11. Baruch de Spinoza (1632–1677)

Rationalismus der Freiheit

Da uns nun das seltene Glück zuteil geworden ist, in einer Republik zu leben, in der die Freiheit als das teuerste und kostbarste Gut gilt, hielt ich es für kein unwillkommenes und unnützes Unternehmen zu zeigen, dass diese Freiheit nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden im Staat zugestanden werden kann, sondern dass sie auch nicht aufgehoben werden kann, ohne zugleich den Frieden im Staat und die Frömmigkeit aufzuheben. Dies vor allem ist es, was zu beweisen ich mir in diesem Traktat vorgenommen habe.

Theologisch-politischer Traktat, Vorrede

In der Zeit, in der die Niederlande zur größten europäischen Handels- und Seemacht heranwachsen, wirkt in dem Land sein bedeutendster Philosoph, Bento oder Baruch de Spinoza, der sich später Benedictus Spinoza nennt (die Vornamen bedeuten dasselbe: der Gesegnete). Bei ihm, einer überragenden Gründungsfigur der neuzeitlichen Philosophie, erhält der Rationalismus seine radikalste Gestalt. Wie oft übersehen, ist Spinoza aber auch ein herausragender politischer Denker.

Spinoza wird am 24. November 1632 als Sohn einer aus Spanien eingewanderten jüdischen Kaufmannsfamilie im wirtschaftlichen und geistigen Zentrum der Großmacht Niederlande, in Amsterdam, geboren. Das Geburtsjahr teilt er mit dem Philosophen John Locke, dem Völkerrechtler Samuel Pufendorf und dem niederländischen Maler Vermeer van Delft. In Europa wüten noch die Bürgerkriege. Politisch breitet sich der Absolutismus aus. In Frankreich regiert als leitender Minister Richelieu; knapp ein Jahrzehnt später beginnt das Zeitalter Ludwig XIV., des Sonnenkönigs.

Spinoza wird in frühen Jahren, innerhalb einer biblisch-talmudischen Ausbildung, mit dem einflussreichen Philosophen Moses ben Maimon (Maimonides: 1135–1204) vertraut. Beim späteren Studium nichtjüdischer Philosophen, vor allem Descartes, entfremdet er sich aber dem Judentum und wird im Alter von 23 Jahren mit dem Bannfluch der jüdischen Gemeinde belegt, einer auch sozial und wirtschaftlich gesehen harten Strafe. Spinoza muss aus dem mit seinem Bruder geführten elterlichen Handelsgeschäft aussteigen. Mittellos geworden, wird er von Freunden unterstützt, lernt aber auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, das Handwerk eines Schleifers von Linsen für Brillen, Mikroskope und Teleskope. Dabei bringt er es zu einer Meisterschaft, die ihn über seine philosophischen Leistungen hinaus berühmt macht.

Im Jahr 1660, erst 27 Jahre alt, veröffentlicht Spinoza auf Niederländisch eine Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Wohlergehen, die sowohl in der Gliederung als auch in Grundgedanken Spinozas Hauptwerk, der Ethik, vorgreift. Einige Jahre später stellt Ludwig XIV. Spinoza eine Staatspension in Aussicht, die der Gelehrte wegen der erforderlichen Gegenleistung, dem König ein Werk zu widmen, ebenso höflich ablehnt wie das attraktive Angebot der Universität Heidelberg auf eine ordentliche Professur für Philosophie, denn er will sich nicht der geringsten Gefahr religiös-politischer Angriffe aussetzen.

In seinen frühen 30er Jahren bewegt sich Spinoza im Umfeld des damals führenden Staatsmannes der Niederlande, dem liberalen Republikaner Jan de Witt (1625–1672). Nicht etwa bloß Hobbes, vielmehr selbst der ansonsten sehr zurückhaltend lebende Spinoza zieht sich nicht in einen philosophischen Elfenbeinturm zurück. Er bewegt sich aber nicht wie Hobbes auf der Seite der Monarchie, sondern deren Gegner. In deren Umfeld, dem der Republikaner, entsteht der für das politische Denken hochbedeutsame Theologisch-politische Traktat (Tractatus theologico-politicus, 1670). Um ein Verbot der Schrift zu verhindern, bedient sich Spinoza der von Frühaufklärern gern eingesetzten Sprachbarriere: Der Text erscheint nicht in der Landessprache, dem Niederländischen, sondern auf Latein, zusätzlich anonym, außerdem angeblich in Hamburg, tatsächlich aber in Amsterdam. Trotzdem steht Spinoza bald als Verfasser fest. Ähnlich wie vor ihm Machiavelli und Hobbes wird er zwar berühmt, aber auch angefeindet. Anders als Machiavelli wird er aber nicht ins Gefängnis geworfen, anders als Hobbes nicht zum Exil gezwungen.

