3.Cicero (106–43 v. Chr.)

Politisches Denken in Rom

Der Staat ist also die gemeinsame Sache des Volkes; Volk aber ist nicht jede beliebige Ansammlung von Menschen, sondern der Zusammenschluss einer Menge, die einvernehmlich eine Rechtsgemeinschaft bildet und durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist.

Vom Gemeinwesen, Buch I, Abschnitt 39

Rom kann sich zahlreicher politischer Schriftsteller rühmen wie etwa Caesar und Sallust, wie Tacitus, wie der später für Machiavelli wichtige Livius, ferner Plutarch und der «Philosoph auf dem Kaiserthron», Marc Aurel. Ein veritabler politischer Denker ist aber erst der römische Staatsmann, Redner und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). In den vielen Jahrhunderten, in denen das Lateinische für alle Gebildeten des Westens die gemeinsame Sprache war, ist er der bestüberlieferte, meistgelesene und auch später noch vielgerühmte Autor.

Nicht der geringste Grund für die Wertschätzung Ciceros liegt in seinem vorbildlichen Stil und dem Verdienst, erhebliche Teile des griechischen Denkens in römisches Gedankengut übertragen zu haben. Dabei schafft er eine so umfassende lateinische Begrifflichkeit, dass er sich rühmen darf, seitdem gebe es kein Gebiet der Philosophie, das nicht in lateinischer Sprache zugänglich sei. Cicero führt die «Romanisierung» der von den Griechen stammenden Philosophie zu einem Höhepunkt, beinahe zur Vollendung.

Über dieser Leistung darf man Ciceros Eigenleistung nicht vergessen, auch wenn ihr häufig eklektischer, vorgefundene Ansichten miteinander verbindender, gelegentlich auch vermengender Charakter nicht zu leugnen ist: Der Autor glänzt in der von der forensischen Rhetorik und der akademischen Skepsis inspirierten Fähigkeit, konkurrierende Ansichten zu einem Problem vorzustellen und oft auch gegeneinander abzuwägen. In der Dialogform seiner Schriften lässt er die Positionen der verschiedenen Philosophenschulen, der Platonischen Akademie, des Aristotelischen Peripatos, der Epikureer und der Stoa, auftreten. Dabei bringt er eine von griechischen Vorbildern mitgeprägte, im Kern aber römische Menschlichkeit, eine von ihm selbst, nimmt er an, vorbildlich gepflegte politische humanitas, in literarische Gestalt. Als Leser seiner Schriften stellt er sich die heranwachsende Führungsschicht Roms vor. Schließlich haben seine von Eigenlob nicht freien Werke einen hohen Quellenwert, denn ein erheblicher Teil der behandelten Ansichten und Autoren ist nur über Cicero überliefert.

Marcus Tullius Cicero entstammt einer wohlhabenden lokalen Honoratiorenfamilie, der Führungsschicht italienischer Gemeinden, dem Ritterstand. Am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum, einer Kleinstadt Mittelitaliens, geboren, ist er sechs Jahre älter als der spätere Konkurrent Caesar. Der Großvater ist kommunalpolitisch tätig; der mehr an geistigen Studien interessierte Vater zieht mit dem überragend begabten und hochehrgeizigen ältesten Sohn und dessen jüngerem Bruder Quintus nach Rom, wo Marcus Tullius eine exzellente Ausbildung erhält.

Von einem kurzen Militärdienst unterbrochen, erfährt Cicero in den Jahren 91 bis 82 v. Chr. bei Roms angesehensten Rechtsgelehrten, den beiden Mucius Scaevola, und Rednern seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus und Marcus Antonius, jene juristische und rhetorische Ausbildung, die ihn als Erstes für die Anwaltstätigkeit, später dann für Staatsämter qualifizieren soll. Mithilfe von Philon von Larissa, dem nach Rom gekommenen Schulhaupt der von Platon gegründeten, bald vom Skeptizismus dominierten Akademie, und dem Stoiker Diodotos erweitert er seine gründliche Ausbildung zur Philosophie hin.

Auf einer Studienreise nach Athen, Rhodos und Kleinasien sucht er die dort führenden Rhetoriklehrer und Philosophen auf. Schon vorher beginnt der Aufsteiger aus der Provinz («homo novus») eine glänzende Anwaltstätigkeit. Die später einschlägige politische Laufbahn lässt ihn in kürzester Frist über die üblichen Zwischenstufen – Quaestor, Ädil, Prätor – schließlich im Jahr 63 zum Konsul, also einem der zwei höchsten Amtsträger Roms, aufsteigen. In dieser einem König nahekommenden, aber nur für ein Jahr gewählten Stellung gelingt es ihm, eine gegen das aristokratische Element Roms, den Senat, gerichtete Verschwörung des Catilina zu vereiteln, was ihm Ehre, aber auch Feinde einbringt. Zunächst als Retter des Vaterlandes gefeiert, wirft man ihm später vor, das Recht auf einen ordentlichen Prozess verletzt zu haben, woraufhin er für eineinhalb Jahre verbannt wird.

