder irgendeine chemische Verbindung, die sich verflüchtigt oder zerfällt, wenn das Tier stirbt?«
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte Jennifer entschlossen, ging zu einem der Schränke und nahm eine Packung versiegelter Petrischalen heraus. In jeder befand sich eine dünne Schicht durchsichtiges Agar.
»Sehr gut. Öffnen Sie eine Schale erst im Kabinett, in der Nähe der hochtoxischen Tiere. Lassen Sie sie dort eine oder zwei Minuten lang stehen, danach schauen wir sie uns unter dem Mikroskop an. Dann werden wir sehen, ob sich etwas getan hat.«
Jennifer benutzte die Roboter-Greifer, um die Petrischale in das Sicherheitskabinett zu stellen, die Folie abzuziehen und den Deckel abzunehmen. Sie wollte es gerade noch näher zu den Versuchstieren schieben, als sie plötzlich zusammenzuckte.
»Oh mein Gott!«, rief sie.
Juan lief ein kalter Schauder über den Rücken. »Sehen Sie, wie schnell die Verfärbung eintritt? Ziehen Sie die Schale wieder weg und setzen Sie den Deckel darauf! Ich will sehen, was zum Teufel jetzt gerade passiert ist!«
Juan konnte Jennifers heftiges Atmen hören; beruhigend klopfte er ihr auf die Schulter. »Tief durchatmen, Sie dürfen jetzt nicht ohnmächtig werden. Benutzen wir einfach immer nur die Roboter-Greifer, dann kann nichts passieren.«
Jennifer zog die Schale zurück und stellte sie auf den Objekttisch des Hochleistungsmikroskops. Sie schaltete den Monitor an, so dass sie gemeinsam das Ergebnis beobachten konnten, und fokussierte auf einen der dunklen Punkte.
»Sieht wie Schimmel aus«, sagte sie.
Juan schüttelte den Kopf. »Schimmel hätte sich nicht so schnell bilden können. Aber im Moment bin ich für jede Erklärung offen. «
Jennifer stellte eines der Objektive auf höhere Auflösung ein und justierte die Fokussierung. »Ist das Agar geschmolzen? Aber es gab doch keine große Hitze? Das haben wir doch überprüft.«
»Könnte eine chemische Reaktion sein. Zoomen Sie noch näher heran.«
»Okay, aber das ist jetzt maximaler Zoom. Sichtfeld ist ein Mikrometer. Warten Sie… Die Fokussierung ist ziemlich schwierig.« Äußerst vorsichtig veränderte sie die Kontrollwerte. »Jetzt. Aber… das sind definitiv keine Algen, die wir hier sehen.«
Juan starrte die runden Zellen an, auf die Jennifer das Mikroskop fokussiert hatte. »Sieht fast wie Lymphozyten aus… aber was sind diese fadenähnlichen Auswüchse…?«
»Einer der Fäden bewegt sich!«, rief Jennifer.
Juan blickte zu der Kamera hinauf, die an der Decke montiert war. »Ich hoffe, ihr seht alle, was hier vor sich geht?«, rief er den anderen Mitarbeitern im Großraumlabor zu.
Sie beobachteten die seltsame Zelle fünf Minuten lang. Noch zweimal zuckte einer der fadenförmigen Auswüchse.
»Was glauben Sie?«, unterbrach Jennifer endlich das lange Schweigen.
»Ich glaube nicht, dass Sie das wissen wollen«, sagte Juan düster. »Sagen wir einfach mal so: Wenn es das ist, was ich denke, dann haben wir es hier mit einem Tier zu tun, dessen Immunsystem nicht nur abwehren, sondern auch angreifen kann. Und das würde erklären, warum nach dem Tod des Wirts keinerlei chemische Toxizität mehr festzustellen war.«
Er schauderte bei dem Gedanken, dass es ein Immunsystem geben könne, das auf der Zellebene angreifen konnte.
