Vorschau – Operation Tote Hand
»Mr. Yoder, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.« Dr. Cohen wirkte besorgt und zögerlich, dennoch sprach er schnell, als wollte er es hinter sich bringen. »Sie haben Bauchspeicheldrüsenkrebs im vierten Stadium.«
So hatte sich Levi den Verlauf seines Folgetermins um neun Uhr nicht vorgestellt. Kälte breitete sich durch seine Brust aus und jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
Der grauhaarige Arzt setzte sich Levi gegenüber auf die Tischkante und schob einen Karton mit Taschentüchern in seine Richtung.
Als würden Taschentücher helfen.
»Wie kann ich Krebs haben?« Levis Finger bohrten sich in die Armlehnen des gepolsterten roten Ledersessels, als er sich vorbeugte. »Ich bin erst 30 und lebe gesund. Ich trinke keinen Alkohol, nehme keine Drogen. Sind Sie sicher?« Ihm war bewusst, dass es wie Verleugnung klang.
Dr. Cohen stand auf, kam um den großen Mahagonischreibtisch herum und legte Levi eine runzlige Hand auf die Schulter. »Junger Mann, es tut mir aufrichtig leid.« Er seufzte. Sein Atem roch nach Pfefferminztee. »Leider verlaufen die Frühstadien von Bauchspeicheldrüsenkrebs nahezu ohne Symptome. Ich habe die Biopsieproben an zwei verschiedene Labors geschickt, beide haben dieselben Ergebnisse geliefert. Die Aufnahmen aus der Radiologie von letzter Woche bestätigen das Ausmaß der Metastasen ebenfalls. Der Krebs hat sich in Ihr Lymphsystem ausgebreitet.«
Levi atmete tief ein und blies die Luft langsam aus. Die Anspannung seiner Muskeln lockerte sich, als sich ein Gefühl der Resignation über ihn senkte.
»Im vierten Stadium? Was heißt das? Wie behandeln wir? Wie sieht der nächste Schritt aus?«
Der Arzt zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich so nah gegenüber Levi, dass sich ihre Knie praktisch berührten. »Im Grunde bedeutet das vierte Stadium, dass der Krebs auf andere Organe übergegriffen hat. In Ihrem Fall haben wir ihn sowohl in der Bauchspeicheldrüse als auch in den Lymphknoten festgestellt. Was die Behandlung angeht: Sloane-Kettering und einige Universitätskrankenhäuser haben 2005 klinische Studien über diese Art von Krebs durchgeführt. Es gibt inzwischen experimentelle Strahlenbehandlungen, mit denen wir es versuchen können, dazu mehrere Runden Chemotherapie. Allerdings fürchte ich, dass die Erfolgsaussichten angesichts des Stadiums Ihrer Erkrankung nicht gut sind.«
Er lehnte sich vor und fügte mit ernster Miene hinzu: »Meiner Schätzung nach bleiben Ihnen ohne Behandlung nur vier bis sechs Monate, um Ihre Angelegenheiten zu regeln. Und ich will ehrlich sein, was die Chancen mit einer Behandlung angeht: Nur ein Prozent der Studienteilnehmer hat fünf Jahre überlebt. Nichtsdestotrotz habe ich ein paar Anrufe getätigt. Uns stehen weitere erstklassige Behandlungen zur Verfügung, mit denen wir die Chancen hoffentlich erhöhen können. Jedenfalls werde ich alles in meiner Macht tun, um Ihnen zu helfen.«
Levis Gedanken überschlugen sich, während er die Worte des Arztes zu verarbeiten versuchte.
In seiner Branche kannte man ihn als Problemlöser. Er kümmerte sich um heikle Angelegenheiten, wenn Mafiabosse jemanden mit einem geschickten Händchen brauchten, nicht bloß stumpfe Muskelkraft. Außerdem nahm er Probleme an, die man seitens der Polizei nicht lösen konnte oder wollte .
Für dieses Problem fiel ihm keine Lösung ein.
Aber er wusste, dass es einige Dinge gab, um die er sich sofort kümmern musste.
Er stand auf und schüttelte dem Arzt die Hand. »Dr. Cohen, mir ist bewusst, dass es schwierig sein muss, solche Neuigkeiten zu überbringen. Danke für Ihre Ehrlichkeit. Ich komme in ein paar Wochen wieder, sobald ich meine Angelegenheiten geregelt habe, dann reden wir weiter.«
»Aber Mr. Yoder, Sie sollten mit den Behandlungen unbedingt sofort beginnen. Ich habe mit Sloane-Kettering gesprochen und einen Platz in einem der Behandlungsprogramme für Sie ergattert ...«
Levi winkte ab und drehte sich dem Ausgang zu. »Das weiß ich zu schätzen, aber ich melde mich, wenn ich so weit bin.«
Als Levi die Tür öffnete und das persönliche Büro des Arztes verließ, konnte er nur an Mary denken.