Immer wieder, etwa durch die Machtübernahme Caesars im Jahr 48 politisch bedeutungslos geworden, verfasst er, auf sein Landgut zurückgezogen, in den Jahren 55 bis 51 und 46 bis 44 seine wichtigsten Schriften. Nach Caesars («des Kaisers») Tod setzt er sich für die Wiederherstellung der Republik ein. Dafür wird der 63-Jährige, wie 130 Senatoren und 2000 Ritter, von Caesar-Anhängern unter Antonius, dem Enkel des Redners Marcus Antonius, am 7. Dezember 43 ermordet. Im selben Jahr sterben die beiden Konsuln, sodass die römische Republik, der Cicero einen Großteil seines politischen und literarischen Lebens gewidmet hat, faktisch zu Ende geht.

Von seinem reichen Schrifttum (58 Reden, 19 Prosatexte und etwa 800 Briefe) sind für das politische Denken vor allem zwei Texte relevant. Beide zeichnen sich durch die für Cicero charakteristische Überhöhung von griechischer Philosophie durch römische Staatsklugheit aus. Damit stehen sie in Spannung zu Ciceros anderem, in den beiden Titeln zutage tretenden Interesse, Platons zwei Hauptwerken zum politischen Denken nachzueifern: der Theorie des schlechthin besten, aber kaum zu realisierenden Staates in der Politeia (Der Staat), bei Cicero: De re publica (Vom Gemeinwesen/Staat), und der Theorie des zweitbesten, aber immer noch relativ idealen Staates, in den Nomoi (Gesetze), bei Cicero: De legibus (Von den Gesetzen).

In die Sphäre der Politik reichen auch Passagen von De oratore (Vom Redner) und verschiedene in die Tagespolitik eingreifende Reden, namentlich die vier Reden gegen Catilina. Denkt man an die bei Platon und Aristoteles vorherrschende Verbindung der Politik mit der Ethik, so sind schließlich zwei weitere Schriften politisch erheblich: De finibus bonorum et malorum (Von den Grenzen des Guten und des Bösen) und De officiis (Von den Pflichten).

Seiner Bedeutsamkeit bewusst, stellt Cicero sein politisches Hauptwerk De re publica/Vom Staat, wörtlich: Vom Gemeinwesen, in die Tradition des von den Griechen stammenden politischen Denkens, insbesondere von Platons Politeia, vielleicht auch der Politik von Aristoteles, dessen Abhandlungen er aber wohl nicht gelesen hat. Andronikos’ Aristoteles-Ausgabe erscheint erst später. Literarisch folgt Cicero nicht Aristoteles, sondern Platon, denn De re publica ist keine Abhandlung, sondern ein Dialog, ein teils philosophisches, teils historisches, aber auch tagespolitisch orientiertes Gespräch:

Philosophisch hochgebildete Personen des öffentlichen Lebens erörtern an drei den politischen Geschäften enthobenen Festtagen die Voraussetzungen und Strukturen eines vorbildlichen Gemeinwesens. Obwohl der Dialog bis in die Spätantike viel gelesen wird, ist er nur zu etwa 25, maximal 30 Prozent überliefert.

Hauptunterredner und Gastgeber ist der jüngere Scipio (um 185–129 v. Chr.), der Bezwinger von Karthago (146) und Numantia (133), den Cicero zu Recht für einen Höhepunkt in der politischen und geistigen Kultur des republikanischen Roms hält. Das philosophische Niveau von Platons Hauptfigur der Politeia, Sokrates, braucht er nicht zu erreichen, denn er steht für Ciceros Lebensideal, eine vom griechischen Geist bereicherte römische Staatsklugheit, die sich in eigener politischer Tätigkeit zu bewähren hat.

Cicero lässt sich auf die drei Aufgaben einer Theorie des vorbildlichen Gemeinwesens ein. Jeweils zwei Bücher befassen sich mit der idealen Staatsverfassung (I–II), mit deren rechtlicher und sittlicher Grundlage (III–IV) und mit dem idealen Staatsmann (V–VI). Jedem dieser drei Gesprächspaare schickt Cicero eine persönliche Vorrede (Proömium) voraus.

Einleitend, in der umfangreichsten ersten Vorrede, spricht sich Cicero für eine vita activa aus, für ein dem Wohl der civitas (Bürgerschaft) gewidmetes aktiv-politisches Leben. Erstaunlicherweise hält Cicero, immerhin auch ein aktiver Politiker, nicht die vita activa, sondern das theoretische Leben, die Beschäftigung mit dem Ewigen und Göttlichen, für das Höchste. Die einschlägigen Kenntnisse erscheinen allerdings nicht als Selbstzweck, sondern sind in militärisch-politische Dienste gestellt.