Fünf Jahre später, 1675, vollendet er sein philosophisches Hauptwerk, die Ethik nach der geometrischen Methode bewiesen (Ethica ordine geometrico demonstrata, 1677), gibt sie aber wegen der Erfahrungen mit dem theologisch-politischen Traktat nur zum postumen Druck frei. Danach arbeitet er an einer zweiten politischen Schrift, dem Politischen Traktat (Tractatus politicus), den er nicht mehr vollenden kann. Am 21. Februar 1677, im Alter von 44 Jahren, um drei Uhr in der Früh, stirbt der gesundheitlich immer etwas schwache Spinoza an Tuberkulose. Trotz früherer Anfeindungen wird dieser gemäß Bertrand Russell «nobelste und liebenswerteste der großen Philosophen» unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in der Haager Kirche am Spuy zu Grabe getragen.

In seinem Hauptwerk, der Ethik, folgt Spinoza weit strenger als vorher Hobbes und Descartes dem methodischen Vorbild des philosophischen Rationalismus, dem streng deduktiven Vorgehen von Euklid: Bis auf den letzten Teil, der auf eine Einleitung zwei Axiome folgen lässt, beginnt jeder Teil mit Definitionen, die das Verständnis aller relevanten Ausdrücke festlegen. Darauf folgen Erläuterungen, an die sich Axiome, Lehrsätze und deren Beweise anschließen. Im Unterschied zum maßgeblichen Philosophen der Epoche, René Descartes, will Spinoza nicht mehr angesichts von Zweifeln Wahrheit begründen. Er interessiert sich vielmehr, ähnlich wie Platon und der Neuplatonismus, später Kierkegaard, für die Vollkommenheit.

Ob auf Gott, die Natur oder die Möglichkeit menschlicher Freiheit gerichtet – alle Erkenntnis dient dem höchsten Ziel, dem schlechthin Guten. Aus diesem Grund trägt das Werk den Titel Ethik, obwohl es weit mehr als nur eine Ethik, nämlich beinahe die gesamte Philosophie behandelt; nur das Politische fehlt. Spinoza widmet je einen Teil Gott, dem menschlichen Geist, dem Ursprung und der Herrschaft der Leidenschaften sowie einer der Macht des Verstandes unterworfenen menschlichen Freiheit.

In diesem enzyklopädischen Werk dient die mathematische («geometrische») Methode weniger der Vergewisserung des Wissens als dessen «Produktion» nach einer inneren Notwendigkeit. Gott ist weder wie bei Descartes Garant der Wahrheit noch wie bei Pascal als «Gott von Abraham, Isaak und Jakob» der Gegenstand religiösen Glaubens. Nicht Teil einer Bewusstseinsphilosophie, sondern zugleich einer Seins-, einer Natur- und einer Moralphilosophie, gilt Gott als die vollkommene und zugleich einzige (griech. monos) Substanz. Dieser Monismus soll die Probleme aus Descartes’ Zweiteilung, dem Dualismus von zwei geschaffenen Substanzen, Materie und Geist, oder Dreiteilung (zusätzlich gibt es den ungeschaffenen Gott), durch einen systematischen Handstreich lösen: Die einzige Substanz, die es gibt, Gott, ist Grund ihrer selbst (causa sui); die verschiedenen Grundformen der Wirklichkeit sind nichts anderes als Eigenschaften (Attribute) Gottes. Dieses Innewohnen (Immanenz) aller Dinge in Gott und Gottes in allen Dingen beläuft sich auf einen Pantheismus (Allgottlehre: Gott ist alles und in allem). Es schließt einen die Welt übersteigenden, transzendenten Gottesbegriff aus und trägt Spinoza, obwohl sein System bei einem Gottesbegriff ansetzt, den damals fast tödlichen Vorwurf des Atheismus ein.

