Dieser Mensch auf der vollkommensten Stufe des Menschseins ist der Mensch, der jede Handlung kennt, durch die die Glückseligkeit erlangt werden kann. Das ist die erste Bedingung für einen Herrscher. Darüber hinaus sollte er ein guter Redner sein und er sollte fähig sein, die Vorstellungskraft zu vermehren mit allem, was er weiß. Er sollte dazu fähig sein, die Leute auf dem rechten Pfad zur Glückseligkeit und zu Taten zu führen, durch die man die Glückseligkeit erlangt. Außerdem sollte er eine gute physische Konstitution haben, um auch die Anforderungen des Krieges zu meistern.
Dies ist der Herrscher, über den überhaupt kein anderer Mensch herrschen kann, er ist der Imam; er ist der erste Herrscher der vortrefflichen Stadt, er ist der Herrscher der vortrefflichen Nation und der Herrscher der bewohnbaren Erde.
Der vortreffliche Staat, Kap. 15, § 10
Der erste islamische Philosoph von Rang, der aus arabischem Adel stammende Abū Ya‘quūb al-Kindī (um 800–866), ist zwar ein Universalgelehrter, aber kein politischer Denker. In seinem Hauptwerk Über die Erste Philosophie und der noch einflussreicheren Abhandlung Über den Intellekt vertritt er eine doppelte Übereinstimmung, den Einklang der griechischen Philosophen, namentlich Platon und Aristoteles, untereinander und deren Übereinstimmung mit dem Koran. Im Konfliktfall sei jedoch der Koran überlegen, denn seine Offenbarung stelle die höchste, weder durch Wahrnehmungs- noch Denkfehler beeinträchtigte Form des Wissens dar.
Der nächste herausragende Denker, Abū Nāsr Muhammad Ibn-Tarhān al-Fārābī (um 870–950), setzt sich nachdrücklich gegen al-Kindī ab. Mitverantwortlich dürfte die weit fortgeschrittene Übersetzung griechischer Philosophen sein, deren umfassende Kenntnis ein von heiligen Schriften unabhängiges Denken erleichtert. In welcher Form al-Fārābī Platons Politeia vorlag, ist ungeklärt; von Aristoteles’ Politik waren ihm nur einzelne Abschnitte bekannt.
Al-Fārābī kritisiert nicht den Islam, denn wie al-Kindī ist er überzeugt, dass Philosophie und Religion dieselbe Wahrheit vertreten. Dabei hat die Philosophie mit ihren Begriffen und Argumenten der mit Bildern und Gleichnissen operierenden Religion zu dienen. Der von außerhalb des Arabischen, aus dem Türkischen oder Persischen stammende Denker lernt aber im damaligen wissenschaftlichen und philosophischen Zentrum der islamischen Welt, in Bagdad, Aristoteles’ sogenanntes Organon («Werkzeug»), kennen. In diesen Schriften zur Logik, Wissenschaftstheorie und frühen Ontologie sieht er eine Hierarchie von Wissensformen, mit der Philosophie als Spitze, was ihn zu einer Fortsetzung der revolutionären Veränderung im islamischen Denken inspiriert:
Allein die Philosophie verfügt über jenes beweisbare und allgemeingültige Wissen, das Aristoteles in den Zweiten Analytiken entfaltet. Die Theologie ist hingegen nur zu den «wahrscheinlichen» Aussagen der aus der Topik bekannten Dialektik fähig. Der religiöse Ritus schließlich hat mit seiner nur partikular, für einen gewissen Kulturraum gültigen Wahrheit lediglich den Rang der Rhetorik («sie soll das Volk überzeugen») und der Poesie («sie stellt die Wahrheit bildlich dar»). In Konfliktfällen braucht sich daher die Philosophie der Offenbarung nicht zu unterwerfen. Im Gegensatz zu Augustinus und lange vor Albert und Thomas von Aquin spricht al-Fārābī der Philosophie eine wissenschaftstheoretische Eigenständigkeit, eine Autonomie gegenüber der Theologie zu, mit der sich eine Hellenisierung des islamischen Denkens vollendet.
In der Überzeugung, die Philosophie habe nunmehr in der islamischen Welt ihre Heimat gefunden, entwickelt er in zahlreichen Schriften ein so umfassendes und gewichtiges Werk, dass es ihm den Ehrentitel «Zweiter Philosoph» einbringt. Wie der rangmäßig «erste Philosoph», Aristoteles, ist auch al-Fārābī weit mehr als lediglich Philosoph. Er verfasst zum Beispiel Abhandlungen über die Dichtkunst und das im klassischen Islam bedeutendste Werk zur Musiktheorie.