Als Levi das Schlafzimmer betrat, schenkte ihm Mary – bereits im Nachthemd – ein strahlendes Lächeln, während sie eine Schallplatte auflegte. »Die hab ich in einem alten Plattenladen entdeckt. Das musst du dir anhören.«
Aus den Lautsprechern drang der Sound von Nat King Cole, einer von Marys Lieblingsinterpreten.
»Love me as though there were no tomorrow ...«
Der bewegende Text der Ballade ließ Levi einen Kloß in den Hals steigen.
Mary tänzelte mit einem verträumten Lächeln im Gesicht auf ihn zu, verzaubert von der Musik. Als ihr Blick jedoch dem seinen begegnete, erstarrte sie mitten im Schritt. Ihr Lächeln verblasste, Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn.
Levi war nie in der Lage gewesen, seine Gefühle vor ihr zu verbergen.
Er trat zu seiner Frau, nahm ihr Gesicht in die Hände und sah ihr tief in die wunderschönen, dunkelbraunen Augen. Ein dichter Schopf pechschwarzer Haare umrahmte ihr Antlitz. Sie sah noch genauso umwerfend aus wie an dem Tag, an dem er sie kennengelernt hatte.
Während er ihr erklärte, was der Arzt ihm mitgeteilt hatte, kehrten seine Gedanken zum Moment ihrer ersten Begegnung zurück. Erst vor fünf Jahren war sie in den USA als Maryam Nassar eingetroffen, 22 Jahre alt, Flüchtling aus dem Iran. Sie hatte schon damals passabel Englisch beherrscht und sich auf eines von Levis Inseraten gemeldet, mit denen er eine persönliche Sekretärin gesucht hatte. Kaum hatte er sie zum ersten Mal gesehen, hatte er sich wie vom Blitz getroffen gefühlt. Seine Haut hatte gekribbelt, und er bekam kaum Luft.
Neun Monate später waren sie verheiratet.
Seine Brust zog sich zusammen, als ein Sturm von Gefühlen über ihr Gesicht zog: Ungläubigkeit, Schmerz, Wut. Tränen glänzten in ihren dunklen Augen, und ihr Kinn bebte, als sie mit ihrem ausgeprägten persischen Akzent hervorstieß: »A-aber du h-hast verspro...«
Sie verstummte, holte abgehackt Luft, und Levi schloss die Arme um sie.
»Schatz, ich weiß ...«
Er drückte sie an seine Brust und massierte ihren Rücken, während sie schluchzte. Mary war die Einzige in ihrer Familie, die sich nach der iranischen Revolution für das Exil entschieden hatte. Obwohl unter ihren Angehörigen niemand tiefreligiös war, hatte sie ihr Schicksal in dem Moment besiegelt, als sie den Iran verlassen und einen Nicht-Muslim geheiratet hatte. Sie konnte nicht zurück. Mary hatte niemanden auf der Welt, wodurch es umso schwieriger wurde, ihr von seiner Prognose zu erzählen.
An sich war sie außerdem kein Mensch, der seinen Emotionen freien Lauf ließ – dennoch zitterte sie nun in Levis Armen.
Vor Bedauern fühlte sich seine Kehle wie zugeschnürt an. Er konnte nur versuchen, sich vorzustellen, welche Ängste ihr gerade durch den Kopf gehen mussten. »Ich kümmere mich darum, dass du dir für den Rest deines Lebens nie um irgendwas Sorgen machen musst«, versprach er. »Das hier wird immer dein Zuhause sein, ganz gleich, was passiert. Hast du verstanden?«
»Ich brauche nichts Materielles . Ich brauche nicht Levi Yoder, den Geschäftsmann. Ich brauche meinen Ehemann .« Mary packte Levi leidenschaftlich an beiden Handgelenken und sah ihn mit geröteten Augen an. »Ich liebe dich.«
Die Worte hatte er nur eine Handvoll Male von ihr gehört. Bisher war es jedes Mal ein euphorisches Erlebnis gewesen. Diesmal hingegen quälte es ihn.
In der Vergangenheit hatte er Hunderten Menschen geholfen. Und in diesem Fall, in dem es am wichtigsten gewesen wäre und um den Menschen ging, der ihm mehr bedeutete als jeder andere auf der Welt ... konnte er nichts tun. Dieses Problem konnte er nicht beseitigen.
»Ich bleibe bei dir, so lange ich irgendwie kann – zumindest so viel verspreche ich dir.« Er wischte mit den Daumen die Tränen von Marys Wangen. »Ich liebe dich mehr, als du dir je vorstellen kannst.«
Sie umklammerte Levi innig, und sie hielten sich schweigend gegenseitig fest, da sie wussten, dass Worte nicht zu lindern vermochten, was sie durchmachten.
Ein erwartungsvolles Kribbeln breitete sich über Yousef Nassars Haut aus, während er beobachtete, wie die Arbeiter die uralte Grabkammer eines frühen ägyptischen Priesters leerten. Erst vor zwei Tagen hatte Yousef die lange vergessene Kammer entdeckt, dennoch war sie bereits beinah kahl.