Obwohl in der Ethik die Politische Philosophie fehlt – sie deutet sich nur in zwei überknappen Hinweisen im Lehrsatz 37 an –, hat Spinozas Grundgedanke eine eminent politische Bedeutung. Ohne es aussprechen zu müssen, werden nämlich religiöse und staatliche Vorschriften von einer philosophisch begründeten Erkenntnis, einem Wissen, abgelöst. Damit widersetzt sich Spinoza jeder von außen autoritativ vorgegebenen Lebensform, gleich ob sie vom Judentum oder von dem in den Niederlanden damals dominanten strengen Calvinismus kommt. An deren Stelle tritt ein aus dem Inneren des Menschen stammendes, nicht von seinen passiven Affekten Begierde, Freude und Trauer, sondern vom aktiven Affekt der Tapferkeit (fortitudo) – im Sinn von Charakterstärke – geprägtes Leben.

Gemäß der Ethik strebt der Mensch letztlich nach nichts anderem als der Selbsterhaltung. Da der Einzelne sie schwerlich allein verfolgen kann, lässt er sich auf Gesellschaft ein und organisiert sich im Staat. Dieser ist umso stabiler, je mehr seine Regierung sich um Frieden und Freiheit bemüht, denn andernfalls ist mit Empörung der Bürger zu rechnen. Eines kann der Mensch allerdings nicht an den Staat abtreten, da es sich ohnehin nicht einschränken lässt: die Freiheit zu denken. In seinem politischen Hauptwerk, dem nicht «geometrisch» konzipierten Theologisch-politischen Traktat (1670), tritt sie als Freiheit zu philosophieren auf.

Spinoza setzt sich hier autobiografisch mit der eigenen politischen Erfahrung, dem durch religiös-politische Anfeindung gefährdeten freien Denken, und philosophiegeschichtlich mit Thomas Hobbes auseinander. Er teilt mit diesem die Ansicht, der Staat sei nicht bloß für die genuin weltlichen Angelegenheiten, sondern auch für Religionsdinge entscheidungsbefugt. In zwei Hinsichten setzt er sich jedoch gegen Hobbes ab. Zum einen sucht er noch konsequenter eine naturalistische, von allen normativen Restbeständen freie Staatstheorie, die in provokanter Weise Recht und Macht gleichsetzt. Zum anderen nimmt er eine kompromisslos liberale Wende vor. Lapidar, wie in Stein gemeißelt, heißt es im Theologisch-politischen Traktat (Kap. 20): «Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.»

Im selben Jahr, 1675, in dem Spinoza die Ethik fertigstellt, wendet er sich erneut der politischen Philosophie zu. Die Schrift, der Politische Traktat, der zu Beginn des Demokratie-Kapitels abbricht, baut auf jenem Gedanken auf, der laut Spinoza den Wohlstand eines Landes begründet, dadurch im Inneren den sozialen Frieden fördert und außenpolitisch ein Machtfaktor gegenüber anderen Staaten ist: auf eine kompromisslose religiöse und politische Freiheit, die eine vollständige Handels- und Gewerbefreiheit erlaubt. Im Namen der Freiheit der Bürger lehnt Spinoza Hobbes’ Unterwerfungsvertrag ab und spricht dem weltlichen Souverän jede Zuständigkeit für Religionsfragen ab. Erneut tritt er für eine Beschränkung der öffentlichen Macht ein: In einem freien Staat ist jedem erlaubt zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt. Institutionstheoretisch plädiert Spinoza für ein sich wechselseitig kontrollierendes Geflecht von Gremien, in das möglichst viele Individuen einzubinden sind.

Im Theologisch-politischen Traktat vertritt Spinoza seinen Grundgedanken, die Aufhebung eines autoritären Glaubens zugunsten eines freien Philosophierens, auf eine sowohl politisch raffinierte als auch philosophisch subtile Weise. Den öffentlichen Gewalten räumt er das Recht ein, allgemein verbindliche Beschlüsse zu erlassen, hinsichtlich der persönlichen Lebensführung erkennt er aber einen zur Philosophie alternativen Zugang zum Glück (beatitudo) bzw. Heil (salus) an. Für diese Alternative eines Lebens aus religiösem Glauben braucht es keine philosophische («mathematische») Gewissheit. Es genügt vielmehr die moralische Gewissheit der biblischen Propheten (Kap. 2), für die es wiederum keiner gelehrten Auslegung bedarf. Denn die Heilige Schrift lehrt «nur ganz einfache Dinge», jenen Gehorsam gegen Gott, der sich in einem Leben von Gerechtigkeit und Liebe zeigt (Vorrede).

