Zwischenspiel

Politisches Denken im Neuen Testament

Mit dem Christentum tritt ins politische Denken eine neue geistige und soziale Kraft ein. Der Einfluss übersteigt die Auflösung der griechischen Polis weit. Nicht brüsk, auf einen Schlag, aber nach und nach gelingt es einer ihrem Wesen nach nichtpolitischen Bewegung, das politische Denken des Abendlandes grundlegend zu verändern.

Während Platon das politische Denken mit so gut wie allen Bereichen seines Philosophierens verknüpft, beschränken sich Aristoteles und Cicero hier auf die Verzahnung der Politik mit der Ethik und einer philosophisch anspruchsvollen Rhetorik. In dieser Weise wird die praktische Philosophie weithin autonom: Sie hat einen eigenen Gegenstand, den sie um ihrer praktischen Intention willen themen- und facettenreich erörtert, ohne dabei anderer philosophischer Disziplinen, von einer allgemeinen Wissenschaftstheorie abgesehen, zu bedürfen. Unter dem Einfluss des Christentums geht diese sowohl thematische als auch methodische Autonomie verloren.

Der überragende Denker der Frühzeit, Augustinus, nimmt zwar die Verzahnung auf. In dieses Moment der Kontinuität bricht jedoch eine Diskontinuität von revolutionärer Tragweite ein. Das politische Denken wird in seinem Inneren, seinem Wesen, von Religion durchdrungen. Bloße, allenfalls mit Ethik und Rhetorik verknüpfte Politik hat ihr Recht verloren. Von Religion bis in den Kern geprägt, wandelt sich das genuin politische Denken zu einer politischen Theologie und theologischen Politik.

Die politischen Gedanken, die die Gründungsdokumente einer Religion in der Regel enthalten, treten nicht immer offensichtlich zutage. Dass nach der Genesis der Mensch – zu betonen: jeder Mensch – als Ebenbild Gottes geschaffen ist, entfaltet erst nach langer Zeit seine volle Sprengkraft. Zunächst, im Christentum, wird die ethnische Begrenzung des Judentums zugunsten aller Menschen guten Willens aufgehoben, mithin das bei jüdischen Propheten sich erst andeutende Potential der Universalisierung realisiert.

Im Kanon des Christentums, im Neuen Testament, relativiert der Satz «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist» (Matthäus 22,21) die im Alten Orient vorherrschende, bei Cicero, im Rekurs auf das römische Sakralrecht, noch mitschwingende Verquickung von Politik und Religion. Eine für die freiheitliche Entwicklung des Abendlandes grundlegende Unterscheidung von Staat und Religion und deren schließliche Trennung haben also einen christlichen Ansatz.

Die Trennung muss allerdings keine politischen Folgen zeitigen, wie der Brief des Apostels Paulus an Philemon, den Herrn eines Sklaven, zeigt. Paulus’ Aufforderung, den entlaufenen Onesimus «wie einen Bruder» zu behandeln, sucht für ein rechtliches und soziales Ärgernis, die Sklaverei, eine Lösung aus dem Kern des Christentums, der Nächstenliebe. Sie verdrängt jedoch die rechtliche, zugleich genuin politische Lösung, die Aufhebung der Institution der Sklaverei. Denn der als Bruder zu Behandelnde bleibt ein Sklave.

Darin tritt die größte politische Folge des Christentums, eine wahrhaft radikale Relativierung alles Politischen, zutage. Zwei Relativierungsstrategien sind schon von den Griechen bekannt: Trotz dessen hoher Wertschätzung unterwirft Aristoteles das (moralisch-)politische Leben im Namen seines ethischen Leitprinzips, der Eudaimonie, einer Relativierung zugunsten des theoretischen Lebens. Die Lebensweise, die sich der Philosophie und anderen rein theoretischen Wissenschaften widmet, erhält den Vorrang. Im Rahmen der «menschlichen» Angelegenheiten behält die Politik aber bei Aristoteles ebenso wie bei Cicero eine überragende Bedeutung. Diese geht in der zweiten, von den drei nachklassischen, «hellenistischen» Philosophie-Schulen vorgenommenen Relativierungsstrategie weitgehend verloren: bei den Kynikern mit ihrem Ideal der Bedürfnislosigkeit, bei den Epikureern, weil sie nach heiterer Gelassenheit streben, und in der Stoa, der es auf eine harmonische Gesamtpersönlichkeit ankommt, zu der allerdings ein gewisses politisches Engagement hinzugehört.

Mitverantwortlich für das geringere Interesse an der Politik ist eine grundlegende Veränderung des Gegenstandes: In Zeiten, in denen nach dem Untergang der griechischen Stadtrepubliken dem gewöhnlichen Bürger die politische Mitwirkung so gut wie verschlossen ist, zerbricht der frühere politische Eudaimonismus, die Einheit von persönlichem und politischem Wohl. Das «zwangsläufig» in den Mittelpunkt rückende «privatisierte» Glück wird als eine innere Unabhängigkeit und Ruhe gesucht, für die mit Epikur eine soziale Schwundstufe reicht: drei oder vier Freunde.