In diesem thematisch weitläufigen Œuvre findet sich eine Schrift, die ihr Thema, die Politik, schon im Titel trägt, aber weit mehr Gegenstände erörtert: Mabādi‘ ārā ahl al-madīna al-fādila: Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner eines vortrefflichen Staates (942/43), knapper: Der vortreffliche Staat oder auch Der Musterstaat. (Madīna mag zwar wörtlich «Stadt» heißen, in der Sache geht es dem Text jedoch um ein Gemeinwesen, einen Staat.) Als das erste, im klassischen islamischen Denken sogar überhaupt einzige große Werk politischer Philosophie prägt Mabādi viele Generationen islamischer Denker. Da es aber, anders als andere Werke von al-Fārābī, nicht ins Lateinische übersetzt wird, kann es das christliche Mittelalter nicht beeinflussen.
Der Kurztitel Der vortreffliche Staat oder Der Musterstaat ist irreführend. Denn das umfangreiche Hauptwerk befasst sich mit weit mehr als nur politischem Denken. In insgesamt 19, ihrerseits sechs größeren Abschnitten zugeordneten Kapiteln entfaltet es in einer Gesamtschau der göttlichen und menschlichen Welt ein umfassendes System, eine Summe der Philosophie. In ihr werden sowohl Fragen der Metaphysik, der Physik (einschließlich Biologie) und der Psychologie als auch der Ethik und Politik erörtert. Zugleich wird eine philosophische Alternative zu den theologischen Summen der Zeit geliefert.
Al-Fārābī holt nämlich weit aus. Bevor er auf die Beziehung der Menschen zueinander und die dafür erforderliche Herrschaft eingeht, stellt er die im Universum herrschende Hierarchie vor. Er beginnt mit der ersten, in jeder Hinsicht vollkommenen Ursache, Gott, steigt von ihr über die Zwischenstufen der Kosmologie und der irdischen (sublunaren) Welt zu einer Anthropologie herab, die den Menschen als ein Leib-Seele-Wesen mit einem eigenen Willen und dem Verlangen nach Glück sowie dem Vorstellungsvermögen und der Gabe der Prophetie versteht. Der vorletzte Abschnitt befasst sich mit der menschlichen Gemeinschaft, für die es drei vortreffliche Arten gibt: den Weltstaat (al-Fārābī erwähnt ihn, obwohl es damals nicht einmal Ansätze für ihn gab), die Nation (arab. umma: Gemeinschaft, hier der Einzelstaat) und die Stadt. Im letzten Abschnitt geht es um die Ansichten von Bürgern fehlerhafter Gemeinwesen.
Diesen langen Weg darf man nicht als umständliche Einführung zum Titelthema, dem vorzüglichen Gemeinwesen, missverstehen. Darin liegt vielmehr eine philosophische, zugleich politische Aussage. Philosophiegeschichtlich gesehen besteht sie in einem Bekenntnis zu Platon und dem Neuplatonismus. Im Gegensatz zu Aristoteles hat der vortreffliche Staat seinen Ort in einer metaphysisch begründeten Gesamtstruktur des Seins. Diese steht nicht etwa nur im Rücken des vorbildlichen Herrschers, vielmehr soll dieser sie kennen und von ihr aus die Bürger zur richtigen Lebensführung anleiten.
In literarischer Hinsicht ist al-Fārābīs Schlüsselwerk nicht wie sein sachliches Vorbild, Platons Politeia, ein Dialog, sondern folgt Aristoteles’ Muster, der Abhandlung. Der klar geschriebene, keine sprachliche Brillanz suchende Text wendet sich an ein philosophisch gebildetes, mit neuplatonischem Gedankengut vertrautes, aber nicht professionelles Publikum. Dieses erwartet auf die intellektuellen, religiösen und politischen Fragen der Zeit keine konkreten theologischen und politischen Kommentare, sondern die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Universums gegebene philosophische Antwort.