Um diese schlichte Einsicht zu erlangen, muss man sich allerdings der mühevollen Aufgabe unterziehen, theologische und politische Vorurteile zu überwinden. Im umfangreicheren ersten Teil, den Kapiteln 1–15 des Theologisch-politischen Traktats, erkennt Spinoza «weder ein übernatürliches Licht» noch «eine äußere Autorität» an. Er lehnt jede Expertokratie des Glaubens- bzw. Heilswissens ab, sodass jeder unvoreingenommene Leser, ohne ein Bibelgelehrter oder Philosoph zu sein, die Schrift sachgerecht verstehen kann und dann zur Einsicht gelangt, dass die Bibel letztlich nichts anderes lehrt als das, was schon die bloße Vernunft einsieht: Um glücklich bzw. selig zu werden, braucht man nur Gerechtigkeit und Nächstenliebe zu üben.

Inhaltlich besteht nach Spinoza das größte theologische Vorurteil in der Ansicht, jede Abweichung von der kirchlichen Orthodoxie sei ein Verbrechen, das die weltliche Obrigkeit zu ahnden habe. Nach Spinoza hingegen sind Prophetie mitsamt der Frömmigkeit einerseits und die natürliche Vernunft andererseits, also Theologie und Philosophie, zwei getrennte, aber koexistenzfähige Bereiche:

Als (bibelimmanente) Auslegung religiöser Texte ist die Theologie für den Glauben zuständig, der wiederum zum Gehorsam gegen Gott und zu einer durch Gerechtigkeit und Nächstenliebe bestimmten Frömmigkeit verpflichtet. Der natürlichen Vernunft hingegen kommt es auf die Erkenntnis an, die ihrerseits auf die ewige Wahrheit verpflichtet ist. Man kann auch von einem doppelten Gehorsam sprechen: dort gegen den geoffenbarten Gott, hier gegen die eine natürliche Wahrheit. Weil beide Gehorsamspflichten gleichwertig, aber verschiedenartig sind, steht keine von ihnen im Dienst der anderen. Weder darf man die Vernunft als Magd der Theologie noch den Glauben als Magd der Vernunft missbrauchen (Kap. 15).

Spinoza schlägt hier zwischen Rationalismus und Ablehnung der Vernunft einen «dritten Weg» ein. Im Gegensatz zum rationalistischen Prinzip «sola ratione», allein durch Vernunft, und dem vernunftskeptischen Prinzip «sine ratio», ganz ohne Vernunft, setzt er sich für ein adressatenabhängiges Sowohl-als-auch ein, was unterschiedlich gedeutet werden kann. Das Sowohl-als-auch lässt sich als realistisch, als für die damalige Zeit zutreffend, oder als elitär verstehen: Laut Spinoza sind nur wenige Menschen so weit zur Philosophie fähig, dass ihnen zur tugendhaften Lebensführung schon die Vernunft genügt. Die überwiegende Mehrheit dagegen benötigt für ihr Heil den von der Offenbarung gelehrten Weg des Gehorsams. Weil also Theologie bzw. Glaube und Philosophie sich sowohl klar unterscheiden als auch problemlos ergänzen, kann «die Freiheit zu philosophieren», wie schon der erweiterte Buchtitel des Traktat erklärt, ohne Beeinträchtigung des Glaubens zugelassen werden.

Sobald die Gegenansicht als ein theologisches Vorurteil entlarvt ist, fällt die Überwindung der politischen Vorurteile leichter, was sich der kürzere zweite Teil, die Kapitel 16–20, in Form einer Genese von Recht und Staat vornimmt. Spinoza setzt bei den Grundlagen von Recht und Staat an, zeigt, dass es weder möglich noch nötig ist, alles auf die höchsten Gewalten zu übertragen, und erschließt aus der Staatsverfassung und Geschichte der Hebräer einige politische Lehrsätze. Er erklärt, das Recht in geistlichen Dingen, einschließlich der Entscheidung über den äußeren religiösen Kult, stehe allein den höchsten Gewalten zu, und endet mit dem Argumentationsziel des gesamten Traktats: dass in einem freien Staat zwar nicht jeder handeln darf, wie er will, dass es ihm jedoch erlaubt ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.