Im Christentum findet sich eine neuartige, also dritte Strategie. Sie beherrscht zwar nicht das gesamte Christentum, ist aber in vielen Phasen der Wirkungsgeschichte dominant. Sie gründet in der Botschaft Jesu, etwa der Aussage «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» (Johannes 18,36) und dem erwähnten Matthäus-Vers «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.» In dieser Sphärentrennung, der Welt des Kaisers und der Gottes, der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre, wird das «(König-)Reich Gottes» mit der «Königsherrschaft Gottes» dem bisher bekannten, üblichen «Reich», der weltlichen Herrschaft, entgegengesetzt. Beide Reiche sind nicht etwa gleichrangig; statt einer Nebenordnung herrscht ein Vorrang im Sinne einer Hierarchie im wörtlichen Sinn einer heiligen Herrschaft. Die göttliche Herrschaft drängt die weltliche ins zweite Glied, nicht selten in den beinahe belanglosen Hintergrund.

Aus der Zwei-Reiche-Lehre folgt ein weiterer Dualismus, eine Zwei-Welten-Lehre, die vielleicht nicht notwendig, aber vielfach zu einem dritten Dualismus, einer Zwei-Leben-Lehre, führt. Die bisher diskutierten und auch praktizierten Lebensformen werden trotz der vorher betonten Unterschiede in einer Gemeinsamkeit wahrgenommen. Sowohl die meist als wenig glückstauglich eingeschätzten Lebensformen, das Genussleben und das Kaufmannsleben, als auch die zwei empfehlenswerten Lebensformen, das sittlich-politische und das philosophisch-theoretische Leben, gelten als irdisches Leben und werden als solches zu einem wesentlich vorläufigen Leben herabgewürdigt. Entscheidend, und zwar im Unterschied zu Platons Politeia nicht mit-, sondern alleinentscheidend ist das Jenseits wegen seines alles Irdische, auch die antike Eudaimonie übersteigenden Heils.

Trotzdem lässt sich die Wirklichkeit, auch Notwendigkeit der gewöhnlichen Politik und politischen Herrschaft nicht verdrängen, worauf die christlichen Denker aber unterschiedlich reagieren. In einem für die christliche Theorie des Politischen hochbedeutsamen Text, im Brief an die Römer, fordert der Apostel Paulus die römische Gemeinde auf, ihrer Obrigkeit untertan zu sein. Er begründet diese Rechtfertigung eines Obrigkeitsstaates mit einem theologischen Argument, das den Christen über Jahrhunderte den Protest, notfalls Widerstand gegen politische Gewalt erschwert, beinahe unmöglich macht: «Denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott; wo es aber Obrigkeit gibt, ist sie von Gott angeordnet.» (Römer 13,1) In diesem Satz gründet der von Fürsten bis weit in die Neuzeit hinaus erhobene politische Anspruch, Herrscher «von Gottes Gnaden» zu sein.

Die von Paulus geforderte Loyalität gegenüber der jeweiligen weltlichen Herrschaft findet sich in der genannten Trennung der politischen von der göttlichen Sphäre wieder. Der christliche Kanon enthält aber auch einen wahren Gegentext. In der Offenbarung des Johannes, der auch «Geheime Offenbarung» genannten Apokalypse, erscheint die Obrigkeit als ein satanischer Drache (13) und als Hure Babylon (17) im Gegensatz zum neuen Jerusalem (21).

Andernorts, zumal in den vier Evangelien spielt, von der Sphärentrennung abgesehen, das genuin Politische so gut wie keine Rolle. Im Vordergrund, besonders deutlich in der Bergpredigt, steht die eher apolitische, weil vor allem für freie Nahbeziehungen gültige Verpflichtung zur Nächstenliebe. Deren politisches Gehalt lässt sich nur paradox formulieren: Die politische Botschaft besteht in der apolitischen, sogar antipolitischen Aufforderung zum Gewaltverzicht und zur Feindesliebe. Hinzu kommt das häufig ausgesprochene Gebot, das entsprechende Verhalten des Meisters nachzuahmen: «Geh’ hin und tu desgleichen» (Lukas 10,37).

Hier taucht freilich der Gedanke des Jenseits nicht auf. So eindeutig, wie oft angenommen, ist im Christentum die Relativierung des Diesseits nicht. Das Gebot jener Nachahmung eines Vorbildes, die später imitatio Christi heißt, enthält vielmehr eine Variante der «hellenistischen» Relativierung des Politischen: Entscheidend ist das persönliche Leben, im Christentum aber nicht eine leidenschaftslose, vom Sozialen bis auf wenige Freunde unabhängige Innerlichkeit. Es kommt vielmehr auf ein vom Liebesgebot bestimmtes Zusammenleben an, das sich im Wesentlichen im vorpolitischen, wenn auch sozialen Bereich abspielt.