Entscheidend für al-Fārābī, für sein erkenntnistheoretisches Verhältnis von Philosophie und Offenbarung und für eine Pointe der politischen Philosophie, die Philosophen-Propheten-Herrschaft, ist eine Theorie des tätigen Geistes bzw. aktiven Intellekts. Dieser, der alle Menschen zu den für sie wesentlichen Einsichten befähigt, ist auch für die höheren Erkenntnisstufen, für Offenbarung und schließlich die Philosophie, zuständig. Da aber lediglich die Philosophie sich ausschließlich des rationalen Seelenteils bedient, gilt sie als der Offenbarung überlegen. Diese benötigt nämlich, was die Philosophie nicht braucht, ein Vermögen, das sich zwischen der Vernunft und der Sinnlichkeit befindet, die Einbildungskraft, die ihre höchste Stufe in den Visionen von Propheten erreicht (Vortrefflicher Staat, Kap. 14, § 9).
Das Werk endet und gipfelt in einer politischen Philosophie, was den Kurztitel denn doch berechtigt: Das vollkommene Gemeinwesen, das in Weisheit und Tugendhaftigkeit gründet, bildet im Geist des Neuplatonismus zwischen dem Mikrokosmos, dem nach Vollkommenheit strebenden Menschen, und dem Makrokosmos, dem vollkommenen Universum, die vermittelnde und Einheit stiftende Instanz.
Al-Fārābī übernimmt ein organologisches Staatsdenken, nach dem das Gemeinwesen als ein menschlicher Körper zu verstehen ist. Dafür gibt es durchaus antike Vorbilder, z.B. Platon, der allerdings die Stände in Analogie zur Seele sieht. Daher ist hier eher an Livius’ Erzählung vom Aufstand des Magens gegen die Glieder, auch an Cicero zu denken. Für al-Fārābī gleicht das vortreffliche Gemeinwesen einem vollkommenen Körper, in dem durch das Zusammenwirken aller Gliedmaßen das Leben in einem Zustand vollkommen erhalten bleibt. Wie es im hierarchisch gegliederten Körper ein leitendes, zugleich vollkommenes Organ gibt, so braucht ein Gemeinwesen einen vorzüglichen Regenten, der seiner angeborenen Natur nach zur Herrschaft prädisponiert sein und zusätzlich einen Willen zu herrschen entwickeln muss.
Offensichtlich steckt in derartigen Aussagen ein hohes Maß an politischer Kritik. Denn es kommt ausschließlich auf das eigene Können und Wollen an, nicht wie bei den Herrschern der Zeit auf die Abstammung, also Geburt. Al-Fārābī verdankt dieses politisch revolutionäre Potential Platons Gedanken eines Philosophen-Königs, dem er eine islamisch-religiöse Wendung gibt. Der ideale Herrscher ist nicht nur ein «weiser Mann und Philosoph», sondern zusätzlich «ein visionärer Prophet» (Vortrefflicher Staat, Kap. 15, § 9), was Platons Philosophen-Herrschaft in eine dem erwähnten Caesaropapismus nahekommende Philosophen-Propheten-Herrschaft transformiert.
Vor allem der historisch erste Herrscher, der Staatsgründer, braucht für seine anspruchsvolle Aufgabe zwölf natürliche, von Geburt an mitgegebene Fähigkeiten, die sich großenteils in Buch VI von Platons Politeia, später in so gut wie allen Fürstenspiegeln finden. Den stolzen Kriterienkatalog erfüllt glücklicherweise, weil damit eine etwaige Konkurrenz entfällt, zur selben Zeit nur eine Person.
Realistischerweise beginnt al-Fārābī mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu herrschen. Als Nächstes brauche es eine vorzügliche Vorstellungskraft, zu der auch die Gabe der Prophetie gehört. Der ideale Herrscher zeichnet sich also durch eine Doppelqualifikation aus, durch die Einheit von Philosophie und Prophetie, die an Mohammed qua Regenten des Stadtstaates Medina denken lässt, auch wenn ihn al-Fārābī hier nicht nennt. Der vorzügliche Herrscher muss außerdem ein guter Redner sein, der zu überzeugen versteht, worin der Vorrang vor autoritären Befehlen anklingt. Weiterhin braucht er Gesundheit und physische Kraft, Seelengröße und Ehrliebe. Er darf wenig um Geld und andere weltlichen Dinge besorgt, muss hingegen rechtschaffen, entschlussfreudig und zielstrebig sein.