Diebe! Diese Männer waren allesamt Diebe, und das Wissen, dass er in gewisser Weise daran mitwirkte ... Schuldgefühle nagten an Yousef.
Er bemühte sich, nicht weiter auf die Männer zu achten, die unersetzliche Artefakte entwendeten. Stattdessen wandte er sich der Wand mit den verblassten Hieroglyphen zu und übertrug sie weiter in sein Notizbuch. Während sich sein Verstand auf die Aufgabe konzentrierte, verschwanden um ihn herum die Welt und die Vorgänge darin.
»Dr. Nassar?«
Yousef zuckte zusammen, als er seinen Namen auf Englisch ausgesprochen hörte, wenngleich mit ausgeprägtem russischem Akzent. Er drehte sich um und erblickte einen von Wladimirs Männern. Trotz der Hitze in der unterirdischen Kammer trug der von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete Mann einen Anzug. Die versteinerten Züge und die stahlgrauen Augen verrieten keinerlei Emotionen.
»Ja?«
Der große Mann trat näher, und eine kleine, kostbare Bernsteinperle zerbarst unter seinem Fuß. Er zeigte mit dem Daumen durch die Grabkammer auf eine knapp zwei Meter hohe Statue von Anubis mit ausgestrecktem Arm. »Wladimir hatte Anweisungen für den Fall, dass eine solche Statue gefunden wird. Ist das Anch ordnungsgemäß verpackt?«
Yousefs Herzschlag beschleunigte sich. Er hatte Mühe, keine Miene zu verziehen. »Wir haben nichts in der Nähe oder auf der Statue gesehen.«
Die Kiefermuskulatur des Mannes verkrampfte sich kurz, bevor sie sich wieder entspannte. »Sind Sie sicher?«
»Ja.« Yousef deutete mit dem Daumen in Richtung der Wand. »Wenn Sie mit Wladimir reden, dann sagen Sie ihm, dass einiges, das hier geschrieben steht, bewahrt werden muss und ...«
»Ich werde Wladimir darüber informieren, was gefunden wurde.«
Damit wandte sich der breitschultrige Kerl ab, und die Arbeiter gingen ihm aus dem Weg, als er in steifer Haltung zum Eingang der Grabstätte stapfte.
Yousef räusperte sich. Das Geräusch hallte von den Steinwänden der Kammer wider.
Trotz der drückenden Hitze lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter, als er begann, die Bedeutung einiger der Symbole zu entschlüsseln. Die in den bildhaften Texten geschilderten Szenen erzählten von einer Zeit, in der das südliche und nördliche Ägypten noch nicht geeint gewesen waren.
»Yousef«, flüsterte eine Frauenstimme. »Bist du mit der Übersetzung vorangekommen? «
Er schaute über die Schulter zu Sara. Auf Farsi fragte er: »Hast du ...«
Sie nickte.
Erleichtert seufzend atmete er durch, gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss und lächelte. »Ich glaube, das könnte wirklich eine der ältesten Grabstätten sein, auf die wir je gestoßen sind. Das hier stammt eindeutig aus der frühen ersten Dynastie.«
Sara spähte zu dem Notizbuch auf seinem Schoß. »Was hast du bisher?«
Er blätterte eine Seite zurück und überflog seine Notizen. »Wie du vermutet hast, ist das definitiv das Grab eines frühen Priesters, nur sehe ich keine Zeichen von Atum, dem Sonnengott. Muss etwas anderes sein. Die Texte sprechen von einem großen Krieg gegen den Süden. Warte, hör dir das an.«
»Das Land steht vor Krankheit und Seuchen in Flammen.
Ein Teil der Sonne kam herab, und es war ein Mann ...«
Yousef legte den Finger neben das nächste Symbol und zermarterte sich stirnrunzelnd das Hirn darüber, wie er es am besten zu etwas Bedeutungsvollem übersetzen sollte.
»Er leuchtete wie viele Sterne in der Nacht, und sein Atem war wie ein Krokodil.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Sara.
Er schüttelte den Kopf. »Bin genauso ratlos wie du. Es ergibt keinen Sinn. Wir werden recherchieren müssen, wenn wir zurück an der Universität sind. Die nächsten Passagen sind sogar noch unsinniger.«
Yousef verlagerte den Blick auf die restlichen Symbole, die er noch in sein Notizbuch übertragen musste. Sein Körper versteifte sich, als er eine der Hieroglyphen erkannte. »Mein Gott, was könnte das bedeuten?«
Sara zeigte auf zwei der verblassten Symbole an der Wand. »Der Katzenfisch und der Meißel ... steht das nicht für Narmer?«
Yousef nickte, als er versuchte, aus den anderen Symbolen in der Nähe eine Bedeutung abzuleiten. »So ist es. Aber mir scheint, der Text will besagen, dass dieser Mann, der ein Teil der Sonne war, Narmer etwas übergeben hat.«
Als er sich näher zur Wand lehnte, hörte er hinter sich ein metallisches Rattern. Er wirbelte herum und erblickte eine Granate, die über den sandigen Boden rollte wie ein Pulk dunkler Weintrauben.