»Es würde wahrscheinlich wie ein anaphylaktischer Schock aussehen«, fuhr er leise fort. »Und das ist ein Kampf, für den unsere Körper nicht trainiert sind und den sie nicht gewinnen können.«
Als Juan zu seinem Wagen hinausging – er hatte wieder einmal einen 16-Stunden-Tag hinter sich – kam ihm vom Parkplatz her ein Jogger entgegen. Als er näher kam, erkannte Juan den Sicherheitschef von AgriMed, Paul Hutchison, der ihm zuwinkte, stehen zu bleiben. »Dr. Gutierrez! Juan!«
Obwohl er schon Mitte sechzig war, joggte Paul leichtfüßig heran. »Dr. Gutierrez, kann ich Sie kurz sprechen?«
Hutchisons Stimme klang neutral und unbekümmert, aber seine Körperhaltung zeigte eine Anspannung, die bei Juan sofort Alarmstimmung auslöste.
»Ja, natürlich. Was ist los? Gibt es…?«
Huchison legte den Finger über die Lippen und winkte Juan zu, ihm weiter vom Gebäude weg zu folgen.
Juan hatte das Gefühl, dass ihm schlimme Nachrichten bevorstanden. Sie entfernten sich vom Vorplatz und den Autos, die vor dem FBI-Gebäude geparkt waren.
Erst als sie sich außer Hörweite befanden und keine Menschen in der Nähe zu sehen waren, blieb Hutchison stehen und winkte Juan dicht zu sich heran.
Hutchison zog ein Smartphone aus der Tasche. »Juan, ich muss Ihnen hier eine Tonaufnahme vorspielen, die Sie sich unbedingt anhören sollten. Aber bevor ich das tue, muss ich Ihnen noch etwas klar machen. Fragen Sie nicht, woher ich die Aufnahme habe, und erzählen Sie niemandem davon. Absolut niemandem «, wiederholte er mit viel Betonung. »Denn wenn Sie das tun, wird Ihr Kopf rollen, nicht meiner, und das könnte durchaus wörtlich gemeint sein.«
»Hey, Moment mal! So geht das nicht! Vielleicht will ich das gar nicht hören?« Juans Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde und schlug in Verärgerung um. Was um alles in der Welt konnte noch wichtiger sein als die Probleme, mit denen er ohnehin schon zu kämpfen hatte?
»Sie haben keine Wahl. Das hier hängt direkt mit dem zusammen, was Sie machen, und sie haben Ihnen nicht alles gesagt.«
»Sie? Wen meinen Sie damit? Das FBI?«
»Das können Sie sich aussuchen. Hören Sie zu, vielleicht begreifen Sie es dann. «
Hutchison drückte auf ein Symbol auf dem Display.
»Wie ist der Status? Haben Sie alle zusammengetrieben?«
Die Stimme kam Juan irgendwie bekannt vor, aber er konnte sie momentan keiner Person zuordnen.
»Beinahe«, antwortete eine andere, ebenfalls männliche Stimme. »Wir haben fast alle aus Südamerika eingesammelt. Die Briten sind einverstanden und schicken uns ihre Fälle. Wir erwarten, dass wir spätestens Ende nächster Woche alle beisammen haben. Es gibt da noch ein paar Nachzügler an der US-Westküste, aber die Quarantänestation in Nevada sollte ausreichen, um alle ohne Probleme aufzunehmen.«
»Ohne Probleme?« Der erste Mann lachte. »Einen Dreck wissen Sie über die Probleme! Ich habe damals ausdrücklich angeordnet, dass das Projekt mit den Deutschen abgebrochen wird, und nun muss ich eine Scheißladung Leute wegsperren, weil sie ein tödliches Virus in sich tragen – obwohl Sie und Ihre Leute mir versichert haben, dass die Sache nicht außer Kontrolle geraten würde! Jetzt sehen Sie, womit ich es zu tun habe!«
»Ja, ich verstehe, Mr. President, aber…«
Juan riss die Augen auf. Deshalb war ihm die Stimme so bekannt vorgekommen!