Im Vergleich mit Platon fallen zwei Unterschiede auf: Während Mohammed die Herrschaft von Medina bereitwillig übernahm, also ein «natürliches» Machtinteresse besaß, fehlt dieses bei Platon, denn dessen Philosophen müssen, weil sie lieber philosophieren als herrschen, zur Herrschaft gezwungen werden. Überdies ist Platons Vorbild, Sokrates, ein bloßer Philosoph, der sich zwar laut Symposion von einer Priesterin, Diotima, belehren lässt, seine Lehre aber nicht als eine dem Selbstdenken und der Kritik enthobene Offenbarung ausgibt.
Weil laut al-Fārābī der vortreffliche Herrscher so selten ist, erkennt der Autor zwei weitere, insgesamt also drei Staatsformen als legitim an. Hier weicht er vom überlieferten politischen Denken ab. Insbesondere kommen zwei seit Aristoteles vertretene und von Cicero aufgenommene Formen nicht vor, weder der Staat von freien und gleichen Bürgern noch die Mischverfassung. Nach al-Fārābī darf es außer der Monarchie des schlechthin besten Herrschers noch die Monarchie eines zweitbesten Herrschers, schließlich eine Aristokratie geben, in der die Herrschaft auf mehrere, in ihren Fähigkeiten sich ergänzende Personen aufgeteilt wird. Gemeinsam ist, dass man die Herrschaft nicht vererbt, da nicht der Sohn, sondern der Fähigste regieren soll.
Bei der Aristokratie überlegt sich al-Fārābī nicht, wie das Miteinander-Regieren funktionieren soll. Vermutlich setzt er zweierlei voraus: zum einen, dass dank einer glücklichen Konstellation der Spezialisierung keiner der Herrscher Fähigkeiten besitzt, die sich mit denen der anderen Mitherrscher überschneiden, folglich konkurrieren, zum anderen, dass sie sich gegenseitig in ihrer Spezialfähigkeit anerkennen, daher ihren Mitherrschern die entsprechenden Herrschaftskompetenzen neidlos überlassen.
Den philosophisch-politischen Höhepunkt des ganzen Werkes bildet eine Erläuterung zum Verhältnis von Philosophie und Religion. Nach Kapitel 17 können lediglich Philosophen und ihre Schüler die Wahrheit der Dinge unverhüllt erkennen. Den Religionen dagegen obliegt es, dieselbe Wahrheit den gewöhnlichen Menschen, den Nichtphilosophen, in Gleichnissen und Symbolen nahezubringen. Für sie hat jede politische Gemeinschaft (umma) ihre eigene Tradition, was eine bemerkenswerte Toleranz zur Folge hat: Wegen der Verschiedenheit ihres kulturellen Kontextes drückt jede Gemeinschaft ihre Überzeugungen in unterschiedlichen Gleichnissen und Symbolen, folglich verschiedenen Religionen aus. Danach kann es vortreffliche Nationen und vortreffliche Städte geben, die trotz unterschiedlicher Religion sich auf ein und dasselbe Glück berufen und genau dieselben Ziele verfolgen (Kap. 17, § 2).
Im vorletzten Kapitel beschreibt al-Fārābī ausführlich die verfehlten Staatsformen, die sich aber nicht aus dem Aristotelisch-Ciceronischen Kriterium des Herrscherwohls, sondern aus drei anderen Fehlerquellen ergeben: In den ignoranten Gemeinwesen fehlt sowohl dem Herrscher als auch den Untertanen die Erkenntnis über das wahre Gute, das veritable Glück. In den irrenden Gemeinwesen besitzen die Herrscher die Erkenntnis, teilen sie aber nicht mit ihren Untertanen. Beim dritten Fehlertyp, dem unmoralischen bzw. sündigen Gemeinwesen, haben zwar beide Seiten, Herrscher und Untertanen, Zugang zur Erkenntnis, wegen niedriger Motive vernachlässigen sie aber das Gute oder streben sogar das Schlechte an. Alle drei Fehlformen führen den Menschen weg vom Heil und ziehen ihn ins Verderben.
Überblickt man das im Vortrefflichen Staat enthaltene politische Denken, so fällt manches Defizit auf. Al-Fārābī hat kein Interesse an politischen Institutionen und wenig Verständnis für die Politik als Kampf um Macht und für partikulare Interessen. Auf die seit Platon wichtige Frage nach einer etwaigen Frauen- und Kindergemeinschaft und die nach einer Gleichberechtigung von Mann und Frau geht er nicht ein. Wie Platon und Aristoteles vertritt er einen Eudaimonismus, der aber ähnlich wie bei Augustinus seines genuin politischen Charakters entkleidet wird, stattdessen von eschatologisch-spiritueller Natur ist: Das vollkommene Glück, das Heil, lässt sich erst im Jenseits erreichen. Weil es für den schon im Diesseits erreichbaren Anteil ein möglichst musterhaftes Gemeinwesen braucht, geht aber in al-Fārābīs Eudaimonismus der politische Charakter nicht ganz verloren.