Yousefs Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, als die Granate explodierte.
»Heute ist wohl der Bankentag der Familie Yoder. Vor ein paar Stunden war Ihre Frau hier.«
Levi, der nie viel von Small Talk gehalten hatte, nickte nur und zeigte dem Mann seinen Schlüssel.
Der gutgekleidete, grauhaarige Bankmanager blickte auf Levis Schließfachschlüssel und erwiderte das Nicken. »Bitte folgen Sie mir, Mr. Yoder.«
Der Manager wandte sich ab und ging steif voraus zum Tresorraum der Bank. Sein Blick schwenkte über die Metallwand. Er steuerte auf einen Abschnitt ganz rechts zu und blieb vor dem Schließfach stehen, das dieselbe Nummer wie Levis Schlüssel aufwies.
Der Mann holte einen zweiten Schlüssel aus seiner Westentasche hervor und steckte ihn in eines der Schlüssellöcher vorne an Levis Schließfach.
Er streckte die Hand aus. »Den Schlüssel bitte, Mr. Yoder.«
Levi reichte ihm seinen Schlüssel. Der Manager schob ihn ins zweite Loch. Als der Manager beide Schlüssel gleichzeitig drehte, hörte Levi das Klicken einer Verriegelung, die sich löste. Sein Schließfach glitt einen Zentimeter aus der Wand.
Der Manager gab Levi seinen Schlüssel zurück. »Mr. Yoder, gestatten Sie mir, Sie in einen Raum zu führen, wo Sie sich Ihrem Besitz ungestört widmen können.«
Levi zog sein Schließfach am Griff heraus. Widerstandslos glitt es aus der Ausnehmung in der Wand.
Wenige Augenblicke später befand sich Levi in einem ungestörten Raum, in dem es leicht nach Holzpolitur und Leder roch. Der Bankmanager schloss hinter sich die Tür, als er ging. Levi blieb allein zurück.
Levi zog einen dicken Umschlag aus seinem Jackett und legte ihn in das Metallbehältnis. In dem Umschlag befanden sich mehrere juristische Dokumente, die das Haus und seine Vermögenswerte betrafen. Bei seinem Tod würde alles in einen Fonds fließen, und Mary würde sich nie wieder finanzielle Sorgen machen müssen. Ihr Zuhause war abbezahlt, die monatlichen Ausgaben würden automatisch aus dem Fonds abgedeckt werden.
Levi fand ein wenig Trost darin, dass er getan hatte, was er konnte, um für Mary vorzusorgen.
Er legte die Hände auf das Schließfach, ließ den Kopf hängen und seufzte. Der Knoten unter seiner Achselhöhle – ein Tumor, wie er wusste – war in den vergangenen Monaten deutlich gewachsen. Der Erste von vielen, die sich durch seinen Körper ausbreiteten. Aber insbesondere dieser fühlte sich heiß an und pochte zornig im Takt seines Herzschlags.
Ihm würde nicht mehr viel Zeit mit Mary bleiben, und das bedauerte er am meisten.
Einen Moment lang fühlte sich seine Kehle wie zugeschnürt an, und er gestattete sich, eine Traurigkeit zu empfinden, die er in der Öffentlichkeit nie zeigte. So Vieles im Leben hatte er überwunden, aber an diesem Hindernis kam er nicht vorbei.
Levi wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und atmete schaudernd durch. Er warf einen letzten Blick auf den Inhalt der Metallbox. Als er sie gerade schließen wollte, bemerkte er ein Päckchen, an das er sich nicht erinnern konnte .
Er zog es heraus. Es maß etwas mehr als seine Handfläche und war auch ungefähr so dick, aber schwer für die geringe Größe. Adressiert war es an »Maryam Nassar« – Marys Mädchenname, darunter jedoch stand ihre aktuelle Wohnanschrift. Das Päckchen strotzte vor Briefmarken, stammte also von sehr weit her, war aber noch versiegelt.
»Was um alles in der Welt ist das?«
Levi holte sein Klappmesser aus der Tasche. Er drückte auf einen Knopf, um die Klinge herausspringen zu lassen. Es bedurfte einiger Anstrengung, sich durch die vielen Schichten Klebeband zu hacken, die das Päckchen umwickelten.
Als Levi schließlich den Deckel anhob, fand er in dem Karton eine handgeschriebene Nachricht auf etwas, das in ein Tuch gehüllt darunter lag. Es handelte sich um die geschwungenen Schnörkel etlicher fernöstlicher Sprachen, die er nicht lesen konnte.
Er legte den Zettel beiseite und wickelte den Stoff aus.
Seine Augen weiteten sich.