Im Fortgang widmet sich Buch I der Verfassungstheorie. Cicero setzt das Gemeinwesen, die res publica, mit der Sache des Volkes (res populi) gleich und definiert es vom gemeinsamen Recht und Nutzen her. Den Antrieb zur Gemeinschaft sieht er nicht in der Schwäche (imbecillitas) der Menschen, sondern mit Aristoteles und der Stoa in einem natürlichen Gemeinschaftsantrieb, ergänzt um den Gedanken einer schon vorstaatlichen Verständigung über das Recht. (Nach De officiis II 73 kommt es zusätzlich auf die Sicherung des Privateigentums an.)

Daran schließt sich ein Überblick über die verschiedenen Staats- bzw. Verfassungsformen an. Er folgt der von den Griechen bekannten Gliederung in drei gelungene, weil dem Gemeinwohl dienende, und drei entartete, weil aufs Herrscherwohl fixierte Formen (De re publica I 42–45). In der Monarchie (regnum), heißt es später, kommt es auf die Fürsorge (caritas) für die Untertanen, in der Aristokratie (civitas optimatium) auf die Einsicht und den Rat der Besten, in der Demokratie (civitas popularis) auf die Freiheit des Volkes an.

Gleichwohl erklärt Cicero schon vorher, dass selbst die legitimen Staatsformen unter klaren Schwächen leiden: Die Monarchie schließt nämlich alle Untertanen von der Beratung aus, die Aristokratie räumt der großen Menge zu wenig Freiheit ein, und die Demokratie lässt wegen ihrer Gleichberechtigung keine Abstufung nach Maßgabe der Würde zu. Überdies sind die drei geglückten Staatsformen zu wenig gegen Instabilität gerüstet, weshalb sie leicht in die drei entarteten Formen umschlagen: die Monarchie in Tyrannis, die Aristokratie in Oligarchie und die Demokratie in die Herrschaft einer zügellosen Menge. Diese drei Entartungen verdienen mangels einer Rechtsgemeinschaft nicht den Titel eines Gemeinwesens, sie können überhaupt nicht als res publica gelten.

Stabil und zugleich gerecht ist allein eine Verschmelzung der drei gelungenen Staatsformen, also die gemischte Verfassung, die bei Cicero vermutlich vom griechischen Geschichtsschreiber Polybios (vor 200–nach 120 v. Chr.) beeinflusst ist. Cicero legt großen Wert auf die Verteilung der Entscheidungsbefugnisse, die teils bei der quasi-monarchischen Spitze, teils bei der Aristokratie, nicht zuletzt bei der gesamten Bürgerschaft liegen sollen. Ihm geht es dabei weniger um eine wechselseitige Kontrolle als um die Eintracht (concordia), die soziale Integration, mit der sich das Gemeinwesen, die res publica, tatsächlich als Angelegenheit des Volkes, als res populi, erweist.

Zum Zweck, die Überlegenheit Roms über Griechenland auszuweisen, also um das politische Genie des eigenen Vaterlandes herauszustellen, das sich nicht bloßer Theorie, sondern einer gewachsenen Vätersitte (mos maiorum) und einer Vielzahl großer Staatsmänner verdankt, bietet Cicero in Buch II einen Abriss der Geschichte Roms von der Gründung durch Romulus und Remus bis zur Entstehung der Republik mit ihrer idealen Ordnung der Mischverfassung: Es gibt zwar eine Volksversammlung, in ihr werden die Stimmen aber nach Vermögensstatus gewichtet, wodurch der angeblich aristokratische Charakter tatsächlich einen oligarchischen bzw. plutokratischen (reichtumsabhängigen) Anstrich erhält. Hinzu kommen, was Cicero als demokratisch bewertet, sowohl der Schutz vor Beamtenwillkür durch das Recht auf einen ordentlichen Prozess, der vor einem vom Volk legitimierten Gericht zu führen ist, als auch die Einrichtung eines Volkstribuns, der die Interessen des Volkes zu vertreten hat. Cicero ist überzeugt, dass die Ständekämpfe der frühen Republik vermieden worden wären, hätte die damalige Aristokratie von sich aus dem Volk diese Zugeständnisse gemacht (II 57–59).

Der Abriss der römischen Geschichte ist ein wenig geschönt. Cicero übergeht Romulus’ Brudermord an Remus und schreibt den Königen, ausgenommen dem Tyrannen Tarquinius Superbus («der Hochfahrende»), Weisheit zu. Im Unterschied zu Platons Politeia wird der Idealstaat als schon real gezeichnet, womit Cicero, hier ganz römischer Patriot, sein Gemeinwesen als überlegen hinstellt: Das, was bei den Griechen nur Idealität war, ist in Rom schon Wirklichkeit.

Bei dem in Rom also schon weithin realisierten Ideal, der Mischverfassung, finden sich laut Cicero Recht, Pflicht und Leistung in jener ausgeglichenen Verteilung, die den Beamten genügend Macht, dem Rat der führenden Männer genügend Autorität und dem Volk genügend Freiheit bietet (II 57). Sollte diese Beschreibung Roms zutreffen, so wäre in der Tat ein Ideal Realität geworden. Des Näheren votiert Cicero freilich für ein Übergewicht der politischen Institution, der er selbst nahestand, des Senats. Denn, heißt es im vorangehenden Abschnitt, in einem freien Volk soll «durch das Volk nur wenig, das meiste aber durch die Autorität des Senats» entschieden werden.