Ein weiteres, später entstandenes Werk dürfte al-Fārābīs letztes Wort zum politischen Denken enthalten. Der schmale Text trägt den Titel Fusūl [al-madanī; in einer anderen Handschrift: munta-za’a], zu Deutsch Aphorismen des Staatsmannes oder Staatslenkers. Die in zwei Teile gegliederten 95 Textstücke sind allerdings nicht annähernd so knapp, pointiert und sprachlich brillant, wie wir es aus der abendländischen Aphoristik kennen.
Gemäß seinem Vorwort verfolgt al-Fārābī das bescheidene Ziel, zur Verbindung von Politik und Ethik die Ansichten der Alten – gemeint sind die griechischen Philosophen – wiederzugeben. Ihn leiten dabei die zwei Fragen, wie die Gemeinwesen regiert und zur Blüte gebracht werden sollen und wie das Leben der Menschen zu verbessern und auf das Glück auszurichten ist. Der Autor bleibt zwei wesentlichen Gedanken seines ersten politischen Werkes treu, dem metaphysischen und geistphilosophischen Rahmen und dem Begriff des Glücks, das man auf Erden unter einem tugendhaften König erreicht. Ebensowenig verändern sich die Anforderungen an den guten Herrscher und die Unterscheidung von idealen und zweitbesten Regenten.
Al-Fārābī nimmt aber auch Akzentverschiebungen vor, zu denen die Analogie von Medizin und Staatskunst gehört. Wie der Arzt den gesamten Leib, das Funktionieren der Glieder, deren Krankheiten und deren Heilung, zu kennen hat, so muss der Staatsmann mit dem gesamten Bürger, mit dessen Seele, ihren Teilen, ihren Lastern und deren Überwindung, vertraut sein.
Al-Fārābī übernimmt von Platon diese Analogie, ansonsten folgt er weitgehend Aristoteles’ Psychologie: Er unterscheidet ethische und dianoetische Tugenden (I 8) und übernimmt für die ethischen Tugenden die Mesotes-Lehre: die Tugend als Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, die er an Aristotelischen Beispielen wie Besonnenheit, Freigebigkeit und Tapferkeit erläutert (I 16). Im Fortgang übernimmt er Aristoteles’ Unterscheidung einer allgemeinen Gerechtigkeit, die sich auf Rechtschaffenheit beläuft, und einer speziellen Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit im engeren Verständnis (I 60). Der nächste Gedanke erinnert ebenfalls an Aristoteles, der dort allerdings, in Politik I 2, nicht von einem Wunschstaat handelt: In al-Fārābīs Minimalstaat dient die wechselseitige Hilfe dem Überleben der Bürger, im Idealstaat dem endgültigen Glück (I 25), wofür der wahre König mit seiner Regierungskunst sorgt (I 27).
Der Idealstaat setzt sich aus fünf Gruppen oder Ständen zusammen, an deren Spitze die im theoretischen, zugleich praktischen Sinn weisen Personen stehen. Es folgen die für die Religion zuständigen Personen mitsamt den Rednern, Dichtern und Musikern. Die dritte Gruppe bilden die Messkünstler, zu denen die Rechnungsprüfer, Landmesser, Ärzte und Sterndeuter zählen. An vierter Stelle, also weit später als in Platons Politeia, kommen das Militär und die Wächterschaft. Und den untersten Stand bilden die für den Wohlstand des Staates verantwortlichen «Reichen»: die Bauern, Schäfer und Kaufleute (I 53). Auffallenderweise fehlt ein Großteil der Bevölkerung, der al-Fārābī, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, vermutlich längere Zeit selbst angehörte, die Arbeiter- und Dienerschaft.
Bei den Bedingungen, die die Aphorismen für den idealen Herrscher anführen, ist die Fähigkeit neu, den Heiligen Krieg (jihād) zu führen. Noch deutlicher als im Vortrefflichen Staat sollen die Philosophen-Propheten-Könige dank einer Verbindung von spekulativem mit praktischem Wissen Feldherren, Gesetzeskönige, Redner und Richter in einer Person sein.