In der Schutzhülle aus grauem Tuch befand sich ein goldener Gegenstand, wie ihn Levi noch nie zuvor gesehen hatte. Er war fast so groß wie seine Hand mit vollständig ausgestreckten Fingern und ähnelte stark einem Kreuz, aber statt einer vertikalen Linie, die durchgehend durch die horizontale Linie verlief, bestand der obere Teil aus einer umgekehrten Tränenform. Es sah beinah aus, als sollte der Gegenstand an der überdimensionierten Öse aufgehängt werden.
Dass ausgerechnet Mary ein solches Symbol empfangen sollte, das eindeutig religiös aussah, erschien Levi merkwürdig. Immerhin war sie Atheistin.
Levi legte die Stirn in Falten. »Warum schickt dir jemand so was«, murmelte er bei sich, »und warum hast du das Päckchen nicht aufgemacht?«
Er setzte sich und starrte auf den goldenen Gegenstand. Irgendwo im Hinterkopf dämmerte ihm, dass er etwas Ähnliches doch schon einmal gesehen hatte. In der Stadt. Bei einer ägyptischen Museumsausstellung. Wie nannte man dieses Symbol noch mal? Ein Anch?
Wahrscheinlich handelte sich um einen Trick des Lichts, aber einen Moment lang schien das goldene Anch aufzuleuchten, als wäre es lebendig.
Als Levi es aus dem Päckchen hob, hätte er es beinah fallen gelassen. Es fühlte sich unerwartet schmierig an, wodurch es sich schwer halten ließ. Er verstärkte den Griff. Es wurde merkwürdig warm unter seinen Fingern.
»Woraus um alles in der Welt ist das Ding gemacht?«
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als Levi plötzlich Hitze in den Hals und ins Gesicht schoss. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ein Brennen breitete sich kribbelnd seinen Arm hinauf aus, und er spürte einen sengenden Schmerz in der Hand. Es war, als versuchte das Ding, sich durch seine Handfläche zu brennen.
Levi schoss durch den Kopf: Lass das dämliche Ding fallen.
Er öffnete die Hand, und der schwere Gegenstand landete mit einem lauten Pochen auf dem Holztisch.
Levis Brust fühlte sich wie zugeschnürt an. Er hatte Mühe, tief durchzuatmen. Er zuckte zusammen, als der pulsierende Schmerz weiter seinen Arm entlang nach oben kroch und sich über die Brust und den Rest seines Körpers ausbreitete. Noch sah er keine Blasen auf seiner Handfläche, ahnte aber, dass welche folgen würden. Was immer das Anch auf der Haut hinterlassen hatte, es hatte sie zornig gerötet.
Levi fing zu schwitzen an, als er sich die Hand mit einem Taschentuch abwischte und laut fragte: »Mary, warum hat dir das jemand geschickt?«
Er schaute zurück zu dem Gegenstand auf dem Tisch. Zu seiner Verblüffung sah er plötzlich anders aus. Das Anch schimmerte nicht mehr golden, sondern hatte eine stumpfe silbrige Schattierung angenommen.
Als die Hitze in seiner Hand im Takt mit seinem Herzschlag pulsierte, fragte sich Levi, ob die goldene Beschichtung eine Art Gift gewesen sein könnte.
Resigniert schnaubte er und schüttelte den Kopf. Was spielt das noch für eine Rolle?
Nur zu, forderte er das leblose Objekt heraus .
Levi benutzte das Taschentuch, um das Anch zurück in den Karton zu legen, dann brachte er den Deckel wieder darauf an.
Die Heimfahrt von der Bank erwies sich als Qual. Seine Augen fühlten sich klebrig an und begannen zu tränen, sein Mund war staubtrocken. Er brauchte dringend ein Glas Wasser. Sein gesamter Körper schmerzte, und hohes Fieber schien sich darin auszubreiten.
Entweder brütete er gerade eine schwere Grippe aus, oder es handelte sich um ein Krebssymptom, vor dem ihn niemand gewarnt hatte. Oder konnte das Anch tatsächlich mit Gift beschichtet gewesen sein? Was immer es gewesen sein mochte, es schien dafür zu sorgen, dass man sich hundeelend fühlte. Als Levi seine Wohngegend erreichte, schwitzte er heftig, und die Augen fielen ihm ständig zu.
Die blinkenden Lichter eines vor seinem Haus geparkten Streifenwagens rissen ihn jäh aus seinem Dämmerzustand.
Levi bog in die Einfahrt und stieg gequält aus dem Auto. Ein an seiner Eingangstür stehender Polizist drehte sich in seine Richtung.
Der Beamte blickte auf ein Foto in seiner Hand, dann zu Levi. »Lazarus Yoder?«
»Ja, Officer. Das bin ich.« Levis Herz hämmerte wild in der Brust, als er sich Schweiß von der Stirn wischte. Lazarus war sein Taufname, aber seit er nach New York gekommen war, benutzte er stattdessen Levi. »Stimmt was nicht?«
»Mr. Yoder, können wir uns unter vier Augen unterhalten? Ich fürchte, es hat sich ein Vorfall ereignet.«
Levi schaute zur Garage – leer. Ihm fiel nicht ein, wohin Mary gefahren sein könnte. Sie war Diabetikerin und um diese Tageszeit immer zu Hause, weil sie sich Insulin spritzen musste. Levis Brustmuskeln spannten sich wie Eisenbänder an, und er bekam zu wenig Luft. Die Welt fing an, sich zu drehen.