»Wir haben alle in gesicherten Einrichtungen untergebracht «, verteidigte sich der zweite Mann. »Niemand muss davon erfahren!«
»Sind Sie blöd oder was? Wir haben ganze Familien in diesen Quarantänestationen wegsperren müssen, oder nicht? Kinder! Frauen! Männer! Was ist, wenn ein paar von ihnen einen Aufstand anzetteln? Versuchen Sie nur mal, eine Familie zu trennen! Und wie wollen Sie verhindern, dass die Hormone bei den jüngeren Leuten verrücktspielen und eine der Frauen in einem der Lager schwanger wird? Glauben Sie denn, dass Sie sie zwingen könnten, das Kind abzutreiben? Scheiße – wir wissen nicht mal, ob wir diese… Monstrositäten überhaupt abtreiben könnten! Am Ende würden wir die Frau umlegen müssen, und was ist dann? Wollen Sie mir weismachen, dass wir so eine Sache unter dem Deckel halten könnten? «
Juans Knie waren weich geworden; ihm drehte sich fast der Magen um. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Der zweite Mann seufzte. »Vermutlich haben Sie recht, Sir.«
»Natürlich habe ich recht, Sie Hornochse!«
»Was schlagen Sie vor, Sir?«
»Muss ich Ihnen das wirklich noch buchstabieren?« Die Stimme des Präsidenten troff vor Sarkasmus. »Wenn Sie alle, aber wirklich alle, in einer sicheren Einrichtung weggesperrt haben, muss irgendein… Unfall passieren. Ein großer, heißer Unfall. Irgendein Großbrand. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Soldat?«
Juan beugte sich abrupt vor und schlug sich die Hand vor den Mund. Beinahe hätte er sich übergeben.
»Jawohl, Mr. President. Ist das ein Befehl?«
»Ein Unfall. Aber so, dass die Ursache hinterher nicht mehr festgestellt werden kann. Und ob das ein Befehl ist? Verdammt nochmal, Sie sind Offizier! Sie müssen doch selbst wissen, was zu tun ist!«
Hutchison hielt die Aufzeichnung an. »Jetzt wissen Sie, was auf dem Spiel steht.«
»Aber ich…«
»Es geht hier nicht um Sie, Dr. Gutierrez.«
Juan wischte sich mit zitternder Hand über das Gesicht. »Was… was soll ich tun?«
Hutchisons blaue Augen blickten ihn kalt an; was er gehört hatte, schien ihn nicht zu berühren und nicht aufzuregen. »Ich will, dass Sie sich über eins klar sind, Doktor: Es geht hier nicht um Ihre Neugier herauszufinden, was irgendwelche Schurken mit Ihrem Algorithmus gemacht haben; es geht auch nicht um Ihre Krebsforschung, so wichtig sie auch sein mag. Es geht jetzt nur noch einzig und allein darum, das Virus aufzuhalten. Jetzt stehen Menschenleben auf dem Spiel. Ich schätze, dass Ihnen höchstens noch zehn Tage bleiben, bis man auch die letzten Betroffenen in das Lager gebracht hat. Und sobald feststeht, dass kein Infizierter mehr frei herumläuft, wird sich dieser große, heiße Unfall ereignen, von dem die Rede war – und danach wird die Welt ziemlich schnell vergessen, dass diese Menschen jemals gelebt haben. «
Hutchisons kalte Stimme hallte wie Donner durch Juans Kopf. Er hatte praktisch rund um die Uhr gearbeitet, aber das reichte immer noch nicht; er war nicht schnell genug. Er musste die Wirkung des Virus umkehren, und er musste es jetzt tun. Denn sonst würden all diese Menschen sterben.
Hutchison schlug ihm auf die Schulter. Für einen kurzen Augenblick zeigte der ältere Mann echtes Mitgefühl. »Hören Sie, Doktor: Wenn Sie keine Behandlungsmethode finden können, die das Virus aufhält oder abtötet oder was auch immer… nun, dann könnte der Plan des Präsidenten tatsächlich die beste Lösung für uns alle sein. Denn wenn das Virus außer Kontrolle gerät und sich weiter verbreitet… denken Sie darüber nach: Wenn Sie nicht herausfinden, wie es sich verbreitet, nun, dann wird es sich unkontrolliert ausbreiten. Schon mit der nächsten Generation könnte es das Ende der Menschheit bedeuten.«
Zitternd atmete Juan tief ein. »Ich glaube, ich weiß, was wir tun können… tun müssen.«
»Dann tun Sie es. Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Jetzt liegt es an Ihnen, Dr. Gutierrez.«