Das für die Rechts- und Staatsphilosophie grundlegende Kapitel 16 bricht mit der traditionellen, bis in die spanische Spätscholastik reichenden aristotelisch-stoisch-thomistischen Naturrechtstheorie. Spinoza behält zwar den überlieferten Ausdruck des Naturrechts bei, gibt ihm aber eine grundlegend neue, ausschließlich naturalistische Bedeutung. Gemäß deren Prinzip Selbsterhaltung beinhaltet das Naturrecht keinerlei moralischen oder anderweitig normativen Anspruch. Im Gegenteil darf jeder Mensch, also nicht wie bei Machiavelli nur der Fürst, tun, was die Moral zu verbieten pflegt, er darf mit Gewalt oder List agieren. Ohne jedes Pflichtmoment definiert, besteht das vorstaatliche Recht in nichts anderem als der eigenen naturalen Macht (potentia). Mit dieser fällt ein subjektives Recht – der berechtigte Anspruch einer Person – mit ihrer Fähigkeit, ihr Recht durchzusetzen, zusammen.

Der in der Ethik methodisch kompromisslose Rationalist Spinoza lehnt hier erstaunlicherweise jeden Rückgriff auf die Ratio ab. Damit räumt er innerhalb seiner Metaphysik dem inhaltlichen Naturalismus den Vorrang vor dem methodischen Rationalismus ein. Der für die Überwindung des Naturzustandes erforderliche Staatsvertrag ist nur unter Nützlichkeitserwägungen gültig. Ein kategorisches Gebot wie etwa die Forderung, ewige Treue zu halten, ist für Spinoza töricht. Um eine Vertragstreue erwarten zu können, muss daher aus dem Vertragsbruch mehr Schaden als Nutzen folgen, was die zu einer Staatsbegründung erforderliche politische Stabilität gefährdet.

Während Hobbes die absolute Souveränität nicht grundsätzlich, aber aus pragmatischen Gründen der Monarchie zuspricht, gebührt sie nach Spinoza allein der Demokratie. Sein Traktat ist daher nicht bloß einer der wichtigsten freiheitstheoretischen, sondern auch der demokratietheoretischen Schriften der Frühaufklärung. Die Demokratie wird allerdings «an kein Gesetz gebunden». Von allen rechtlichen Vorgaben freigesetzt, beläuft sie sich im Gegensatz zur heute vorherrschenden konstitutionellen, rechts- und verfassungsstaatlichen Demokratie auf einen demokratischen Absolutismus. Folgerichtig spricht Spinoza nicht von Bürgern, sondern von Untertanen. Diese sind den Befehlen einer höchsten Gewalt unterworfen, die jeder überpositiven Kritik und Korrektur enthoben ist: Die Untertanen haben «nichts anderes als Recht anzuerkennen, als was die höchste Gewalt für Recht erklärt» (Kap. 16).

Mit der Überwindung der theologischen und politischen Vorurteile verfolgt Spinoza zwei Ziele. Er will den damals lebensgefährlichen Vorwurf des Atheismus abwehren, vor allem aber «die Freiheit zu philosophieren» gegen die beiden damals mächtigsten Instanzen, die Religionsgemeinschaft und den Staat, verteidigen. Denn, heißt es im erweiterten Titel des Traktats, die genannte Freiheit «kann nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden im Staat zugestanden werden, sondern kann auch nicht aufgehoben werden, ohne zugleich den Frieden im Staat und die Frömmigkeit aufzuheben». Man könnte fortfahren: Die Philosophiefreiheit erlaubt sogar, sich offen zu einem Atheismus zu bekennen. Zu dieser Fortsetzung war die damalige Zeit aber ohne Frage nicht reif.

Um sein sowohl philosophisch-theologisches als auch autobiografisch motiviertes Ziel zu erreichen, eine kompromisslose Verteidigung der «Freiheit zu philosophieren», muss man Spinoza zufolge in politischer Hinsicht zwischen der Gedanken- oder Philosophiefreiheit und der Handlungsfreiheit scharf unterscheiden: Dem Souverän kommt zwar das Recht zu, über alle Handlungen zu beschließen, denn im Gehorsam der Vernunft habe jeder «ein für allemal beschlossen, das Recht gemäß eigenem Urteil zu leben, dem Souverän übertragen» (Kap. 20). Nach eigenem Gutdünken anders zu handeln, gilt als ruchlos; ein Widerstandsrecht sieht Spinoza nicht vor. Hingegen habe man sich nicht verpflichtet, auch «so zu urteilen und zu denken» (ebd.).