Der verkniffen dreinschauende Beamte legte Levi eine Hand auf die Schulter. »Mr. Yoder, Sie sehen nicht gut aus. Ich denke, dafür sollten Sie sich setzen. «
Levi spähte auf das Foto in der Hand des Polizisten und spürte, wie ihm das Blut in den Adern zu Eis gerann. Das Bild war blutfleckig und zerrissen, trotzdem erkannte er es. Sein Hochzeitsfoto.
Das Hochzeitsfoto, das Mary in der Handtasche bei sich trug.
Eine Woche war seit Marys tödlichem Autounfall vergangen, und erst ein Tag seit ihrer Beerdigung. Levi erinnerte sich nur an Teile der Zeremonie. Irgendwann mittendrin hatte er die Besinnung verloren, anscheinend dehydriert von der Grippe, mit der er kämpfte.
Mittlerweile lag er zu Hause im Bett. Eine Pflegerin hängte einen Beutel mit klarer Flüssigkeit an den Infusionsständer.
»Ich habe ein brechreizhemmendes Mittel in die Infusionsleitung gespritzt, die Übelkeit sollte sich also bald legen«, erklärte sie. Dann stellte sie eine große Wasserflasche aus Plastik auf Levis Nachttisch. »Bitte versuchen Sie, so viel wie möglich zu trinken. Dr. Cohen sagt, wenn Sie nicht genug Flüssigkeit aufnehmen können, um hydriert zu bleiben, müssen Sie stationär eingewiesen werden.«
Levi schüttelte den Kopf. »Alicia, Sie scheinen mir eine nette Frau zu sein, und ich weiß, Sie meinen es gut ...«
Sein Kopf fiel aufs Kissen zurück, sämtliche Kraftreserven schienen aufgebracht zu sein. Levis Muskeln schmerzten, als hätte er eine Woche ununterbrochen trainiert. Am schlimmsten schienen seine Gelenke betroffen zu sein. Er fühlte sich wie ein arthritischer Greis. Und das war noch gar nichts verglichen mit dem Brennen, das er in den Tumoren seiner Krebserkrankung spürte.
Was ihn daran erinnerte, dass die Grippe das geringste seiner Probleme darstellte.
Alicia, die altbackene Krankenpflegerin mittleren Alters aus Dr. Cohens Praxis, musterte ihn mit mitfühlender Miene. »Ich mein’s wirklich gut. Morgen früh bin ich wieder hier und sehe nach Ihnen.«
»Okay.« Zu einer längeren Antwort fehlte Levi schlichtweg die Energie. Er schloss die Augen und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, die durch seinen Körper wüteten .
Levi musste eingeschlafen sein, denn als er die Augen aufschlug, schien die Sonne wie ein morgendlicher Gruß durch die Lücke zwischen den beigen Schlafzimmervorhängen in sein Gesicht.
Das Fieber war verschwunden.
Die Laken fühlten sich nass von nächtlichem Schweiß an, aber seine Augen brannten nicht mehr, und die Gliederschmerzen hatten sich gelegt. Dennoch fühlte er sich ... eigenartig.
Die morgendlichen Geräusche klangen irgendwie lauter, als er sie je zuvor gehört hatte, beinah so, als hätte er bisher Wattebäusche in den Ohren gehabt. Vögel zwitscherten sich gegenseitig im Garten vor dem Haus zu. Irgendwo in der Ferne zischten die Luftbremsen eines Schulbusses. Die altmodische Aufziehuhr auf dem Nachttisch tickte laut bei jeder Bewegung des Sekundenzeigers.
Plötzlich setzten die Geräusche aus, als stünde die Welt einen Moment lang still ... dann fing alles wieder an. Die Uhr tickte weiter, die Vögel zwitscherten wieder, der Bus löste die Bremsen.
Als Levi gähnend die Arme über den Kopf streckte, zog etwas an seinem Arm, und der Infusionsständer fiel auf ihn. Er kämpfte sich in sitzende Position und entfernte die Leitung mit einem Ruck aus seinem Arm. Levi zuckte zusammen, als das Klebeband über dem durchsichtigen Schlauch von seiner Haut gerissen wurde. Das schlüpfrige Gefühl, als die Infusionsnadel aus seiner Vene glitt, jagte einen angewiderten Schauder durch ihn.
Seine Haut kribbelte, als er die Beine aus dem Bett schwang. Blut sickerte seinen Arm hinab. Er griff sich etwas Watte vom Nachttisch und drückte sie auf die Einstichstelle der Nadel.
Die Wasserflasche auf dem Nachttisch erwies sich als leer.