Auf der Grundlage seiner Anforderungen an den vortrefflichen Herrscher erweitert al-Fārābī die Zahl der legitimen Herrschaftskonstellationen von bisher drei auf vier, womit er erneut von der Tradition abweicht: (1) Eine Person erfüllt alle Bedingungen, was die beste Staatsform, eine Monarchie, die Philosophen-Propheten-Herrschaft, ermöglicht. (2) Keine einzelne Person, wohl aber mehrere Personen, da sich ihre spezialisierten Fähigkeiten ergänzen, erfüllen die Bedingungen zusammen, was zu einer Art Aristokratie führt. Daran schließt sich die Situation an, dass weder ein Einzelner noch eine Gruppe alle Bedingungen erfüllt, so dass es mangels der dem Philosophen eigentümlichen Verbindung von Weisheit und Prophetenfähigkeit entweder (3) eine «Monarchie nach dem Gesetz» oder (4) eine «Aristokratie nach dem Gesetz» (I 54) braucht. Diese Betonung des Gesetzes lässt «natürlich» an Platons Nomoi denken.
Der zweite Teil der Aphorismen erörtert außer metaphysischen und geistphilosophischen vor allem ethische Fragen. Er erklärt unter anderem die wahre Natur des Glücks, das man durch tugendhaftes Handeln erreicht, weshalb man den Tod nicht zu fürchten braucht (II 71 f.). Al-Fārābī bekräftigt hier sein politisches Leitinteresse an einem menschlichen Glück, das sich nicht im Diesseits allein entscheidet.
Nach der muslimischen Orthodoxie gibt es einen einzigen Herrscher, in der Wirklichkeit des 10. Jahrhunderts konkurrieren aber drei Herrscher miteinander: der Abbasiden-Kalif von Bagdad, der Fatimiden-Kalif von Tunis und der Omaijaden-Kalif des damals arabischen Spanien. Diese schon nicht geringe Rivalität wird dadurch noch erhöht, dass in Bagdad der arabische Kalif seine politische Autorität an das persische Haus der Beyiden verliert und vor den Toren der Stadt die türkischen Seldschuken stehen.
Vor diesem Hintergrund verfasst al-Mawardi (974–1058) sein für das sakrale Rechtsdenken im Islam, dem Fiqh, beispielhaftes Buch über die Regeln (sultanischer) Herrschaft: Kitāb al-ahkām al-saltā-nūya (Sultan bedeutet im Arabischen zweierlei: die Herrschaft und die Person des Herrschers). Als Vertreter des sakralen Rechtsdenkens beruft sich al-Mawardi nicht auf die Philosophie, sondern ausschließlich auf das göttliche Recht, die Schari’a. Gegenüber der Hellenisierung der islamischen Kultur könnte man hier von einer Konterrevolution in der islamischen Kultur sprechen. Das Fiqh-Denken entsteht allerdings etwa zur selben Zeit wie die Hellenisierung, sodass es sich um zwei konkurrierende Strömungen handelt.
Al-Mawardi zufolge muss der Kalif, in Personalunion auch Imam, also religiöser Führer, sieben Bedingungen erfüllen. Zu ihnen gehören außer geistiger und körperlicher Gesundheit die Kenntnis der (islamischen) Religion. Hinzu kommt eine ethnische Voraussetzung, mit der al-Mawardi im politischen Streit seiner Zeit Partei ergreift. Denn die Voraussetzung erfüllt lediglich das abbasidische Kalifat, nicht seine beiden Konkurrenten. Er verlangt die Abstammung aus dem arabischen Stamm des Propheten Mohammed, der Quraisch.
Politisch nicht minder wichtig ist die stillschweigende Ablehnung jedes Widerstandsrechts und jeden Rechts auf einen etwaigen Tyrannenmord: Einmal durch den Treue- und Unterwerfungseid eingesetzt, kann der Herrscher nie mehr abgesetzt werden. Gott allein verantwortlich, kann er auch nur durch Gott bestraft werden.