Hier darf man sich fragen, ob zwischen Handeln und Denken immer eine klare Grenze zu ziehen ist. Da Predigten, religiöse Schriften und der Kult unter die Gedankenfreiheit fallen, müssten sie von staatlicher Seite unzensiert freigegeben werden. Mit dem Argument, dass sie sprachtheoretisch gesehen nicht nur Rede-, sondern auch Handlungscharakter haben, könnte man sie aber auch der Zensur unterwerfen.

Gegen Ende des Traktats zieht Spinoza Bilanz. Ihr zufolge ist es weder möglich noch um der Autorität des Souveräns oder des Friedens im Staat nötig, den Menschen die Freiheit, zu sagen, was sie denken, zu nehmen. Auch birgt diese Freiheit keine Gefahr für die Frömmigkeit. Schließlich sind Gesetze über spekulative Dinge völlig nutzlos.

Vom veritablen Beginn des Theologisch-politischen Traktats bis zum Schlusskapitel verlangt Spinoza, was die Aufklärungsepoche an die Spitze ihrer Forderungen stellt: ein allgemeinmenschliches Recht auf die Freiheit, zu denken, was man will, und zu sagen, was man denkt. Dabei schränkt der Philosoph die geforderte Freiheit nicht etwa auf den eigenen Berufsstand ein. Indem er jede Einschränkung beiseiteschiebt und sich für eine allgemeine Denk- und Redefreiheit einsetzt, agiert er, mag der angesprochene Kreis auch zunächst klein sein, als Wortführer der Menschheit.

Spinoza ist auch in dem Sinn Aufklärer und zugleich Wortführer der Menschheit, als er sich in letzter Instanz ausschließlich auf ein allen Menschen gemeinsames Vermögen, die natürliche Vernunft, beruft, die sogar für die Schriftauslegung zuständig ist. Darauf baut Spinozas überragende politische Bedeutsamkeit auf. Er unterwirft nämlich die beiden dominanten Mächte seiner Zeit der Kritik. Bei allem Respekt, den er den zwei Hauptmächten seiner Zeit, dem Staat mit seinen Gesetzen und den Religionsgemeinschaften mit ihren Glaubenssätzen, Ritualen und dem Anspruch auf göttliche Wahrheit, zollt, beruft sich Spinoza auf das Recht, das man später zu den «Menschenrechten» zählt: das Recht, mittels der eigenen Vernunft sich selbst ein freies Urteil zu bilden. Dafür braucht es, wird Kant in seiner berühmten Aufklärungsschrift betonen, Mut, den Spinoza tatsächlich in hohem Maß unter Beweis stellt.

Aufklärer ist Spinoza auch mit der kritischen Analyse der Heiligen Schrift. Die historisch-kritische Bibelwissenschaft ist damals zwar schon weit fortgeschritten, sodass Spinozas Methode, etwa mit der Calvins verglichen, nicht neu ist. Neu, vielleicht sogar revolutionär neu ist der politische Auftrag, den die Hermeneutik der Bibel erhält: Sie muss sich dem politischen Leitziel, dem Frieden, unterwerfen, der wiederum im Dienst der Freiheit zu philosophieren steht. Zu diesem Zweck untergräbt Spinoza die Autorität der gelehrten Theologen und erklärt jeden Menschen für frei, die Heilige Schrift selbst auszulegen – sofern er eine politische Bedingung erfüllt: dass seine Auslegung den Gehorsam gegen das (weltliche) Gesetz stärkt. Andernfalls lassen sich nämlich weder Aufstände noch Bürgerkriege vermeiden.

Soweit sich Spinoza auf den Inhalt der Heiligen Schrift einlässt, nimmt er ihrem Grundgedanken den Rang einer zeitlos gültigen Offenbarung. Die Schrift bestehe vielmehr vor allem aus Bildreden, die sich an die Einbildungskraft der damaligen Zeitgenossen und deren Fassungskraft richten. Sofern die Texte lediglich Bildreden sind, sucht eine weitergehende Hermeneutik, eine Exegese zweiter Stufe, ihren versteckten Subtext, den vernünftigen Kern, auf. Laut Spinoza ist er moralischer und lediglich nur moralischer Natur: Die Gebote der Schrift sollen zur Rechtschaffenheit, nämlich zu Gerechtigkeit und Nächstenliebe, anleiten. Hier erscheint die Religion als ein Mittel zur moralischen Kultivierung der Menschen, was eine sich vollendende Toleranz zur Folge hat: Wer wie Spinoza die Religion auf die moralische Kultivierung des Menschen verpflichtet, der kann seiner eigenen Religion und Konfession treu bleiben, zugleich die der anderen anerkennen, denn deren Unterschiede sind ihm unerheblich geworden.