In den ersten zwei Büchern erörtert Cicero den Idealstaat, zunächst, in Buch I, dessen theoretische, quasi-apriorische Begründung, sodann, in Buch II, die exemplarische Realisierung in der römischen Republik. Gemäß der Schlussthese, ohne «höchste Gerechtigkeit» (summa iustitia) kann der Staat nicht regiert werden, befassen sich die nächsten zwei Bücher, III und IV, mit den sittlichen Grundlagen des idealen Gemeinwesens.

Ausgehend von der schon bei Platon zu findenden Anthropologie des Mängelwesens, dem die Natur zur Kompensation die Vernunft gegeben hat (Protagoras, 321c–d), erörtert Cicero im dritten Buch den Begriff der Gerechtigkeit, die schon bei Platon und Aristoteles die entscheidende Grundlage des Gemeinwesens bildet. Im Hintergrund steht der Auftritt von Karneades, dem damaligen Haupt der (Platonischen) Akademie, der im Jahr 155 v. Chr. als Mitglied einer Athener Gesandtschaft in Rom weilt. Dort praktiziert er die in der Akademie mittlerweile vorherrschende Skepsis, indem er in zwei aufsehenerregenden, leider nicht überlieferten Reden am ersten Tag für die Möglichkeit von Gerechtigkeit in der Politik, am nächsten dagegen argumentiert.

Cicero kehrt diese Reihenfolge um. Er beginnt mit einer «Verteidigung der Ruchlosigkeit» (improbitas), also nicht der institutionellen, sondern der personalen Gerechtigkeit. Die Aufgabe wird aber nicht einem zynischen Vertreter dieser Ansicht übertragen. Das Plädoyer für die Ungerechtigkeit in der Politik hält vielmehr Philus, der dafür wie in einem modernen Debattierwettstreit keine innere Überzeugung braucht:

Wie ein klassischer Aufklärer hebt Philus auf die Beobachtung ab, dass in den verschiedenen Staaten und innerhalb des Gemeinwesens zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Rechtsnormen vorherrschen. Infolgedessen kann das Recht im Rahmen der von den Sophisten stammenden Alternative «Natur oder Satzung/Konvention» nicht in einer unveränderlichen Natur gründen. Entscheidend sind allein partikulare Interessen und die dahinter stehende Macht der Stärkeren. Zusätzlich zur Konventionalität kommt es also auf die dem Eigennutz verpflichtete Klugheit an.

In einem vom Kirchenschriftsteller Laktanz überlieferten Teil der Karneades/Philus-Rede taucht das seither viel erörterte Beispiel von zwei Schiffbrüchigen auf. Für Karneades illustriert es die Konkurrenz von Klugheit und Gerechtigkeit: Wenn es zwar eine rettende Planke gibt, diese aber nur eine Person zu tragen vermag, wird dann nicht, lautet die rhetorische Frage, selbst ein Gerechter, falls er nur der Stärkere ist, den Schwächeren von der Planke herunterstoßen? Wird er somit nicht den zwei unstrittigen Gerechtigkeitsüberzeugungen zuwiderhandeln, man dürfe keinen Menschen töten und Fremdes nicht antasten? Die naheliegende Antwort unterstellt, was wahrhaft rechtschaffene Personen wie Sokrates bestreiten, man könne mit einem Unrecht glücklich werden. Denn tatsächlich liegt ein Unrecht vor, weil andernfalls Karneades nicht hervorheben müsste, dass es, weil es «mitten im Meer» geschieht, «keinen Zeugen gibt» (III 30).

Zuvor spottet Philus über die verbreitete Unterscheidung von drei legitimen – Königtum, Aristokratie, freiheitliche Volksherrschaft – und den drei illegitimen Staatsformen: Tyrannis, Oligarchie und Willkürherrschaft des Volkes. In Wahrheit seien nämlich alle, die als Alleinherrscher Gewalt über Leben und Tod haben, Tyrannen, nennen sich aber lieber Könige; wo aufgrund von Reichtum oder Herkunft geherrscht werde, gebe es einen Klüngel (factio), man nenne sich aber Beste (optimates). Und bei einer Volksherrschaft spricht man von Freiheit, obwohl es Willkür sei.

Später, in De re publica nur fragmentarisch erhalten, führt Philus die von Augustinus in De civitate dei (Vom Gottesstaat IV 4) übernommene und seither berühmte Anekdote über einen Seeräuber an. Auf die Frage von Alexander, welcher Frevelmut ihn antreibe, mit einem einzigen Kaperschiff das Meer unsicher zu machen, gab er zur Antwort, er handle nicht anders als Alexander, der mit seiner großen Flotte den ganzen Erdkreis unsicher mache. Diese Antwort folgt jener Klugheits- statt Gerechtigkeitsmaxime, die sich laut Philus aus den Denkmälern für die größten Feldherrn erschließen lässt: «Klugheit gebietet, die Macht zu vergrößern, den Reichtum zu mehren, das Gebiet zu erweitern», denn es kommt auf «Reichtum, Macht, Einfluss, Ehrenstellen, Befehlsgewalt, Herrscherwürde für Einzelne wie für ganze Völker» an (III 24).