Eine weitere revolutionäre Veränderung verdankt der Islam einem Zeitgenossen al-Mawardis, dem von al-Fārābī, von dessen Neuverständnis der Philosophie beeinflussten persischen Philosophen, Arzt und welterfahrenen Politiker Ibn Sina, latinisiert Avicenna (980–1037). Durch seine kreative Vermittlung von genuiner, vor allem Aristotelischer Philosophie mit islamischer Theologie und religiöser Erfahrung, durch sein Modell einer Integration – die Philosophie bleibt autonom, nimmt aber wichtige Themen der Theologie auf – ist er nicht bloß der einflussreichste Denker des Islam, sondern darüber hinaus einer der herausragenden Philosophen des gesamten Mittelalters.
Sein philosophisches Hauptwerk, das Buch der Heilung der Seele vom Irrtum (Kitab as-Sifa, 1027), besteht in einer mehrbändigen, dank der späteren Übersetzung ins Lateinische auch im christlichen Westen einflussreichen Summe der theoretischen Philosophie und der Naturwissenschaften. Im politischen Denken, das seine Summe mitbehandelt, ist Avicenna ziemlich orthodox. Er hebt zwar die Bedeutung von Partnerschaft, Recht und Gerechtigkeit hervor, setzt sich für eine Umverteilung des Reichtums und für ein anpassungsfähiges Rechtssystem ein. In den Bestimmungen zu Ehe und Ehescheidung, zu Strafen und zu Steuern folgt er aber den religiösen Gesetzen; der Kalif gilt als allzuständig; gegen die Feinde der rechten Lehre sind Kriege zu führen; das Vermögen der Besiegten fällt dem Sieger zu. Mit Aristoteles gibt es «Sklaven von Natur aus», unter die, erstaunlich konkret, alle «Neger und Türken» fallen. Derartige Aussagen wecken Zweifel an Ernst Blochs Versuch, Avicenna zur Aristotelischen Linken zu zählen.
Avicennas Vermittlung von Philosophie und islamischer Theologie stößt sowohl bei Philosophen als auch Theologen auf heftige Kritik. Den schärfsten Widerspruch erhebt der wohl größte Theologe des Islam, al-Gazālī (Algazel: um 1058–1111). Sein theologisches Hauptwerk Die Neubelebung der Religionswissenschaften (Ihya’ ‘ulum ad-din, um 1100) behandelt alle Fragen des religiösen Lebens: von gottesdienstlichen Leistungen über soziale Verhaltensweisen bis hin zu verderblichen Untugenden und rettenden Tugenden. Mit al-Gazālī siegt vielerorts eine schriftgläubige Orthodoxie über einen mittels Philosophie aufgeklärten Islam. In politischen Begriffen gesagt, setzt sich denn doch eine Konterrevolution durch: Die erste geistige Revolution, die Hellenisierung, wird mitsamt Folgerevolutionen verworfen, die islamische Mystik hingegen blüht auf.
Von Abu Bakr Ibn Tufail (Abubacer, etwa 1110–1185), dem Leibarzt des Kalifen Abu Yaqub Yusuf (1163–1184), stammt der wohl bekannteste philosophische Text in arabischer Sprache, ein philosophischer Robinsonroman: Vom Lebenden, dem Sohn des Wachenden (Hayy ibn Yaqzan), neuerdings auf Deutsch unter dem Titel «Der Philosoph als Autodidakt». In der europäischen Aufklärungsepoche viel übersetzt, könnte das Werk Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) beeinflusst haben. Im Unterschied zu dessen Abenteuerroman erzählt aber Ibn Tufails «Ur-Robinson» den schrittweisen Aufstieg zum Spracherwerb und schließlich zur wahren Erkenntnis, sogar zur Versenkung in Gott.
Obwohl er später seinem Freitag, hier Absal genannt, begegnet, geht der Protagonist Hayy, für Ernst Bloch eine Mischung aus Abraham und Kant, seinen geistigen Weg vollständig allein. Lediglich mittels des eigenen Verstandes lernt er die verborgensten Geheimnisse der Wissenschaften kennen, selbst dass es nur einen Gott gibt, der vollkommen, allmächtig, allwissend und barmherzig ist. Mit diesem eigenwilligen Solipsismus widerspricht Ibn Tufail der so gut wie überall vorherrschenden, auch in al-Fārābīs Vortrefflichem Staat (Kap. 15) vertretenen Anthropologie: Der Mensch erscheint mindestens in geistiger Hinsicht nicht als ein politisches, nicht einmal als soziales Wesen.