»Was zum Teufel ist los mit mir?« Levi schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Seit Marys Tod hatte er nie mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen, und plötzlich waren zwölf Stunden auf einen Schlag verstrichen.
Argwöhnisch starrte er auf den leeren Infusionsbeutel, der mittlerweile auf dem Boden lag, und fragte sich, was die Pflegerin sonst noch hineingemischt haben mochte.
Als er aufstand, fühlte er sich bemerkenswert stabil für jemanden, der noch in der vergangenen Nacht wie ein Halbtoter im Bett gelegen hatte. Levi berührte den heißen Knoten in seiner Achselhöhle und zuckte zusammen.
Ist mir denn gar keine Pause vergönnt?
Aus irgendeinem gottverdammten Grund schienen sich seine Tumore plötzlich in rotglühende Schürhaken verwandelt zu haben, die in seiner Haut steckten.
Levi drehte sich zum Nachttisch zurück, und wieder schien die Welt stillzustehen. Diesmal zählte Levi laut mit, als der Sekundenzeiger der Uhr erstarrte. »Eins ... zwei ... drei ... vier ... fünf.«
Der Zeiger tickte weiter.
»Ich verliere grade den Verstand.«
Von mehr als einem Dutzend Stellen seines Körpers gingen pochende Schmerzen aus. Levi verzog das Gesicht und atmete mehrmals tief durch.
Er wusste, was er zu tun hatte.
Wenig später steuerte er angezogen durch die Eingangstür hinaus.
Dr. Cohen würde ihm einiges zu erklären haben.
Während Levi über den Northern State Parkway zu Dr. Cohens Praxis raste, wuchs die Frustration in ihm.
»Nach allem, was ich durchmachen musste, hätte er wenigstens offen und ehrlich zu mir sein sollen.«
Irgendetwas war in der vergangenen Nacht mit Levi geschehen, doch er konnte sich nicht zusammenreimen, was. Dr. Cohen musste Alicia aufgetragen haben, mehr als ein brechreizhemmendes Mittel in die Infusion zu spritzen.
Levi nahm alles um sich herum wesentlich intensiver wahr. Farben waren schillernder als je zuvor, Geräusche – Vögel am Himmel, Autos auf dem Highway – klarer, deutlicher. Seine Haut kribbelte irritierend, als der Fahrtwind über die Behaarung seines Arms strich. Es war, als spürte er, wie sich jedes einzelne Härchen rührte.
Fühlt es sich so an, wenn man high ist ?
Als ihn links ein Auto überholte, konnte er das nahezu perfekt harmonische Stampfen der sechs Metallzylinder hören, die sich im Motor auf und ab bewegten.
Levi kratzte die brennende Stelle in der Nähe seiner Achselhöhle und runzelte die Stirn. An der Stelle hatte er den ersten Tumor entdeckt. Aber plötzlich fühlte sich der Knoten ... anders an. Kleiner? Und heißer als je zuvor, wie ein unter seiner Haut glimmendes Stück Kohle.
»Verdammt noch mal, Doc. Was passiert mit mir?«
Als Levi Dr. Cohens Praxis betrat, schaute die blonde Empfangsdame von dem Roman auf, in dem sie geschmökert hatte, und lächelte strahlend. »Guten Morgen, Mr. Yoder. Ich glaube, Sie haben heute keinen Termin.«
»Ist Dr. Cohen da?«
»Er arbeitet an Krankenblättern, aber ...«
Levi marschierte schnurstracks an ihr vorbei und pflügte ins Büro des Arztes.
Dr. Cohen war damit beschäftigt, in einem der zahlreichen Patientenordner zu schreiben, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Als Levi eintrat, schaute er von der Arbeit auf. Seine Augen weiteten sich.
»Mr. Yoder. Alicia hat mir erzählt, Sie wären bettlägerig.« Der Stift fiel ihm aus der Hand und rollte vom Schreibtisch. »Ich wollte heute Nachmittag nach Ihnen sehen. Geht es Ihnen gut?«
Das heiße Kribbeln in Levis Körper schürte seinen Zorn. »Was zum Teufel haben Sie die Frau in meine Infusion geben lassen? Es fühlt sich alles falsch an – als wäre ich high oder so.«
Der ältere Mann stand auf und stützte sich schwer auf den Schreibtisch. »Wovon reden Sie da? Sie haben eine Salzlösung gegen Dehydrierung bekommen und ein Medikament gegen Ihre Übelkeit, das ist alles.«
Beim verwirrten, ernsten Gesichtsausdruck des Arztes kam sich Levi plötzlich dumm dafür vor, dass er eine böse Absicht vermutet hatte. »Entschuldigung. Vielleicht ist es bloß ... Ich weiß auch nicht.« Er rieb über das Brennen, das von dem Tumor seitlich an seinem Hals ausging. »Eins nach dem anderen. Warum fühlt es sich an, als stünde ich in Flammen?«
»Das verstehe ich nicht.« Dr. Cohen kam um den Schreibtisch herum und schloss die Tür seines Büros. Er legte die Hand seitlich an Levis Gesicht, und die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich. Der Mediziner drehte Levis Kopf zur Seite und betastete den Knoten an seinem Hals. »Da stimmt etwas nicht ...«
Der betagte Arzt hob Levis linken Arm und fühlte mit den Fingerspitzen an mehreren Stellen entlang bis hinauf zur Achselhöhle, durch die schmerzhaft Hitze pulsierte.