Philus spart nicht mit Moralkritik: Das Muster eines vortrefflichen Menschen, den (im stoischen Sinn) Weisen, entlarvt er als nur scheinbar vortrefflich. Denn nicht deshalb sei er ein guter Mann (vir bonus), weil er (gemäß stoischer Ansicht) das Gutsein und die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen verfolge, sondern, hier Epikur nahe, «frei von Furcht, Sorge, Aufregung und Gefahr» (III 26) sein wolle. Pointiert gesagt: Der Altruismus entpuppt sich als versteckter Egoismus. Man kann hier an Nietzsches Gegensatz von Herren- und Sklavenmoral denken: Starke Menschen können klug und ungerecht, schwache müssen gerecht leben.

Die Zuhörer reagieren auf Philus’ Rede mit Entsetzen (III 28), freilich nicht mit dem blanken Entsetzen, das man gegen mehr als nur Worte, nämlich gegen Taten wie den Terror der Jakobiner empfindet. Die Zuhörerreaktion bedeutet zweierlei. Zum einen nimmt man die Rede nicht bloß als Pflichtpart in einem intellektuellen Spiel wahr, denn andernfalls müsste man über die argumentative und rhetorische Qualität der Rede sich äußern und Philus je nach Einschätzung loben oder tadeln. Zum anderen erscheinen die Argumente gegen die Gerechtigkeit als hochüberzeugend, sodass man über ihre Überzeugungskraft erschrocken ist. Unausgesprochen fürchtet man, diese Kraft nicht brechen zu können, womit das Leitziel, eine Ehrenerklärung der Gerechtigkeit, nicht erreicht würde: Muss man, da die Gerechtigkeit zu scheitern scheint, sich der Ungerechtigkeit beugen?

Nach Philus tritt Laelius mit einer leider noch weit fragmentarischer überlieferten Widerlegung auf. Er erklärt die Gerechtigkeit zu einem Naturrecht im Sinne eines Vernunftrechts: «Das wahre Gesetz (vera lex) ist die rechte Vernunft (recta ratio), die mit der Natur im Einklang steht (naturae congruens), die allen Menschen zuteilgeworden ist (diffusa in omnis), beständig (constans), ewig gültig (sempisterna)» (III 33). Wenige Zeilen später setzt Cicero zu diesen fünf Elementen drei weitere hinzu: Keine Instanz kann die Menschen von dem Gesetz entbinden, es bedarf keines Erklärers oder Interpreten, und der gemeinsame Lehrer und Gebieter ist Gott (III 33; für das Naturrecht ist auch wichtig Buch I von De legibus/Von den Gesetzen).

Diese von der Stoa beeinflussten Bestimmungen können als klassische Formulierung des Naturrechts gelten. Der in Philus’ Rede präsente Gegner stellt aber alle fünf Elemente infrage oder gibt ihnen eine andere Bedeutung, beispielsweise: Das wahre Gesetz folgt dem Prinzip Nutzen; es besteht in der Klugheit; die allen Menschen zuteilgewordene Natur achtet auf den eigenen Vorteil; nicht zuletzt sind die angeblichen Naturgesetze in Wahrheit unbeständig und wechselhaft. Statt derartige Gegenargumente anzuführen und danach zu entkräften, wird die Gegenposition zum Naturgesetz als Frevel etikettiert, worin der römische Denkhorizont angedeutet sein könnte: Von der bewährten Sitte abzuweichen, ist schlechthin verwerflich. Trotzdem spitzt nur wenig zu, wer behauptet: Eine (patriotische) Moralisierung ersetzt hier die (philosophische) Argumentation.

Wie schon im vorausgehenden Naturrechtsdenken, so fehlen auch bei Cicero nähere inhaltliche Bestimmungen. Cicero erklärt jedoch, was rechtstheoretisch einem Rechtsmoralismus entspricht und einem Rechtspositivismus widerspricht: Positive Gesetze können nur dann «Recht» sein, wenn sie mit der Natur und Vernunft übereinstimmen.

Im Vorübergehen skizziert Cicero sehr knapp die Bausteine einer «Theorie» des gerechten Krieges, die über Augustinus ins christliche Naturrecht von Thomas von Aquin eingeht und weit in die Neuzeit hineinwirkt. Nach Cicero sind drei Bedingungen zu erfüllen: Der Krieg muss angekündigt, er muss erklärt werden und darf nur die Rückgabe von Eigentum fordern, was jede Form von Bestrafung ausschließt (III 35).