Der bedeutendste islamische Denker im Westen ist der eine halbe Generation jüngere Ibn Ruschd, lateinisch Averroës (1126–1188), ein Philosoph, Richter und Ibn Tufails Nachfolger als Leibarzt, der, hier in der Nachfolge von al-Fārābī und Avicenna, das Recht der Philosophie gegenüber der Religion erneuert. Im Auftrag des Kalifen von Marrakesch (im Süden Marokkos) verfasst er vorbildliche Kommentare zu dem von ihm verehrten Aristoteles. In seiner Kritik an al-Gazālī bestreitet er dessen Behauptung, die Philosophen leugneten die im Koran behauptete Vollkommenheit Gottes. Nach Averroës bezweifeln sie nur, dass man die entsprechenden Begriffe für Gott im gleichen Sinn wie für die Geschöpfe verwenden könne.
Für das politische Denken ist der Kommentar zu Platons Politeia, freilich ohne deren Einleitungs- und Schlussbuch, bedeutsam. Aristoteles’ Politik liegt Averroës nicht vor. Erstaunlicherweise übernimmt der Kommentator selbst die Elemente Platons, die dem Islam widersprechen: die Gleichheit von Mann und Frau, die Frauen- und Gütergemeinschaft der Führungselite, sogar das Recht einer Propagandalüge. Ähnlich wie al-Fārābī vertritt Averroës eine Einheit von weltlicher und religiöser Herrschaft, einschließlich deren Fähigkeit zum Heiligen Krieg. Und wenn nicht alle einschlägigen Fähigkeiten sich in einer Person vereinen, empfiehlt er wie al-Fārābī eine Aristokratie.
Ebensowenig wie al-Mawardi ist der Politikberater, Sozialhistoriker, Soziologe und Philosoph, der Montesquieu der arabischen Welt, Ibn Khaldūn (1332–1406), an einem Idealstaat interessiert. Sein Buch der Beispiele (Kitāb al-‘Ibar) ist im politischen Denken des Islam die nach al-Fārābīs Vortrefflichem Staat zweite herausragende Schrift. Sie analysiert scharfsinnig den Aufstieg und Zerfall von Gemeinwesen. Das als Universalgeschichte angelegte Werk beginnt mit einer später berühmten «Einleitung» (muqadimma). In diesen «Prolegomena zur Geschichte», dem wohl bedeutendsten arabischen Beitrag zur Geschichts-, Sozial- und Kulturtheorie, entwickelt Ibn Khaldūn seine «neue Wissenschaft», eine Theorie der Kultur, die dem Historiker die inneren Ursachen geschichtlicher Dynamik entdeckt.
Den Kern bildet die Asabiyya, der Inbegriff von gemeinschaftsförderlichen Lebensenergien. Ibn Khaldūn hält ausdrücklich mit Aristoteles den Menschen für ein auf Politik und Herrschaft angelegtes Wesen. Er sieht den Anfang in ländlichen, von Stammessolidarität geprägten und bescheiden lebenden Gemeinschaften. Im Kontrast dazu stehen die städtischen Gesellschaften, deren kultureller Reichtum einen Fortschritt bedeutet. Deren Gewöhnung an wachsenden Wohlstand führt aber zu einem Streben nach Luxus, das den Keim der Dekadenz und des Zerfalls in sich trägt. Dieser Weg von einem bescheidenen zu dem kulturell hochstehenden, jedoch vom Wohlleben beherrschten Gemeinwesen erinnert an Platons Politeia, an deren Übergang von der gesunden zur üppigen Polis. Hinsichtlich der Religion erklärt Ibn Khaldūn die zwei Antriebskräfte, politische Energie und religiösen Eifer, zu rivalisierenden Mächten. Dass im Verlauf der Geschichte die politische Seite das Übergewicht erringt, lässt sich als Desakralisierung und Säkularisierung der Gemeinwesen interpretieren.
In der Zeit nach Ibn Khaldūn gibt es im Islam des Mittelalters keine nennenswerten politischen Denker mehr. Später und andernorts setzt sich aber etwa die islamische Tradition von Fürstenspiegeln fort. Der für einen malayischen Prinzen verfasste Taj us-Salatin (1603) zum Beispiel führt 20 Regeln (hak) der Gerechtigkeit (keadilan) auf, ohne deren Anerkennung der Herrscher den Bannstrahl Allahs und den Zorn seiner Untertanen, also Sanktionen einer göttlichen und einer weltlichen Instanz, auf sich zieht.
Lektüreempfehlung Man lese al-Fārābīs Vortrefflichen Staat und beginne mit den Kapiteln 15–17.