»Was stimmt nicht?«, wollte Levi wissen. »Warten Sie, sagen Sie nichts, lassen Sie mich raten: Ich sterbe.«
Der ältere Arzt trat einen Schritt zurück und streifte Untersuchungshandschuhe aus Latex über. »Ziehen Sie Ihr Hemd aus.« Der humorlose Gesichtsausdruck des Mediziners duldete keine Widerrede.
Levi entkleidete sich bis auf die Taille hinunter. Als der Arzt unter seinen Armen und seitlich an der Brust entlangtastete, fragte Levi: »Was sehen Sie? Was stimmt nicht mit mir?«
»Sie haben seit der Diagnose keine Strahlenbehandlungen oder chemischen Infusionen erhalten?«
»Nein. Konnte keinen Sinn darin sehen.«
»Das verstehe ich nicht«, murmelte der Arzt. »Levi, es hat den Anschein, dass sämtliche Tumore, die sich in Ihrem Lymphsystem ausgebreitet haben, geschrumpft sind, seit Sie das letzte Mal hier waren. Die Wenigen, die ich entdecke, sind sehr hart und fühlen sich warm an, und die anderen ... nun, einige finde ich überhaupt nicht mehr. Ich will Biopsien von einigen, um zu sehen, was da vor sich geht.«
Levi seufzte. »Nur zu. Tun Sie, was Sie glauben, tun zu müssen.«
Levi lief rastlos im Wartezimmer des Sloane-Kettering Instituts auf und ab und konnte sich einfach nicht vorstellen, was so lange dauerte.
Sein Besuch bei Dr. Cohen vor mehreren Tagen hatte außer einer Ganzkörperuntersuchung und Nadeln nichts gebracht. Und auf Drängen des Arztes hatte Levi diesen Vormittag damit verbracht, sich bei Sloane-Kettering von weiteren Ärzten unter die Lupe nehmen zu lassen. Mittlerweile neigte sich der Nachmittag dem Ende zu, und er befand sich immer noch im Wartezimmer. Er hatte längst jede verfügbare Zeitschrift gelesen.
Dann ertönten irgendwo in der Ferne leicht erhobene Stimmen – eine klang wie die von Dr. Cohen. Neugierig verließ Levi den Wartebereich und folgte den Geräuschen durch die Gänge. Vor einer geschlossenen Doppeltür mit der Aufschrift »Radiologie und Histologie« blieb er stehen. Auf der anderen Seite diskutierten zwei Stimmen. Obwohl die Türen sie dämpften, war Dr. Cohens nasaler Ton unverkennbar.
»Frank, ich kann Ihnen nur so viel sagen: Vor drei Tagen hat dieser Patient meine Praxis betreten und über ein Brennen geklagt. Ich habe einige seiner Lymphknoten abgetastet, was abnormale Wucherungen bestätigt hat. Ich habe sie biopsiert und hierher gebracht.«
»Und ich, Dr. Cohen, kann Ihnen nur sagen, dass die Biopsien, die Sie hergebracht haben, unmöglich vom selben Patienten stammen können, den ich heute Vormittag biopsiert habe. Ich will wirklich nicht unhöflich sein – immerhin waren Sie an der medizinischen Fakultät mein Professor in Histologie. Aber sind Sie sicher, dass Sie nichts durcheinandergebracht haben? Ich konnte bei meiner Untersuchung weder eine Schwellung noch sonst irgendetwas Ungewöhnliches feststellen. Hat mir leidgetan, den Mann einer weiteren Biopsie unterziehen zu müssen, aber ich habe es strikt auf der Grundlage dessen getan, was Sie gesagt haben.«
Levi entfernte das Pflaster von seinem Hals und berührte die Stelle, an der ihn der Krebsspezialist von Sloan-Kettering biopsiert hatte. Wo die Probe entnommen worden war, fand er keine Spur einer Schwellung.
Während die Ärzte weiter diskutierten, lehnte er sich an die gelb gestrichene Waschbetonwand. Die Umgebung schwankte unstet. Levi schob die Hand unter sein Hemd. Versehentlich brachte er einen Knopf zum Abplatzen, als er die Beuge seines Unterarms entlangtastete. Auch er fühlte keine harten, brennenden Knötchen mehr. Anders als noch vor wenigen Tagen.
Wie ist das möglich?
Der zweite Arzt ergriff wieder das Wort. »Aufgrund der Ergebnisse der Biopsie und der PET-Aufnahmen kann ich nur sagen: Mit dem Mann da draußen im Warteraum ist alles in bester Ordnung. «