Die «Theorie» des gerechten Krieges schlägt offensichtlich auf die Legitimität der römischen Weltherrschaft durch. Im Gegensatz zu Roms Selbstverständnis, nur gerechte Kriege geführt zu haben, erklärte Karneades, Roms Weltherrschaft gehe auf nichts anderes als reine Machtentfaltung zurück, die selbst formale Minimalbedingungen eines gerechten Krieges nicht erfüllte. Cicero hingegen hält als selbstbewusster Römer die durch kriegerische Expansion erworbene Herrschaft für gerechtfertigt. Eines seiner Argumente erinnert an Aristoteles’ Legitimation der Sklaverei «von Natur aus» (Politik I 6): Weil «gerade den Besten von Natur die Herrschaft gegeben ist zum größten Nutzen der Schwachen» (III 36), können die Unterworfenen froh sein, Untertanen im Römischen Reich zu sein.

Philus vertritt einen pragmatischen Rechts- und Staatspositivismus: Ein Gemeinwesen braucht keine Gerechtigkeit, entscheidend sind Nutzen- und Klugheitsabwägungen. Laelius’ Gegenposition dürfte auf einen bescheidenen Rechts- und Staatsmoralismus hinauslaufen: Die Gerechtigkeit ist für das Gemeinwesen unabdingbar, sie ist rechts- und staatsnormierend.

Cicero gibt sich damit nicht zufrieden, sondern erteilt in einer das Buch III abschließenden dritten Rede dem Gastgeber Scipio das Wort. Ihm zufolge, einem gesteigerten Staatsmoralismus, hat die Gerechtigkeit einen staatsdefinierenden Rang. Die drei in der klassischen Verfassungstheorie als illegitim geltenden Staatsformen – die Tyrannis, die Oligarchie und die Demokratie qua Willkürherrschaft der Menge – gelten nicht als Verfallsformen von Staatlichkeit. Sie sind keine schlechten Staaten, sondern Un-staaten, sie sind «überhaupt kein Staat» (III 43). Ein wahrhaftes Gemeinwesen hat vier Bedingungen zu erfüllen, von denen die ersten zwei Gerechtigkeitscharakter haben und die letzten zwei sich auf eine (staats-)bürgerliche Freundschaft belaufen: (1) Das Volk darf nicht unterdrückt werden; es müssen bestehen (2) eine Rechtsgemeinschaft, (3) ein Einverständnis im Volk und (4) eine Verbundenheit der Gemeinschaft.

Das nur in wenigen Fragmenten überlieferte Buch IV befasst sich mit Erziehung und Bildung. Über weite Strecken kritisiert es Platon, stimmt aber dessen Dichterkritik zu. Hier ein im wörtlichen Sinn konservativer Denker, lobt Cicero die von den Vorfahren überlieferten Sitten und bewährten Einrichtungen. In diesem Sinn vergleichen die einleitenden Überlegungen von Buch V den Staat mit einem «kostbaren, aufgrund seines Alters schon verblassenden», daher renovierungsbedürftigen «Gemälde». Cicero betont den Wert der Familie und weist, hier weniger reformbereit als Platon, die Gleichberechtigung von Mann und Frau zurück. Er verlangt Sittsamkeit und fides: Treue und Verlässlichkeit, Tugend (virtus, die Vortrefflichkeit eines vir, Mannes) nebst Würde (dignitas) und verwirft Schmeichelei, Prahlerei und Ehrsucht.

Die (ebenfalls nur in Fragmenten erhaltenen) Bücher V und VI reihen sich mit Überlegungen zum idealen Staatsmann in die Tradition der Fürstenspiegel ein. (Einen weiteren römischen Fürstenspiegel verfasst später der Stoiker und zeitweilige Berater Neros, Lucius Annaeus Seneca, unter dem Titel De clementia/Von der Milde.) Unausgesprochen folgt Cicero seiner eigenen Biografie, denn er plädiert für eine umfassende Bildung des künftigen Herrschers: Weise soll er sein, gerecht, maßvoll und beredt, um «mit leicht fließender Rede das Volk zu lenken» (V 2).

Abschluss und Krönung bildet im Buch VI das Vermächtnis eines großen Staatsmannes, der vollständig überlieferte Traum des Scipio. Er nimmt den die gesamte Schrift einleitenden Blick auf den Kosmos auf, relativiert, für einen großen Feldherrn und Politiker erstaunlich, die politische Lebensform mit ihrem Streben nach Ruhm und verheißt dem gerecht Handelnden Unsterblichkeit.