Achtet man auf die ersten Reaktionen, so muss man Spinozas Eintreten für die Freiheit als gescheitert ansehen. Statt die Freiheit zu fördern, zumindest für den eigenen Text eine freie öffentliche Diskussion zu stimulieren, provoziert der Theologisch-politische Traktat Anfeindungen. Man wirft dem Autor sogar das damals größte geistige Verbrechen, Atheismus, vor. «Folgerichtig» wird das Werk vehement abgelehnt, seine Verbreitung verboten. Selbst der «Fürst der Aufklärung», Leibniz, hält in einem Brief an den Rechtslehrer und Philosophen Christian Thomasius das Buch, allerdings bevor er um den Verfasser weiß, für «unerträglich freidenkerisch».

In den Niederlanden wird das Werk sowohl politisch als auch theologisch heftig attackiert. Trotz einflussreicher Freunde wie den späteren Amsterdamer Bürgermeister Johann Hudde (1628–1704) setzt sich das durch, was der Theologisch-politische Traktat den glühendsten Hass, nämlich dessen theologische Gestalt, nennt. Am 19. Juli 1674 wird die Schrift durch einen Erlass des holländischen Hofes verboten, auch außerhalb des Landes scharf kritisiert. Paradoxerweise verhelfen Kritik und Verbot dem Traktat zu einer raschen Verbreitung. Wie früher Hobbes wegen Vom Bürger (1642), noch früher Machiavelli wegen dem Fürst (1513/1531), wird Spinoza zu einer europäischen Berühmtheit.

Die scharfe Ablehnung musste der Autor erwarten, denn gemäß der Vorrede des Theologisch-politischen Traktat weiß er, wie hartnäckig die Vorurteile sind, die man unter dem «Schein einer frömmelnden Religion» angenommen hat. Weil er die Macht des Aberglaubens und die «Halsstarrigkeit» des Volkes kennt, versucht er gar nicht, ein breites Publikum zu überzeugen. Analog zu Platons Haltung, sich nur an wohlwollende Personen zu wenden, richtet Spinoza sich nur an die wenigen Leser, die schon über eine gewisse Bereitschaft zum freien Philosophieren verfügen.

Zumindest in intellektuellen Kreisen ändert sich bald die Stimmung. Beginnend mit Lessing, danach Herder, Goethe und Mendelssohn, werden vor allem deutsche Autoren Spinoza schätzen, sich dabei aber vornehmlich, häufig sogar ausschließlich auf die Ethik stützen. Sowohl Kant als auch der Deutsche Idealismus setzen sich intensiv mit Spinoza auseinander. Die hohe Wertschätzung seitens der Nachidealisten Schopenhauer und Nietzsche setzt sich bei den großen deutschen Soziologen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, Ferdinand Tönnies (1855–1936) und Georg Simmel (1858–1918), auch Werner Sombart (1863–1941), fort. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856–1939), schreibt im Alter von 75 Jahren, dass er sein Leben lang der Person und Denkleistung «eine außerordentliche, etwas scheue Hochachtung entgegengebracht» habe. Der große Naturforscher Albert Einstein (1879–1955) bewundert an Spinoza «nicht nur Konsequenz des Denkens, sondern auch eine ungewöhnliche Lauterkeit, Seelengrösse und – Bescheidenheit».

Für das politische Denken ist Spinoza aber nicht bloß eine moralisch vorbildliche Persönlichkeit, sondern auch ein gedankenstarker Verteidiger von Freiheit und Toleranz. Mit seinem Theologisch-politischen Traktat liefert er einen wichtigen Baustein für die Geschichte der Trennung von Kirche und Staat, noch mehr für die Emanzipation des Staates von religiöser und die Befreiung des Individuums von staatlicher Bevormundung.

Lektüreempfehlung  Man lese vom Theologisch-politischen Traktat den ziemlich langen Untertitel, ferner die Vorrede, Kap. 16 und 20, auch Kap. 4 und 19.