Fünf Elemente von De re publica verdienen besondere Aufmerksamkeit: (1) Mit der Absicht, seinem Volk und Vaterland zu dienen – da man dem Vaterland mehr Wohltaten verdanke als dem leiblichen Vater –, knüpft Cicero intentional an Aristoteles an. Denn nach dessen Gedanken der praktischen Philosophie liegt das letztere Ziel nicht in einem Erkennen, sondern dem Handeln (Nikomachische Ethik I 1, 1095a5 f.). (2) Im Rahmen seiner Verfassungserörterung räumt Cicero der aus der Tradition bekannten Mischverfassung, der Kombination monarchischer und aristokratischer mit demokratischen Elementen, den Vorrang ein. (3) Vielzitiert und wirkungsgeschichtlich einflussreich ist die vorangehende Begriffsklärung (I 39), die an Aristoteles, hier an eine in der Politik (z.B. I 2, 1253a16–18) gegebene Bestimmung erinnert: «der Staat (res publica) ist also die [gemeinsame] Sache des Volkes (res populi), ein Volk aber ist nicht jede beliebige Ansammlung von Menschen, sondern der Zusammenschluss einer Menge, die einvernehmlich eine Rechtsgemeinschaft bildet und durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist (iuris consensu et utilitatis communione sociatus)». (4) Mit Scipios Traum greift Cicero die von Platon und Aristoteles auf unterschiedliche Weise akzentuierte Einheit von Politik und Ethik auf. Er gibt ihr sogar eine quasi-religiöse Überhöhung: Dem Rechtschaffenen wird – vielleicht erneut biografisch beeinflusst, denn der große politische Erfolg blieb Cicero versagt – weniger ein diesseitiges als ein jenseitiges Glück, das der Unsterblichkeit, verheißen. (5) Dem Staatstheoretiker Cicero, der selbst als aktiver Staatsmann tätig war, fällt es leicht, erfahrungsgesättigte Überlegungen anzustellen, jedoch schwer, die eigenen römischen Verhältnisse in jener größeren Distanz zu betrachten, die Platon, den «bloßen Philosophen», befähigten, radikale Veränderungen des Vorgegebenen zu fordern.

Der zweite politische Hauptdialog De legibus (Von den Gesetzen), vermutlich zur selben Zeit wie De re publica konzipiert, spielt in Ciceros Gegenwart. Die Gesprächsführer sind Cicero selbst, sein Bruder Quintus und sein Freund Atticus. Das nur bis zur Mitte des dritten Buches erhaltene Werk folgt trotz des schon im Titel erscheinenden Anspruchs, Platons Nomoi nachzueifern, nur begrenzt dessen Ziel. Cicero kommt es nicht auf die für ein annähernd ideales Gemeinwesen erforderlichen Gesetze an. Auch flicht er wie Platon Erörterungen zur Philosophie und Theologie, zur Geschichte, Pädagogik und dem Recht ein, sie fallen aber kaum so grundlegend wie bei Platon aus. Ein Grund ist offensichtlich: Von der überragenden Qualität seines eigenen Gemeinwesens überzeugt, das daher kaum einer Verbesserung mehr bedarf, befasst er sich einerseits mit Fragen einer Rechtsphilosophie mitsamt dem Naturrecht (Buch I) und stellt andererseits detailliert das geltende römische Sakralrecht (Buch II) und Staats- und Verfassungsrecht dar.

Das Vorgespräch (I 1–12) über Dichtung und Geschichtsschreibung nimmt den Wettstreit mit Griechenland auf. Es erklärt nämlich, es brauche ein Geschichtswerk, um zu zeigen, «dass wir auch auf diesem Gebiet in nichts hinter Griechenland zurückstehen» (I 5). Danach kommt Cicero zum Hauptthema, dem alle anderen Gegenstände an Bedeutsamkeit überragenden Recht einer Bürgerschaft (ius civitatis: I 14). Das Gesetz ist nämlich die höchste, der Natur innewohnende Vernunft (lex est ratio summa, insita in natura: I 18).

Das Hauptgespräch setzt bei der «großen Frage» (I 28) nach dem sachgerechten Ursprung des Rechts an. Da es «ungezählte Jahrhunderte früher entstanden» ist, liegt die Quelle nicht in irgendeinem «geschriebenen Gesetz» (I 19), sondern, wodurch es gegen Irrtum gefeit ist, in der Natur des Menschen, in einer allen gemeinsamen (I 30) Vernunft und Denkfähigkeit (ratio et cogitatio: I 22).

In dieser ersten Argumentationsreihe (I 18–34) vertritt Cicero ein anthropologisches Naturrecht: Der Mensch nimmt in der Natur eine bevorzugte Stellung ein, die ihn über alle Lebewesen erhöht und mit den Göttern verwandt macht (I 23 f.). Nach der zweiten Argumentationsreihe, einem ethischen Naturrecht (I 40–52), gehört das Recht zu jenem objektiv, von Natur aus gültigen sittlich Guten, nämlich zur Gerechtigkeit und allen übrigen Tugenden, die um ihrer selbst willen zu pflegen sind. Denn «es ist ein Gipfel der Torheit zu glauben, dass alles, was in den Institutionen und Gesetzen der Völker festgelegt ist», dass selbst «Gesetze von Tyrannen» gerecht sind. Keine der beiden Argumentationsreihen führt zu einem substantiellen Maßstab für positive Gesetze, zu einem Kanon ewig gültiger Normen. Im Rahmen bekannter Gesetze soll vielmehr derjenige Teil den Rang eines Naturrechts haben, der in der Natur des Menschen gründet, dabei von den Entscheidungen eines Gesetzgebers unabhängig ist. Welche kriteriologische Kraft die menschliche Natur hier haben soll, ist nicht leicht zu erkennen.

Buch II fasst nach einem Vorgespräch prägnant die Ergebnisse von Buch I zusammen und erklärt, wer gegen ein Naturrecht Vorbehalte hat, kommt nicht umhin, sich bei den entsprechenden Gegenthesen im Kreise zu drehen (II 8–15). Auf die naheliegende Rückfrage, worin ein uranfängliches, auf die Vernunft und die Götter zurückgehendes Gesetz, das Naturrecht, inhaltlich besteht, erhält man lediglich die wenig befriedigende Antwort, dass die Bösen zu bestrafen und die Guten zu schützen sind.

Weil der Ursprung des Naturrechts bei den Göttern und deren Spitze, Jupiter, liegt, geht Cicero, hier Platons Nomoi (V 722d) folgend, im Sinne einer Vorrede zum Gesetz, nämlich zu Grundsätzen einer philosophischen Religionslehre, über (II 15–18). Daran schließen sich die bewusst in archaisierender Sprache verfassten Religionsgesetze an (II 19–22), die im Einzelnen erläutert und begründet werden. Buch III zum Staats- und Verfassungsrecht stellt nach einer Einleitung über das Wesen und die Notwendigkeit von Obrigkeiten (Magistraten: III 2–5), erneut in archaisierender Sprache, deren Stellung und Funktion dar (III 6–11). Nach einem Überblick über die Geschichte des Verfassungsrechts in der griechischen Philosophie und in Rom (III 12–17) wird der einschlägige institutionelle Rahmen Roms kommentiert, angereichert um zahlreiche geschichtliche Einzelheiten (III 18–47).

Noch deutlicher als in De re publica hebt Cicero die Vorzüge des zu seinem Ideal der Mischverfassung unverzichtbaren Volkstribuns hervor. Während sein Bruder Quintus auf die zerstörerischen Umtriebe früherer und derzeitiger Volkstribune hinweist, betont Cicero die friedensfördernde Funktion, da die andernfalls unkontrollierbaren Ausbrüche der Volksgewalt eine die Gewalt einhegende institutionelle Stimme erhalten (III 23–25).

Von einem so intimen Kenner des Rechts wie Cicero darf man erwarten, dass er in den heute fehlenden Büchern IV bis VI rechtssystematisch vorgegangen ist, er folglich in Buch IV das öffentliche Recht einschließlich Rechtsprechung und Strafrecht (vgl. III 47) und danach, in Buch V bis VI, das Zivilrecht (vgl. III 29 f.) behandelt hat. Mangels einschlägiger Fragmente handelt es sich bei dieser Erwartung aber um eine bloße Vermutung.

Gegenüber der vorliegenden Verfassung schlägt Cicero nur wenige Veränderungen vor, sie belaufen sich auf eine Stärkung des Senats. Insgesamt erscheint Roms Rechts- und Staatsordnung als ziemlich perfekt, das (beinahe) Vollkommene bedarf keiner wesentlichen Verbesserung.

Als einer der über lange Zeit meistgelesenen politischen Denker übt Cicero bis in die europäische Aufklärung eine enorme Wirkung aus. Ciceronianer so wie Platoniker, Aristoteliker oder Epikureer, gibt es aber schon deshalb nicht, weil sich in Ciceros Werk kaum grundlegend neue Gedanken finden. Vielmehr laufen die vorausgehenden philosophischen Traditionen auf eine bewundernswerte, daher vielleicht wiederholbare, jedoch kaum eigenständig weiterzuführende Weise zusammen. Ciceros weltläufige Lebenserfahrung, verbunden mit der Fairness, auch nicht zusagende Auffassungen möglichst unvoreingenommen zu erörtern, erschließt jedoch ein großes Bildungspublikum. Im Zeitalter der Aufklärung erreicht Ciceros Wertschätzung einen Höhepunkt.

Über viele Jahrhunderte ist Cicero entweder mangels anderer Zeugnisse oder wegen seiner verständlichen Darstellung auch hochkomplexer Probleme eine herausragende Quelle für Platonische, Aristotelische, Epikureische und stoische Lehrstücke. Diese gehen daher häufig nicht in ihrer Originalversion, sondern in der von Cicero vermittelten Gestalt in den Fundus des abendländischen Denkens, insbesondere auch des politischen Denkens, der Rechts- und Staatsphilosophie, ein. Dies trifft zum Beispiel auf die Lehre der legitimen und illegitimen Verfassungen zu, auf den Vorzug der sogenannten Mischverfassung, auf den Gedanken des Naturrechts und den eines gerechten Krieges. Ciceros diesbezügliche Gedanken haben aber häufig mehr den Rang einer Problemstellung als den einer schon überzeugenden Lösung.

Lektüreempfehlung  Man beginne mit der Vorrede (I 1–12) von De re publica (Vom Gemeinwesen/Vom Staat) und schließe zunächst die Erörterung der Verfassungsformen (I 35–71, bes. 35–54), dann die politische Anthropologie (III 1–7) und die Abschlussrede zur Gerechtigkeit an (III 43–48).